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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Unesco, sag mir, wo die Sprachen sind!

Daniel Goldstein /  Der neue Sprachatlas nennt für die Schweiz nur noch 4 statt 8 gefährdete Sprachen. Rettung oder Aussterben? Nein, neue Einteilung.

«Achtmal Gefahr für Schweizer Sprachen» – unter diesem Titel schrieb ich 2012 eine «Sprachlupe» über den jährlichen Appell der Uno-Kulturinstanz Unesco, zu gefährdeten Sprachen Sorge zu tragen. Sie schätzte damals, es gebe auf der Welt etwa 6000 lebende Sprachen, und stufte 2244 davon als «gefährdet» ein, in vier Graden von «verletzlich» bis «kritisch gefährdet»; für 230 Sprachen wurde seit 1950 das Verschwinden festgestellt. Der Unesco-Weltatlas der gefährdeten Sprachen erschien letztmals 2010 im Druck; in Text und Karten erfasste er neben den gefährdeten auch die zuletzt ausgestorbenen Sprachen. Er kann immer noch online angeschaut werden (mit Karten nur englisch, Text auch französisch und spanisch); herunterladen ist aus einem Internetarchiv möglich.

Ausschnitt aus der Karte Europa im «Atlas of the World’s Languages in Danger» (© Unesco, Bearbeitung  D. G.)

Für die Schweiz waren Alemannisch und Bairisch als verletzliche Sprachen angegeben (nur Samnaun gilt sprachlich als bairisch, wie auch Südtirol und der grösste Teil Österreichs; das entsprechende Zeichen liegt ausserhalb des Kartenausschnitts). Gemeint sind nicht Dialekte, sondern übergreifende Regionalsprachen. Diese wurden von der Unesco mitgezählt, neben der noch weiter übergreifenden Sprache Deutsch, die als «sicher» angesehen und daher nicht im Atlas aufgeführt wurde. Die Tessiner und Südbündner Dialekte waren als Teil des Lombardischen «bestimmt gefährdet»; in gleichen Gefahrenstufe befanden sich das Rätoromanische und die Patois-Varianten Franc-Comtois (Jura) sowie Frankoprovenzalisch (v. a. Wallis). «Töitschu» stand für eine walserdeutsche Sprachinsel in Italien; es waren dort noch weitere eingezeichnet, aber auf diesem Kartenausschnitt nicht beschriftet, ebenso weitere italienische Regionalsprachen sowie Ladinisch, dem Romanischen eng verwandt.

Die mildeste Gefährdungsstufe «verletzlich» bedeutet für die Unesco, dass die meisten Kinder die Sprache sprechen, die aber auf «bestimmte Bereiche (z. B. das Zuhause) beschränkt» ist. Der Textteil im Atlas räumt ein, das mündlich stark verwendete Alemannische in der Schweiz sei «nicht leichthin als verletzlich einzustufen», stehe aber in einem gewissen Wettbewerb mit dem Deutschen. «Bestimmt gefährdet», weil es «die Kinder zuhause nicht mehr lernen», waren nach Unesco-Einschätzung neben den vier genannten lateinischen Sprachformen auch Jiddisch und Romani (Sprache der Roma), ohne kartografische Verortung. So kam die achtfache Gefahr in der Schweiz zustande.

Dialektkarte aus dem Historischen Lexikon Bayerns (© Alfred Klepsch)
Die Unesco behandelte die Dialekträume, mit einer weiteren Unterteilung des Mittelfränkischen, als unterschiedliche Sprachen.

Babylonische Deutschvielfalt

Als eigene Sprachen im deutschen Sprachraum waren im Unesco-Atlas nördlich von Bairisch und Alemannisch vier weitere, ebenfalls verletzliche eingezeichnet: Rhein-, Mosel- und Ost­fränkisch sowie Ripuarisch (d. h. «Ufersprache» im Grossraum Köln, im Atlas verschmolzen mit dem Limburgischen in Belgien und den Niederlanden, vgl. «Rheinischer Fächer»). Für das östlich daran anschliessende Gebiet steht im Textteil ein erstaunlicher Satz: «Deutsch besteht aus Thüringisch, Obersächsisch und Schlesisch.» Da der Atlas nur den gefährdeten Sprachen gilt, sind diese drei logischerweise nicht eingezeichnet. Ganz im Norden macht das verletzliche Niedersächsisch den Abschluss. Insgesamt sind fürs zusammenhängende deutsche Sprachgebiet also neben Deutsch und seinen drei «Bestandteilen» sieben verletzliche Regionalsprachen erfasst. Ferner sind drei Walsersprachen sowie Siebenbürger Sächsisch (Rumänien, stark gefährdet) eingetragen und drei Deutschreste in Übersee (Venezuela, Kanada, USA) erwähnt.

Deutsch (ohne Jiddisch) in 18 Erscheinungsformen: Erklärt dieses Muster die hohe Anzahl Sprachen, gerade auch gefährdeter, welche die Unesco insgesamt aufzählt? Vielleicht bringt ein weiterer Blick in den Sprachatlas etwas Klärung. Die «Sprachlupe» von 2012 stützte sich auf die damals verfügbare, sehr praktische Online-Version; diese wurde aber nach wenigen Jahren eingestellt. Dafür gleiste die Unesco einen neuen Internet-Sprachatlas auf, der nun nicht nur die gefährdeten, sondern gleich alle Sprachen erfassen soll.

Verwirrlicher Umbau im Internet

Seit 2022 ist zum Testen eine Beta-Version aufgeschaltet, mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, sie sei noch im Aufbau, könne Ungereimtheiten enthalten und die Unesco übernehme keine Gewähr für die Angaben. Aus guten Gründen: Landkarten dienen höchstens als schematisches Hintergrund-Dekor; der «Atlas» ist eine doppelte Sammlung von Karteikarten zu Sprachen und Ländern – mit vorgesehenen, aber oft noch nicht eingetragenen Angaben zu Verbreitung, offiziellem Status oder auch Rolle in Medien und Bildung. Von den mittlerweile über 8000 Sprachen werden demnach etwa 7000 gesprochen; erfasst sind nun auch schon länger tote, nur schriftlich verwendete sowie Gebärdensprachen.

Von den acht gefährdeten Sprachen, die der gedruckte Atlas für die Schweiz aufführt, sind in der neuen Sprachenkartei noch Alemannisch, Bairisch, Romanisch, Lombardisch, Jiddisch und Romani vorhanden; Frankoprovenzalisch und Franc-Comtois fehlen ebenso wie ihre Schwestersprache Alpinprovenzalisch oder die früher verzeichneten französischen Regionalsprachen Burgundisch und Auvergnat. Von den drei Walsersprachen ist just Töitschu nicht mehr verzeichnet, dafür aber neu der Oberbegriff «Walser». Das Bairische ist – wie das jetzt in Schwäbisch und Zentralalemannisch unterteilte Nachbaridiom – nur noch «potenziell verletzlich». Geografisch zugeordnet ist von den Sprachen, die im vorliegenden Absatz erwähnt werden, nur (oder erst) das Romanische.

Nur Standard- und Gebärdensprachen

In der Länderkartei der aktuellen Website sind für die Schweiz die vier offiziellen Landessprachen angegeben sowie drei Gebärdensprachen; diese werden wie Romanisch als gefährdet eingestuft. Die «sicheren» Sprachen heissen Standarddeutsch, Standardfranzösisch und Italienisch. In Deutschland gibt es gemäss der Länderkartei Deutsch nur als Standard- und als Gebärdenversion; dazu kommen acht Minderheitensprachen. Deutsche Regionalsprachen findet man nur in der Sprachenkartei.

Gefunden habe ich neben den beiden Alemannischformen und Bairisch nur noch Niedersächsisch und neu Zentral­ostmitteldeutsch. Die umständliche Bezeichnung stimmt mit der internationalen Einteilung im Glottocode überein, einem am deutschen Max-Planck-Institut entwickelten Instrument. Auf der Ethnologue-Liste gemäss International Organization for Standards (ISO) heisst dieselbe Sprachform weiterhin Obersächsisch, wie einer der drei im gedruckten Unesco-Atlas aufgeführten Deutsch-Bestandteile (beide genannten Listen im Anhang).

Spurensuche in aller Welt

Auch Zentral­ostmitteldeutsch ist gemäss Unesco potenziell verletzlich, obwohl von 1–10 Mio. Menschen gesprochen. Mit gleichem Status und angeblich ebenso grosser Verbreitung ist für Polen (unter insgesamt 21 Sprachen) Ostniederdeutsch angegeben, dazu – weniger verbreitet – Schlesisch sowie – mit je 0 Sprechenden – Niederschlesisch und Wymysorys. «Ausser Gebrauch» steht da (noch) nicht, wohl aber ohne Landesangabe bei Altpreussisch und Altsächsisch. Für Rumänien und Russland habe ich keine Deutschformen gefunden, obwohl es sie dort noch gibt. Standarddeutsch ist mit neun Ländern verlinkt (Belgium, Denmark, Germany, Hungary, Luxembourg, Poland, Slovakia, Switzerland, Czechia; für Österreich ist keine Sprache angegeben, für Italien nur Italienisch, gesprochen von «800’000’000» Menschen). Ferner haben die drei Übersee-Überreste aus dem gedruckten Atlas nun online Gesellschaft erhalten, wenn auch in Form ausgestorbener Mischsprachen: je ein «Pidgin German» aus dem chinesischen Kiautschou und aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die drei mehrheitlich deutschsprachigen Länder (D-A-CH) teilen sich gemäss meinen Suchergebnissen nur noch fünf statt wie im gedruckten Atlas zehn Regionalsprachen; auch Frankreich hat regionalsprachliche Federn gelassen. Die Gesamtzahl der auf der Welt heute gesprochenen Sprachen ist trotz anhaltendem Aussterben laut Unesco von 6000 auf 7000 gestiegen. Das hat vielleicht damit zu tun, dass Westeuropa realistischer und der Rest der Welt genauer angeschaut wurde. Im Detail könnte man dem nachgehen, wenn dereinst der neue Unesco-Atlas ausgereift ist.

Weiterführende Informationen

  • Darstellung und Kritik der ISO-Norm 693 (Helmut Richter)
  • Indexeinträge «Sprachgebiete» und «Linguistik» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im herun­tergeladenen PDF.
  • Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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