So führt der Krieg zur Militarisierung Russlands

upg. Der pensionierte Lehrer Peter Lüthi bereiste im April und November 2024 erneut Russland. Dort hatte er viele private Kontakte und verfolgte Staatsmedien und private patriotische Kanäle. Als Lehrer fiel ihm auf, wie schon Schulkinder auf Krieg und Patriotismus gedrillt werden.
Im Folgenden schildert er seine Eindrücke «nicht für Leser, die weiteres Material suchen, um Russland anzuklagen oder um Rüstungsausgaben in Europa zu rechtfertigen, sondern für alle, die sich Sorgen machen um die Menschen in Russland, vor allem um die junge Generation».
«Russland braucht eine totale Militarisierung»
Am 7. März 2024 konnte der ultranationalistische Soziologe Alexander Dugin einen Leitartikel auf RIA Novosti veröffentlichen, der wichtigsten staatlichen Nachrichtenagentur. Angesichts der westlichen Bedrohung plädiert er für eine «Militarisierung der Gesellschaft». Sie sei «eine absolute Notwendigkeit, über die zu diskutieren sinnlos» sei. Gegen die «feindliche Allianz von Neonazismus, Globalismus, Liberalismus» brauche es «eine Ideologie des Krieges und des Sieges».
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Kritik an Staat, Macht, Kirche und Präsident sowie an den Helden Russlands müsse verboten werden. «Unvermeidlich» sei die Militarisierung der Kultur. Jedes Konzert, jede TV-Sendung müssen mit der Hymne eingeleitet werden und mit dem Rühmen der Erfolge des russischen Menschen. Auch die Unterhaltungssendungen der Massenmedien müssten die Militarisierung unterstützen. Eltern und Lehrer sollen begreifen: «Das Ziel des ganzen Volkes ist es, eine Generation von Helden zu erziehen.» «Es ist an der Zeit, die Smersch (Innere Sonderpolizei Stalins) wieder zu errichten.»
Dugin wird weiterhin an grosse Tagungen eingeladen, wo auch Putin oder der Moskauer Patriarch Kyrill auftreten. Er ist immer noch Mitglied im Präsidium des Weltkongresses des Russischen Volkes unter dem Vorsitz des Patriarchen.
Schon früher kamen Ultranationalisten öffentlich zu Wort. Zum Beispiel am 30. September 2022 an der Massenveranstaltung auf dem Roten Platz zur feierlichen Aufnahme der Donbas-Volksrepubliken in die Russische Föderation. Dort rief der Regisseur, Schauspieler und zeitweise orthodoxe Priester Ivan Ochlobystin, nach eigenen Angaben «zartreuer Monarchist», der Menge zu: «Wir werden siegen! Manche sagen, dass es bei der Spezialoperation um einen neuen Vaterländischen Krieg gehe. Aber nein, man muss es einen Heiligen Krieg nennen – Heiliger Krieg! Es gibt einen altrussischen Kriegsruf: GOJDA! Es ist ein Aufruf zum unmittelbaren Handeln. […] Fürchte dich, Alte Welt, geleitet von Wahnsinnigen, Pervertierten und Satanisten! Wir kommen! Goooojdaaaa!»
«Tempel der Streitkräfte Russlands»
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Er steht im riesigen Ausstellungsgelände «Patriot – Park der Kultur und Erholung», wo historische und neue Waffen besonders für Kinder attraktiv bereitgestellt sind, eine gute Stunde ausserhalb von Moskau. Das russische Wort Chram bezeichnet sowohl heidnische Tempel wie christliche Kirchen, ich wähle Tempel. Er wurde im Beisein von Putin, Schojgu und Einheiten der Armee im Juni 2022 von Patriarch Kirill eingeweiht, nachdem er in wenigen Jahren aus dem Boden gestampft wurde. Putin hat «aus seinen eigenen Mitteln» die zentrale Ikone finanziert, vom Typus des «nicht von Hand gemalten» Antlitzes Christi, das oft an der Front mit dabei ist und den Soldaten vor dem Sturmangriff zum Gebet vorgehalten wird.
Man schreitet auf diesen in der Christenheit einzigartigen Tempel zu, indem man als winzig kleiner Mensch durch einen erhaben grossen, heidnischen Triumphbogen schreitet. Vom Himmel herunter senkt sich Gold auf die olivschwarze Kathedrale. Auch die Embleme Christi sind in der Tarnfarbe gehalten.
Man bemerkt beim Besuch des Inneren der Kathedrale: Da wird nicht demütig der Triumph des Auferstandenen gefeiert, sondern stolz der ebenso ewige Triumph der russischen bzw. sowjetischen Armee, die Sieger war, ist und sein wird. Denn sie führt nie Kriege ohne den Schutz der Gottesmutter, des Heiligen Georg, des Heiligen Vladimir Nevskij oder all der Heiligen, die jeder Waffengattung noch im Besonderen beistehen, den Raketentruppen z. B. Elias. Alle die heiligen Kriegszüge vom Mittelalter bis heute sind im Innern des Tempels dargestellt, in einer grotesken Verbindung von Sozialistischem Realismus und byzantinisch sakraler Mosaikkunst.
Um die Kathedrale herum ist als Hufeisen angeordnet ein Museum des Grossen Vaterländischen Krieges. «1418 Schritte bzw. Tage bis zum Sieg» durchläuft der Besucher. Plakate aus dem «Grossen Vaterländischen Krieg» rufen mit eindringlicher Bildgestaltung «Vorwärts! Nach Westen!» Ein Element des Museumskonzepts kann den Menschen berühren, weil es ausnahmsweise Menschen erinnern lässt, nicht Waffen, Helden, den Grossen Führer Stalin: möglichst viele Menschen aus der Roten Armee, die den Krieg überlebt oder nicht überlebt haben, erhalten ein Portraitfoto mit ihrem Namen.
Gerade dieses Menschenrecht, mit seinem erfahrenen Übermass an Leid nicht vergessen zu werden, wenigstens mit Namen und Gesicht, wird denjenigen wieder entzogen, die unter Stalins Repressionen gelitten haben und nicht durch die Feinde aus dem Westen, sondern durch die eigene Staatsmacht zu Tode gekommen sind. Letzte Gedenkstätten in Kolyma und Moskau wurden im letzten Jahr geschlossen, sogar das blosse Rezitieren der Namen am Solovjezkij-Gedenkstein in Moskau vor der damaligen und heutigen Geheimdienstzentrale Lubjanka wurde verboten.
Patriarch Kyrill: «Für die Heilige Rus’ – Patriotismus und Glauben»
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Im Herbst 2024 ist das zum Tempel passende neue Buch des «Allerheiligsten Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus’», Kyrill, erschienen. Der Patriarch legt dar, wie die russische Armee nie einen Angriffskrieg geführt oder Land erobert hat, sondern immer nur die Einheit der Heiligen Rus’ verteidigte, das heisst die Einheit von Grossrussland, Weissrussland und Kleinrussland (andere sprechen von einer Ukraine, Kyrill meidet das Wort konsequent). Oder die Armee nahm fremde Völker, die darum baten, gütig in ihren Schutz auf.
Buchillustrationen zeigen den Patriarchen oder den Präsidenten oder beide in Einigkeit bei heilig-patriotischen Zeremonien. Den ganzen Band durchziehen, grafisch herausgehoben, markante Aussagen Putins zum Thema.
Kyrill wörtlich: «Gewöhnlich haben Völker andere, mit dem Irdischen verbundene Ideale – Reichtum und Macht –, aber das Ideal unseres Volkes wurde die Heiligkeit. […] Gott erwählt unser Vaterland, auf welches gegenwärtig wütende und bösartige Blicke geworfen werden von denjenigen, die uns fremd sind in unserem Glauben und unseren moralischen Lebensprinzipien. […] Vielleicht werden die religiösen Gefühle nie so geschärft wie in der Situation, wenn der Mensch vor der Wahl steht: Leben oder Tod – wenn er entscheiden muss: Entweder ich erhebe mich jetzt zum Sturmangriff, um meine Heimat, meine Nächsten, meine Kameraden zu verteidigen, oder ich bleibe liegen, wo keine Kugel hinkommt.»
«Wenn an der Spitze ein Rechtgläubiger steht»
So ungefähr, meint Kyrill, habe sich doch Christus auch ausgedrückt (er verweist u. a. auf Joh. 17,3). «Das ganze Kriegerheldentum findet seine Bestätigung im Evangelium. Wie viel Verrat und Desertion gäbe es ohne den Glauben an das Ewige Leben! Aber auf den Befehl ihres Kommandanten erheben sich Menschen zum Angriff, bereit in den Tod zu gehen. […] Denke daran: Du wirst nicht sterben, sondern ewig leben. […] Wenn an der Spitze des Vaterlands und der Streitkräfte ein Heiliger steht, und wenn auch kein Heiliger, dann doch ein Rechtgläubiger, Getaufter, der seine Verantwortung vor Gott, der Kirche und dem Land erkennt, dann wird er das Schwert nur mit geistiger Rechtfertigung ziehen. So rufe ich alle auf, ein besonderes Gebet für unseren Präsidenten, für die Staatsmacht, für das Volk einzulegen.»
Tempel und Buch stellen das Ende einer niedergehenden Entwicklung des russisch-orthodoxen Christentums dar und zugleich eine Rückkehr in die theokratischen Kulturen des Alten Orients, wie sie durch Byzanz an Russland vermittelt wurden: die Verschmelzung der Staatsmacht mit der Priestermacht.
Der Krieg im öffentlichen Raum: Heldenkult und Werbung
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Der Krieg wird keineswegs verschwiegen, aber darf sich nur als Ort des Heldentums zeigen, auf keinen Fall als Ort der Todesängste, der lebenslangen Traumatisierungen, der leiblichen und seelischen Verstümmelungen, der Verrohung und Abstumpfung. Helden sind nicht nur die todesmutigen Männer, sondern auch die Frauen, die tapfer jeden Verlust ertragen, ob es der Vater, der Bruder oder der Sohn ist.
Immer wieder treten beide im Staatsfernsehen auf: die kämpfenden, bescheidenen Männerhelden, wenn Putin oder Beamte ihnen Orden anheften, und die Frauen, die tapfer ihre Männer ziehen lassen, wenn sie aufbrechen, um ihre Familie gegen die Faschisten zu verteidigen. Und wenn ihr Liebster nicht mehr zurückkommt, tragen sie, wie man im Fernsehen sieht, auch das mit heroischer Leidensfähigkeit.
«Er ist doch als Held für uns alle gefallen!», sagen sie unter weggewischten Tränen in die Kamera. So ist die echt russische Frau, das Gegenbild der Feministinnen, die angeblich den Westen im Griff haben. Und Putin tröstet, dass es zuerst an den wahren Müttern liegt, wenn Söhne den Heldentod fürs Vaterland zu sterben bereit sind. Übrigens, meint er, auch an den Lehrern.
«Child-Free-Propaganda» unter Strafe
Allerdings ist die Geburtenrate, wie in anderen Weltgegenden, so rückläufig, dass die Regierung aufgeschreckt ist und offen von einer drohenden Katastrophe spricht, wenn es nicht durch vielfältige Massnahmen gelinge, die Frauen wieder dafür zu gewinnen, dem Vaterland möglichst viele Kinder zu gebären, damit das russische Volk eine Zukunft habe. Dass die Beendigung des Krieges eine wirksame Massnahme sein könnte, um junge Eltern zu ermutigen, Kinder auf dieser Erde zu empfangen, wird nicht in Betracht gezogen. Fromme Worte und finanzielle Anreize sollen die Wende herbeiführen, zusätzlich unterstützt vom Strafrecht: Die Duma hat gerade während meiner Reise einstimmig ein Gesetz angenommen, das «Child-Free-Propaganda» unter Strafe stellt. Sie kommt wie alles Übel aus dem Westen, dafür kann es kein russisches Wort geben.
Mit finanziellen Verlockungen an die Front
Ausser den grossen Heldenplakaten entlang der grossen Strassen sind die kleinen A4-Plakate und die Flyer allgegenwärtig. Sie werben um Vertragssoldaten. Sie kleben neben den Hauseingängen, an Busfenstern, zwischen den Konzertprogrammen in der Philharmonie und liegen auf dem Kassentisch des Ikonenmuseums.

Obwohl die Angeworbenen angeblich nur aus Patriotismus fürs Vaterland kämpfen, wurden die gross aufgedruckten Summen erhöht, bis zu einem Niveau, von dem man nur träumen kann, wenn man redlich sein Geld verdient im Handwerk, im Bildungs- und Gesundheitswesen, im Büro. Als Hebamme Kindern auf die Welt helfen bringt gut 300 Franken im Monat, als Soldat das Leben der Feinde auslöschen 2000 Franken. Und der Monatslohn ist nur ein Teil von allen materiellen Gewinnen, die einen Vertragssoldaten locken: 4000 bis 8000 Franken als Einmalzahlung schon beim Abschluss des Vertrags und bis zu 10’000 Franken «zusätzliche stimulierende (!) Auszahlungen».
Der Staat übernimmt Schulden und Hypotheken sowie die Wohnungsmiete, und er garantiert einen Arbeitsplatz nach Entlassung aus dem Dienst. Er übernimmt die Kosten für die Schulmahlzeiten, Erholungslager und Hochschulplätze der Kinder.
Da fällt es leicht, ein echter Patriot zu sein, denn – so heisst es in der Werbung – «ein echter Patriot ist heute einer, der bewusst seine Wahl getroffen hat, nicht abseits geblieben und Vertragssoldat für die Verteidigung seines Landes geworden ist. In einem kritischen Moment für ihr Land tut er alles, um seine Familie zu schützen, seine Nächsten und Verwandten und sein Vaterland. Das ist eine Pflicht jeden Mannes.»
In 5000 Kilometer Entferung seine Liebsten schützen
Am 30. September 2024 kam der erst gerade 18 Jahre alt gewordene Lev im Donbas ums Leben. Obwohl er bei der Rekrutierung von der Armee dienstuntauglich erklärt wurde, entschloss er sich Ende August trotzig, Vertragssoldat zu werden. Seine Freundin erzählt dem Lokal-Journalisten: «Er wollte unbedingt zeigen, dass er ein richtiger Mann ist und seine Nächsten beschützen kann. Als ich ihn zurückhalten wollte, sagte er: ‹Vika, ich will Mama, alle Nächsten und dich beschützen – wer, wenn nicht ich?› Er meinte: beschützen gegen die von seinen Liebsten mehr als 5000 Kilometer entfernten Feinde. Hat er vielleicht diesen Werbeclip gesehen: ‹Hast Du etwa davon geträumt, als Taxifahrer oder als Securitas zu arbeiten? Du bist doch ein Mann. Dann sei einer!›»
In einer der wichtigsten Talkshows der Staatsmedien, bei Vladimir Solowjow, platzt einem Deputierten der Staatsduma vom Gebiet hinter dem Bajkal unerwartet der Kragen. Er schildert die Armut dieser Kleinstädte und Dörfer, wo das Spital und das Geburtshaus geschlossen wurden, die Infrastruktur samt dem Asphalt zerfällt. Wie könne man sich dann wundern, dass von 350 Einwohnern eines Ortes 50 einen Vertrag für die SVO (Spezielle Militäroperation) unterschrieben haben?!
In einer Lokalzeitung geht die Werbung noch einen Schritt weiter, indem ein ganzseitiges Inserat aufzeigt, wie man zu noch mehr Geld kommen kann durch die SVO. Zum Beispiel 10’000 Franken für einen noch intakten erbeuteten Leopardpanzer. Weitere attraktive Möglichkeiten der Bereicherung werden aufgelistet: 30’000 Franken im Falle einer Verwundung, 50’000 Franken für die Familie im Fall seines Todes.
Etwas anders formuliert heisst die Gewinnchance in der SVO so: «Stabilität, Selbstverwirklichung, würdiges Lebensniveau, hoher Sozialstatus». Mit friedlicher Arbeit ist in Russland offensichtlich kein würdiges Lebensniveau garantiert, auch als Volksschullehrer nicht.
Wohin sind die Mathematiklehrer verschwunden?
Als Anfang Februar 2025 Putin am Fernsehen mit ernstem Gesicht seine Sorge vorbringt, dass die Mathematiklehrer verschwunden sind, schlägt ihm in der Mehrheit der Kommentare auf Social Media Hohn entgegen: «Wohin verschwunden? Dorthin wo auch das Pflegepersonal und die Ärzte sind?» – «Ich habe nicht bemerkt, dass man als gutverdienender Beamter Mathematik braucht.» – «Natürlich fehlen Handwerker und Lehrer, wenn es so viele Beamte braucht.»
Auf dem zentralen Platz einer bedeutenden Stadt wurden die zahlreichen Plakatwände mit dem Motto «Kleine Nachrichten von der Front» neu mit anmutigen Fotografien bestückt, diesmal mit sommerlichen Motiven aus dem Leben der aus Irkutsk in den Donbas aufgebrochenen, den Fotos nach fröhlich kämpfenden Helden – und mit neuen Gedichten:
«Brief an den Sohn
Bei uns, Sohn, ist es still. Der Garten blüht, und der Frühling trägt wie eine Freundin Hoffnung in die Seelen. Am Fensterchen wischt die Mutter eine Träne ab.
Aber bei euch dröhnen die Kanonen, das MG schweigt nicht Tag und Nacht. Die zerstampfte Erde ist mit frischem Blut getränkt, auf ihr sterben die Söhne.
Aber wir halten durch, Söhnchen, hörst du? Unser Volk fürchtet niemanden. Du kämpfst, mein vertrautes Söhnchen. Bei dir ist mein Segen, das rettende mütterliche Gebet.»
Oder:
«Ich halte mich nicht für einen Helden. Bin einfacher russischer Soldat, brauche keine Belohnung.
Denn wir kämpfen jetzt für das Vaterland, für glückliche Kindergesichter und für die Seelen einfacher Mütter.
Wir erlauben der fauchenden Schlange nicht, das heimatliche Land zu vernichten.»
Kinder und Jugendliche im Bann der Militarisierung
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Der Staat betreibt einen ungeheuren Aufwand, um alle Kinder und Jugendlichen in die staatliche Neuauflage der sowjetischen Pionier-Organisation mit dem neuen Namen «Die Ersten» hineinzuziehen (gegründet 2022, bereits über fünf Millionen Mitglieder im Alter von 6-25 Jahren), in die «Jugendarmee» (gegründet 2016, 1,75 Millionen Mitglieder), und in die neuen «Zentren für militärisch-sportliche Vorbereitung und patriotische Erziehung», die über das ganze Land verteilt in Sommerlagern («Zeit der jungen Helden») den Jugendlichen «angewandte militärische Fähigkeiten» beibringen (Schiessen, Drohnen steuern, Taktik), oft angeleitet von ehemaligen Kriegsteilnehmern, «in einer Atmosphäre, in der sich die Jungen als echte Verteidiger ihres Landes fühlen», wie es im Jahresrückblick des «Zentrums» in Tschuwaschien heisst.

Ein 9-Jähriger der Jugendarmee singt das Lied des «Staatssängers» Shaman (Bild links): «Du bist ein Krieger des Lichts, der lebendig geblieben ist. Lebendig! Sag Deinen Namen, Held, der Du mit dem Sieg zurückkommst! Du hast dich nicht versteckt, als die schicksalshafte Stunde kam, und bleibst ewig im Himmel.»
Seit letztem Herbst hat das bisherige obligatorische Schulfach für die Oberstufe «Verhalten in gefährlichen Lebenssituationen» neu den Zusatz «…und Verteidigung der Heimat», neu mit Gewehr- und Drohnenübungen. Seit 1. September 2022 beginnt jede Woche obligatorisch mit dem Aufzug der Flagge, dem Singen der Hymne und einem den Patriotismus stärkenden «Gespräch über das Wichtige».
Ein Vater erzählt mir, dass die 3. Klasse seiner Tochter schon zweimal einen Brief an Frontsoldaten von der Tafel abschreiben musste. Diese abgeschriebenen Texte werden dann als persönliche, die Herzen der Helden berührende und ermutigende Kinderbriefe in den Donbas geschickt.
Das Internet ist voll von Videos, in denen Schulen und Kindergärten mit Stolz auf ihre patriotischen Schulfeiern aufmerksam machen, besonders darauf, wie sie den «Tag des Sieges» oder den «Tag des Verteidigers des Vaterlands» begehen. Ein Video zeigt eine Kinderparade vom 5. Mai 2024 in der Stadt Saratow. Ein Knabe: «Die Unseren haben mit den Deutschen gekämpft und gesiegt» Ein anderer Knabe: «Wir versprechen, unser Russland zu verteidigen!» Eine Lehrerin: «Unsere Vorfahren wollten, dass wir ihrer würdig sind: jeden Moment bereit, das Vaterland zu verteidigen!»
Im Januar 2025 schlug der Gouverneur von Belgorod ein Gesetz vor: Kindern und Jugendlichen, welche die russische Armee diskreditieren und sich negativ über die SVO äussern, soll später der Zugang zu den Hochschulen verweigert werden. Ihren Eltern, welche die Kinder nicht patriotisch erziehen können, sollen staatliche Zuschüsse entzogen werden.
Bei einem Schulbesuch wollte mir ein Lehrer, als wir zu zweit allein waren in der Mensa, etwas mitteilen: Er sei im Sommer freiwillig in der Zone der SVO gewesen, um die Kämpfer zu unterstützen. Er zeigt mir Handy-Fotos von sich mit Uniform und Waffe. Das habe ihn so begeistert, dass er wieder dorthin gehen wolle.
Im Programm «Zeit der Helden» werden ehemalige Frontsoldaten kurz umgeschult, bevor sie die Heranwachsenden ins wahre Leben einführen dürfen oder andere verantwortliche Posten übernehmen.
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Gewalttätigkeit im Heiligen Krieg – Kriminalität im zivilen Leben
Ich besuche zum dritten Mal einen Freund, der sich nach eigener langjähriger Gefängniserfahrung zur Lebensaufgabe macht, als Jurist für die Rechte von Gefangenen einzutreten, ganz besonders für ihren Schutz vor der weit verbreiteten Folter. Er bedauert, dass fast alle seiner Kollegen als «Rechtsschützer» ausgewandert seien, weil man, wie sie sagten, doch nichts mehr bewirken könne in diesem Land. Oh doch! versichert mein Freund, man könne hier noch etwas bewirken. Er freue sich an den vielleicht bescheidenen Erfolgen. Die wenigen wegen Folter verurteilten Gefängniswärter und -direktoren seien für alle andern doch ein Signal: Verlasst euch nicht auf Straffreiheit! Damit er seine Aufgabe möglichst lange erfüllen könne, äussere er sich aber nicht öffentlich zur Politik, nur zum Recht.
Seit Kriegsbeginn sei die Gewaltkriminalität deutlich angestiegen, sagt er. Bekannt sei die Problematik von Rückkehrern aus dem Krieg, die mit einem gewaltfreien Leben nicht mehr zurechtkommen. Psychotherapie für die Kriegstraumata der Opfer und der Täter sei unbekannt: Warum sollte man tadellose, von liebevollen russischen Frauen empfangene Helden therapieren?
Männer, die wegen kleiner Vergehen wie Diebstahl verhaftet werden, würden direkt vor die Alternative gestellt: Kriegsdienst oder Gefängnis. – Diesmal ist mein Freund vorsichtiger als die letzten Male, ich soll seinen Namen nicht nennen bei Veröffentlichungen – «für das, was wir hier sprechen, kann man verhaftet werden».
Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, auch in Kriegszeiten
Was ist gegen die zunehmende Militarisierung der russischen Gesellschaft zu tun? Im öffentlichen Diskurs nichts. Es kann darüber keine Debatte mehr entstehen, weder in den Medien noch bei öffentlichen Gesprächen in den Bildungs-Institutionen und an Konferenzen noch im Parlament. Nur noch die private Begegnung zwischen individuellen Menschen kann einen Freiraum bewahren.
Als mich auf der Strasse eine ältere Dame nach einer Adresse fragt, entschuldige ich mich, dass ich Schweizer bin und diese Adresse nicht kenne. «Aus der Schweiz!?» Sie besinnt sich keinen Moment, sie muss es diesem unerwartet ihr zugeschickten Ausländer sagen: «Denkt bitte nicht, dass wir alle so sind. Das ist ja unfassbar im 21. Jahrhundert!»
Im Gespräch mit einer 10. Klasse ist ein spontanes Interesse an der Begegnung zu spüren – alles über mich, über die Schweiz, ob es wahr sei, dass in der Schweiz Tiere auch Rechte haben, über mein Motiv, Russisch zu lernen und nach Russland zu reisen, usw. Wo immer möglich betone ich, dass ich auch in die Ukraine reise, auch dort Freunde habe. In der Pause kommen drei Mädchen zu mir mit der Bitte, die sie im Klassengespräch nicht anbringen durften: «Sagen Sie, was Sie wirklich denken!» Ich verstehe ohne Worte, dass sie meinen: über den Krieg – den man SVO nennen muss, wenn man sich nicht strafbar machen will.
Nach meinem Vortrag meldet sich eine Lehrerin aus einer Kleinklassenschule, wo mir im April die 8. Klasse auf Deutsch «Die Gedanken sind frei…» vorsang. Die Klassenlehrerin hatte mich gewarnt, unter den Zuhörern könne auch der Geheimdienst FSB sein. Mutig fragte mich die Lehrerin dennoch vor allen Zuhörern meines Vortrags: «Was soll ich denn tun, wenn ich vor den Schülern wahrhaftig sein will….!?»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Russland ist im Gegensatz zu Europa interrnational isoliert, dennoch ist die Dekolonialisierung Russlands wichtig, um Russland vom Putin-Plan abzuhalten sich Europa erneut einzuverleiben.
Die Hälfte der Opfer des 2 WK (ca. 27 Mio) stammten aus der UdSSR und es gab damals ebenfalls die totale Militarisierung.
Im 2. WK liefen Sie in nur 2 Jahren von Stalingrad (02.02.43) bis nach Berlin (02.05.45). Am 24.02.22 überfiel Russland die Ukraine und in diesen 3 Jahren kamen sie nur ca. 300 km weit, nicht einmal bis zum Dnjepr. Wenn es so weiter geht, brauchen sie 50 Jahre bis nach Kyjiw.
Hallo, danke für den interessanten , aber nicht überraschenden Einblick in das Propagandesystem Russlands. Tatsächlich gab es in den letzten Jahrzehnten von Russlands Seite aus eine erfolgreiche Öffnung den westlichen Werten gegenüber.- sicher noch lange nicht hinreichend. Durch unsere dilettantische Ampelregierung und auch vorher durch Merkel wurde dies zunichte gemacht. Die NATO ist überhaupt nicht an Frieden interessiert und große Teile (ca 30%)unserer Bevölkerung ebenso nicht. Sie wollen Krieg bzw. den ukr. Krieg gewinnen und rüsten auf. Entsprechende Reaktionen von russischer Seite aus sind dann nicht überraschend.
Es ist erschreckend, wie schnell jahrzehntelange Erfolge bei der Völkerverständigung wieder zunichte gemacht werden.
Seit 1990 kennt die Nato nur eine Richtung. Nach Russland. In den Nato Mitgliedsstaaten sind es nicht die Ultranationalisten die zur Kriegstüchtigkeit aufruft, sondern normale Politiker, wie der deutsche SPD Politiker Boris Pistorius. Die Nato spricht von einem Angriff Russlands im Jahr 2029, Selenskyi von 2026. In Zwickau fährt ein Tram in Tarnfarben mit Bundeswehrwerbung und eine deutsche Fussballmannschaft hat die Rüstungsfirma Rheinmetall als Werbeträger auf der Brust. Das ARD-Morgenmagazin berichtet aus einem Truppenübungsplatz und lässt einen General über Kriegstüchtigkeit sprechen. Letztes Jahr hat die Bundeswehr 2203 17-Jährige rekrutiert und verstösst damit gegen die UN-Kinderrechtskonvention. SPD und BSW in Brandenburg haben sich in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt, dass der Bundeswehr in Zukunft der Zugang der Bundeswehr in Schulen beschränkt wird. Kein Verbot. Mit dem Blick zu unserem Nachbarn, habe ich ein gewisses Verständnis für Russlands Extremen. Befürworte es nicht.
Für mich ein sehr beeindruckender, nützlicher Artikel, somit befremdet mich die Statistik am Ende.
Vielen Dank an Peter Lüthi, es ist wohl sein erster Beitrag im Infosperber. Als ehemaliger DDR-Bürger mit früher sehr guten, jetzt nut noch erträglichen Russisch-Kenntnissen und mehrfachem, auch längerem Aufenthalt in der ehemaligen Sowjetunion habe ich einen sehr persönlichen Bezug zum Russland-Ukraine-Krieg. Inzwischen auch im (Un)-Ruhestand, bin ich in der Flüchlingshilfe hier in Dortmund aktiv, kann da mein Russisch etwas einsetzen. Als Hobbymusiker hatte ich Kontakt zu russischen Musikern, eine Einladung, 2020 nach Irkutsk reisen. Doch dann kam Corona und danach der Krieg. Ich habe großen Bedarf, mich mit Herrn Lüthi auszutauschen, z.B. über LinkedIn. Freue mich auf eine Rückmeldung.
Traurig, aber was der Verfasser in seinem Artikel beschreibt ist wohl Resultat der Bedrohung, die Russland unter anderem durch die NATO Osterweiterung, und die seit Jahren immer stärker wachsende, mittlerweile akute Russophobie westlicher Länder spürt. Das Recht sich bedroht zu fühlen wird den Russen zwar abgesprochen, aber ausgelöscht werden können solche «Gefühle» nicht. Dass diese in der Folge genau solche Reaktionen verursachen, liegt in der Natur der Sache.
Indoktrination von Kindern in Richtung ?? DAS ist die Frage! Indoktrination ist grundsätzlich problematisch, kenntlich an der Distanz zu «Erziehung». Aber abhängig von der hinterfragten Richtung
kann sie als Notlösung oder als Verbrechen bezeichnet werden. 1917 wurde in Rußland ein System gestürzt, dessen soziale Ungleichheit beispiellos war – ein historische Großtat ,die von ausländischen Mächten
rückgängig gemacht werden sollte. Das abzuwehren war das Grundkonzept des Sowjetstaates – genau dazu wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, eben auch die Ausrichtung der Jugend auf die Verteidigung des eigenen Staates : eine Abwehrmaßnahme. Zum Vergleich : die Indoktrination der deutschen Jugend durch die Nationalsozialisten war die Heranzüchtung einer aggressiven Jugend zwecks Eroberung von «Lebensraum» – ein Verbrechen. Direkt zum Artikel : will wg. der Kürze so sagen: Lenin hätte die Putinsche Strategie mißbilligt.
Was in Russland passiert ist bedenklich, aber leider überhaupt nicht verwunderlich. Wer glaubt, dass im Westen die Propaganda weniger präsent ist, sollte die Augen öffnen. Im Moment rüsten fast alle Länder auf, zur grossen Freude der Waffenlobby. Mit den sinnlosen Waffenlieferungen an die Ukraine wurde das Leiden der dortigen Menschen unnötig verlängert und vergrössert, das dies dan in Russland als Bedrohung wahrgenommen wird, sollte niemand verwundern. Selbiges gilt für die Stationierung von amerikanischen Waffen an der Grenze zu Russland. Der Westen und vor allem die Nato haben diesen Krieg gewollt, obschon jeder es wissen sollte, gibt es immer noch Politiker und Militärs welche von einem militärischen Sieg sprechen, dabei kann es nur einen Waffenstillstand geben und eine diplomatische Lösung.
Russland holt nur das nach, was der Westen die letzten 30 Jahre praktiziert hat.