Kommentar
Russland – USA: Krieg oder neue Détente?
Die Warnung hat aufgeschreckt: Russland und die USA könnten unbeabsichtigt in einen Krieg «stolpern». Sie stammt nicht von apokalyptisch gestimmten Randfiguren, sondern von zwei prominenten Amerikanern, die in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelt sind. In einer viel beachteten Analyse vergleichen Graham Allison (Harvard Universität) sowie der bekannte Politologe und gebürtige Russe Dimitri Simes die Ukraine-Krise mit der Kuba-Krise. Die Ukraine in der Nato oder nur schon als mögliches Nato-Mitglied, so geben die Autoren zu bedenken, könnte Russland ebenso provozieren wie seinerzeit die sowjetischen Raketen auf Kuba die USA. Allison und Simes sind überzeugt, die USA und der Westen missachteten mit ihrer Ukraine-Politik Russlands Sicherheitsinteressen (Russia and America. Stumbling to War. The National Interest. 20. April 2015).
Die Spannungen begannen schon vor dem Ukraine-Konflikt
In der medial aufgeputschten Debatte über den Ukraine-Konflikt wird übersehen, dass die Annexion der Krim und der Bürgerkrieg im Osten der Ukraine die Krise nur verschärft haben. Ursachen für die Entfremdung zwischen Russland und den USA sind schon früher auszumachen, sie liegen bei den unterschiedlichen innen- und aussenpolitischen Zielen und Vorstellungen der Regierungen in Washington und Moskau. (Fehler im Betriebssystem. Hannes Adomeit. Die russisch-amerikanischen Beziehungen. Osteuropa 9. 2013)
Zuerst ein Blick auf die USA. In der aussenpolitisch interessierten US- Öffentlichkeit herrscht schon seit Jahren eine russlandkritische Haltung, die je nach Anlass in russlandfeindliche Stimmungen umschlägt. Zum Beispiel die Entscheidung des Kreml, Snowden Asyl zu gewähren, hatte in Washington den Ruf nach Strafmassnahmen ausgelöst. Obama musste sich im Verhältnis zu Russland «tough» zeigen und sagte ein für September 2013 geplantes Gipfeltreffen in Moskau ab. Schon damals glaubten führende Politiker wie Senator John McCain und Kommentatoren, Russland könne man einfach die kalte Schulter zeigen, am besten ignorieren. «Es ist sinnlos, noch mehr Zeit mit Putin zu verschwenden» (Thomas Friedman, New York Times. 14. August 2013).
Kritik an Russland – ein Ventil für Washingtons Inkompetenz
Die russisch-amerikanischen Beziehungen seien zu einem Spielball der US-Innenpolitik geworden, glaubt Thomas Graham. Der Russlandexperte und ehemalige Präsidentenberater hat den Verdacht: «Amerikaner greifen Russland immer vehementer und giftiger in dem Mass an, wie ihre Frustration mit der politischen Dysfunktionalität in Washington und der Inkompetenz der US-Aussenpolitik wächst. Mit anderen Worten, die Intensität der Kritik hat weniger mit Russlands Verhalten als mit Amerikas ungenügenden Fortschritten zu tun, seine eigenen Mängel zu beheben.» (New York Times. 22. 8. 2013).
Aussenpolitik spielt in den Politdebatten der USA selten eine wichtige Rolle. Im jetzt beginnenden Präsidentschaftswahlkampf könnte der «Bösewicht» Putin aber den Republikanern als Symbol für die Schwäche von Obamas gesamter Aussenpolitik gelegen kommen.
Gegenseitiges Hochschaukeln
Das «Russia bashing» in den USA dürfte auch den Falken im Kreml willkommen sein. Die amerikanischen Hardliner und russischen Silowiki (Die Vertreter der Militärs und Geheimdienste) spielen sich gegenseitig in die Hände. Auf die Sanktionen und Einreisesperren der USA und der EU hat Putin nicht mit Nachgeben, sondern mit Gegensanktionen und eigenen Listen von nicht mehr erwünschten Personen reagiert. Obamas Hoffnung, Russland zu isolieren, hat sich als Wunschdenken erwiesen. China, Brasilien, Indien, Südafrika und andere nicht westliche Staaten denken nicht daran, Washingtons und Brüssels Isolations-Strategie zu folgen.
Der neue Kalte Krieg verspricht lang zu werden. Das ist auch in Europa zu spüren. Die geistige Landschaft ist vergiftet. Als vor einigen Monaten sechzig prominente ehemalige Politiker, Diplomaten und Künstler in einem offenen Brief in der deutschen Wochenzeitung«Die Zeit» anmahnten, Russlands Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen, es nicht medial zu dämonisieren und aus Europa herauszudrängen, mussten sie sich in einem Gegenaufruf von über hundert Osteuropahistorikern als Diktatorenkollaborateure und Verräter an fundamentalen europäischen Werten wie Freiheit und Recht abstrafen lassen.
Die verhängnisvolle «Transition Theory»
Zu den Unterzeichnern des Gegenaufrufs gehören auch viele Russlandhistoriker, die ihre alte Liebe zu Russland plötzlich als Irrtum entdecken. Sie waren Anhänger der sogenannten «Transition Theory». Diese Theorie, sie war zur Analyse des post-sowjetischen Systems entwickelt worden, stellte die These auf, Politik und Wirtschaft des gesamten postkommunistischen Raums von der Oder bis zur Beringstrasse würden sich der euro-atlantischen Norm angleichen. In den Ländern Ostmitteleuropas entwickelten sich tatsächlich Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat sowie eine autonome Zivilgesellschaft. In Russland jedoch kam alles ganz anders.
«Russia got lost in transition», so hat die bekannte russische Politologin Lilja Schewzowa ihre Enttäuschung formuliert. Schon unter Präsident Jelzin, vor allem aber unter Putin habe Russland «eine falsche Richtung» eingeschlagen. Statt ein demokratisches System habe sich ein autoritäres Regime herausgebildet, das «System Putin». Dass sich Russland (und der übrige postsowjetische Raum) nicht an die Prämisse der «Transition Theory» gehalten hat, wirft aber auch grundsätzliche Fragen auf. Warum hat Russland den «falschen Weg» eingeschlagen? Oder anders gefragt, können Transformationsprozesse nur in einer, das heisst der vom Westen bestimmten Richtung verlaufen ?
Seit Jahrhunderten auf einem «anderen Weg»
Die an der Universität Zürich lehrende Osteuropa-Historikerin Nada Boskovska macht darauf aufmerksam, dass Russland schon seit Jahrhunderten einen «anderen Weg» eingeschlagen hat und deshalb im Westen auf Antagonismus und Misstrauen stösst. Den Anfang sieht Boskovska im religiösen Gegensatz zwischen der Ost- und der Westkirche, der im Mittelalter für tiefgreifende kulturelle und geistesgeschichtliche Unterschiede und gegenseitige Feinseligkeiten sorgte. «In historischer Perspektive war der Kalte Krieg nichts anderes als die besonders ausgeprägte Form eines älteren Phänomens: des Gegensatzes zwischen dem Westen und Russland.» Mit dem Zerfall der Supermacht UdSSR und dem Ende des ideologischen Gegensatzes habe sich das kurzfristig geändert. Weil das Russland der 90er Jahre kein potenter Feind mehr gewesen sei ,habe es vorübergehend sogar Sympathie genossen. Das habe sich mit Putin geändert, der für sein Land den traditionellen Grossmachtanspruch wiederbelebt habe. «Seitdem heisst der Gegner wieder Moskau und die alten Feindbilder werden hüben wie drüben gepflegt.» (Unser liebster Feind.Tages Anzeiger. 30. Oktober 2014)
Was in der Ukraine spätestens seit der Annexion der Krim stattfindet, ist ein Stellvertreterkrieg. Auf der einen Seite stehen die ukrainische Armee und die «Freiwilligenbataillone», die von den USA und ihren Verbündeten unterstützt werden. Auf der anderen Seite die Aufständischen, die sich auf die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine stützen sowie auf russischen Beistand, der sich als «humanitäre Hilfe» ausgibt.
Wie lange wird dieser Stellvertreterkrieg dauern? In den USA dominieren zur Zeit die Falken – in den Lagern der Republikaner und der Demokraten. Putin seinerseits kann sich hinter einer weiterhin hohen Zustimmung in der Bevölkerung für seine Ukraine-Politik verstecken. Pragmatische Stimmen fordern deshalb, der Westen müsse mit ersten Deeskalationsschritten anfangen.
Détente plus: Gleichzeitig Gegner und Partner
Das fordert der bekannte ehemalige amerikanische Sicherheitspolitiker Leslie H. Gelb. Er verlangt einen nüchternen Neuanfang der Beziehungen mit Russland, die er als «Détente plus» bezeichnet (The National Interest. Russia and America: Toward a New Détente. 9. Juni 2015). Russland dürfe nicht mehr als Feind, sondern müsse in einer «Kombination gleichzeitig als Gegner und Partner» gesehen werden. Eine «Détente plus» könne jedoch nur erfolgreich sein, wenn der Westen Russland wieder als Grossmacht anerkenne, die reale und legitime Interessen habe. Eine «Détente plus» setzt aber auch ein neues Russland-Bewusstsein in der politischen Elite der USA voraus.
Deshalb stellt Gelb den Lesern seines Beitrages eine zentrale Frage: «Stellen Sie sich vor, die USA hätten den Kalten Krieg verloren. Nur zur Erinnerung und zum Vergleich: Denken Sie an Amerikas Trauma nach der Niederlage im Vietnamkrieg oder an die über Jahre dauernden sinnlosen Kämpfe in Afghanistan und Irak. Dennoch haben die meisten Amerikaner absolut keine Ahnung, was das viel grössere Trauma für Russen bedeutet, die nach der bitteren Niederlage im Kalten Krieg den sofortigen Vorstoss der Nato bis an Russlands Grenzen über sich ergehen lassen mussten. Diese tiefen Schocks sind zentral, um die jüngsten russischen Provokationen des Kreml zu ergründen. Gleichzeitig geben sie uns auch den Schlüssel dafür, wie wir ihnen zu begegnen haben. Wir müssen Russlands Geschichte seit dem Fall der Berliner Mauer kennen, nicht um Putins Politik zu rechtfertigen, aber um sie zu verstehen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war viele Jahre Russland-Korrespondent des TagesAnzeigers.