Der ukrainische Verhandlungsführer Davyd Arakhamiia.1+1

Der ukrainische Verhandlungsführer David Arakhamia: «Russland ging es vor allem um die Neutralität der Ukraine.» © TV-Sender «1+1 Ukrainia»

«Russland hatte Frieden gegen Neutralität vorgeschlagen»

Urs P. Gasche /  Es war in Istanbul kurz nach dem russischen Angriff. Der ukrainische Verhandlungsleiter bestätigt jetzt das russische Angebot.

Dawyd Arachamija ist seit 2019 Fraktionsvorsitzender der Partei Sluha narodu (Diener des Volkes). Im März 2022 hatte er wenige Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in Instanbul bei Friedensgesprächen die ukrainische Verhandlungsdelegation geleitet. 

Bei einem Treffen mit einer afrikanischen Delegation hatte Wladimir Putin einen angeblich fertigen Entwurf für ein Friedensabkommen mit der Ukraine gezeigt, der während Verhandlungen in Weissrussland vereinbart und in Istanbul initiiert worden sei. Laut Putin sah das vorgeschlagene Abkommen die ständige Neutralität der Ukraine sowie Sicherheitsgarantien vor, und zwar in insgesamt 18 Artikeln, die «alles festlegten, von der militärischen Ausrüstung bis zum Personal der ukrainischen Streitkräfte».

In einem in der Ukraine ausgestrahlten Interview vom 24. November 2023 mit dem TV-Sender «1+1 Ukraine» bestätigte nun Arachamija, dass Russland diesen Vorschlag machte. Die russische Delegation habe Kiew Frieden versprochen, wenn die Ukraine sich weigere, der NATO beizutreten. Doch die Ukraine habe den Sicherheitsgarantien nicht vertraut. 

Wörtlich erklärte der damalige ukrainische Delegationsleiter:

«Die Russen haben wirklich fast bis zum letzten Moment gehofft, dass sie uns zwingen würden, ein solches Abkommen zu unterzeichnen, damit wir die Neutralität annehmen. Das war das Wichtigste für sie. Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie einst Finnland – der Neutralität zustimmten und uns verpflichteten, der NATO nicht beizutreten.
Das war in der Tat der entscheidende Punkt. Alles andere über Entnazifizierung, die russischsprachige Bevölkerung und blablabla war nur Rhetorik und politische ‹Würze›.»

Auf die Frage, warum die Ukraine diesem Punkt nicht zugestimmt habe, antwortete Arachamija, man habe kein Vertrauen in die Russen, weil sie bereit seien, alles zu versprechen. 

«Und um diesem Punkt (der Neutralität und dem Verzicht auf einen Nato-Beitritt. Anm. d. Red.) zuzustimmen, hätte zunächst die Verfassung geändert werden müssen. Unser Weg in die NATO ist in der Verfassung festgeschrieben. Zweitens hatte man kein Vertrauen in die Russen. Wir könnten nicht etwas unterschreiben, uns zurückziehen, alle würden sich entspannen, und dann würden sie noch besser vorbereitet einmarschieren – denn sie waren in der Tat unvorbereitet auf einen solchen Widerstand. Deshalb hätten wir diesen Weg nur dann beschreiten können, wenn absolute Sicherheit besteht, dass so etwas nicht wieder passiert. Eine solche Gewissheit gibt es nicht.»

Ausserdem sei Boris Johnson nach der Rückkehr aus Istanbul nach Kiew gekommen und habe gesagt, dass wir einfach kämpfen sollten. Johnson habe aber die Ukraine nicht dazu gezwungen. Die Ukraine sei nicht bereit gewesen, das Dokument zu unterzeichnen. Arakhamiia zufolge hatte die Delegation nicht einmal das Recht, etwas zu unterzeichnen – dies könne nur theoretisch bei einem Treffen zwischen Wolodymyr Selensky und Wladimir Putin geschehen.

Arachamija sagte, dass die westlichen Partner von den Verhandlungen wussten und Entwürfe von Dokumenten sahen, aber nicht versucht hätten, eine Entscheidung für die Ukraine zu treffen, sondern eher Ratschläge gaben.

Arachamija, der die Verhandlungsdelegation damals leitet, sagte:

«Sie haben uns geraten, keine flüchtigen Sicherheitsgarantien [mit den Russen – Anm. d. Red.] einzugehen, die zu diesem Zeitpunkt gar nicht hätten gegeben werden können.»

Das Interview im russischen Wortlaut


Stimmen zum möglicherweise verpassten
Kriegsende im März 2022


Patrik Baab im Buch «Auf beiden Seiten der Front», November 2023:

«Ende März 2022 waren die Unterhändler in Istanbul fast zu einer Einigung gekommen. Danach hätte die Ukraine im Wesentlichen ihr Territorium vor Beginn der Invasion im Februar wieder zurückerhalten […] Dafür gibt es mindestens sechs Quellen, zwei davon waren am Verhandlungsprozess beteiligt.1
Doch am 2. April forderte der britische Premier Boris Johnson Selensky telefonisch auf, seine Vorschläge zurückzuziehen, andernfalls werde der Westen seine Hilfe einstellen. Diese Position unterstrich er bei seinem Besuch in Kiew am 9. April. Der Westen hat also Verhandlungen mit Russland verhindert. Dies kehrt die Frage der Schuld am weiteren Krieg um – zu Lasten des Westens.2 

Harald Kujat, als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses von 2002 bis 2005 der höchste Befehlshaber der NATO, am 5. November 2023:
Sechs Wochen nach dem russischen Überfall hätte man den Krieg nach Meinung von Kujat beenden können. In Istanbul sei ein Verhandlungsergebnis vorunterzeichnet (paraphiert) worden. Kujat hielt den ausgehandelten Vorschlag für akzeptabel. Es sei deshalb «besonders bedauerlich», dass der britische Premierminister Boris Johnson nach Kiew geflogen sei, um eine Unterzeichnung zu verhindern. 

Gerhard Schröder, früherer Bundeskanzler, am 21. Oktober 2023:

«Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit dem heutigen ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umjerow haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie nicht durften. Sie mussten bei allem, was sie beredeten, zuerst bei den Amerikanern nachfragen.» 

Nach Schröders Ansicht wären die Verhandlungen etwa zu folgendem Ergebnis gekommen:

  1. Ein Verzicht der Ukraine auf die Mitgliedschaft in der Nato. Die Ukraine kann die Bedingungen ohnehin nicht erfüllen. 
  2. Das Problem der Sprache. Das ukrainische Parlament hat die Zweisprachigkeit abgeschafft. Das muss geändert werden. 
  3. Der Donbas bleibt Teil der Ukraine. Der Donbas brauche aber eine grössere Autonomie. Ein funktionierendes Modell wäre das von Südtirol. 
  4. Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen plus Deutschland sollte diese Garantien geben. 
  5. Die Krim. Wie lange ist die Krim russisch? Die Krim ist für Russland mehr als nur ein Landstrich, sondern Teil ihrer Geschichte. Man könnte den Krieg beenden, wenn nicht geopolitische Interessen im Spiel wären

Andreas Zumach, Journalist, am 28. September 2023 auf Infosperber:

«Damals erklärte die Regierung Selensky in einem 10-Punkte-Dokument schriftlich ihren Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft und sprach sich für einen Neutralitätsstatus der Ukraine aus – ohne ausländische Militärstützpunkte auf ihrem Territorium und mit verbindlichen Sicherheitsgarantien durch die Staaten USA, Grossbritannien, Kanada, Russland, Polen, Israel und Deutschland.»

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FUSSNOTEN
1 «According to multiple former senior U.S. officials we spoke with, in April 2022, Russian and Ukrainian negotiators appeared to have tentatively agreed on the outlines of a negotiated interim settlement: Russia would withdraw to its position on February 23, when it controlled part of the Donbas region and all of Crimea, and in exchange, Ukraine would promise not to seek NATO membership and instead receive security guarantees from a number of countries.» Hill, Fiona u. Stent, Angela: The World Putin Wants. How Distortions About the Past Feed Delusions About the Future. In: Foreign Affairs, Sept./October 2022, v. 25. August 2022.
«I have one claim. I claim there was a good chance of reaching a ceasefire.» Bennett, Naftali: Interview Ukraine War Negotiations. https://www.youtube.com/watch?v=ZpCTEBaTFS8 (abgerufen am 24.07.2023).
Siehe Marcetic, Branco: The Grinding War in Ukraine Could Have Ended a Long Time Ago. In: Jacobin v. 2. August 2023. https://jacobin.com/ 2023/02/ukraine-russia-war-naftali-bennett-negotiations-peace (abgerufen am 24.07.2023). Vgl. auch Kujat, Harald: Interview über den Ukrainekonflikt. In: Alexander Wallasch v. 24. Januar 2023. https://www.alexander-wallasch.de/gesell schaft/interview-mit-general-a-d-harald-kujat-ueber-den-ukrainekonflikt (abgeru- fen am 24.07.2023)

2 «Die Amerikaner sehen das ganz anders (als Scholz und Macron), sie wollen keine Verhandlungslösung. Die Amerikaner haben vielmehr ein Interesse daran, Russland auf ukrainischem Boden militärisch zu besiegen.» In: Mearsheimer, John: Der Westen ist an diesem Krieg schuld. In: Cicero v. 28. Juni 2022. https://www.cicero.de/aussenpolitik/john-mearsheimer-ukraine-krieg-eu-russland-ende-nato-schuld (abgerufen am 24.07.2023)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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8 Meinungen

  • am 28.11.2023 um 11:22 Uhr
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    Russland hat gerade eben bewiesen, dass russische «Sicherheitsgarantien» keinen Pfifferling wert sind. Einfach rein evidenzbasiert betrachtet ist eine Nato-Mitgliedschaft die einzige Sicherheitsgarantie, welche für Nachbarn von Russland funktioniert.

    • am 28.11.2023 um 21:54 Uhr
      Permalink

      Können Sie das etwas ausführlicher formulieren? Welche Sicherheitsgarantien hat Russland wem abgegeben und inwiefern hat es sie nicht eingehalten?

      • am 29.11.2023 um 16:35 Uhr
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        Russland hat der Ukraine Sicherheit und Unversehertheit in den bestehenden Grenzen zugesichert, als die Ukraine die auf ihrem Gebiet stationierten Atomwaffen an Russland abgab. Aber eben: schon vergessen!

      • Favorit Daumen X
        am 29.11.2023 um 18:03 Uhr
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        Sie beziehen sich wahrscheinlich auf den Freundschaftsvertrag vom Mai 1997 zwischen der Ukraine und Russland (Boris Jelzin). Weil die Ukraine damals eine Abspaltung der Krim befürchtete, wird die Unverletzlichkeit der Grenzen (einschliesslich der Krim) im Vertrag festgehalten, allerdings unter der Bedingung – und das erwähnen Sie nicht –, dass «der Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenart der nationalen Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet» garantiert wird.
        Über das Budapester Memorandum vom Dezember 1994, das kein verbindlicher Vertrag ist, berichtete der WDR wie folgt: «Verzicht auf Atomwaffen im Gegenzug zu Sicherheitsgarantien: Das ist Inhalt des ‹Budapester Memorandums› 1994. Auch Russland sagte damals der Ukraine eine Achtung seiner Souveränität zu. Gleichzeitig sperrte sich Russland gegen die NATO-Osterweiterung […] Russlands Präsident Boris Jelzin ist dagegen. Er befürchtet, so erklärt er am 5. Dezember 1994 in Budapest, dass die NATO-Osterweiterung die Demokratie in Russland gefährde.»
        Zu diesem Zeitpunkt ging die Krim davon aus, dass sie – de jure – seit Mai 1994 nicht mehr Teil der Ukraine ist und sie daher dieser Vertrag nicht betrifft.

    • am 29.11.2023 um 09:25 Uhr
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      Die Zusagen des Westens, mit der NATO keinen Zoll näher an die RF heranzurücken sowie die bewusste Nichteinhaltung der Minsker-Abkommen (Merkel hat dies öffentlich bestätig) sind die westlichen Abkommen, Vereinbarungen etc ebenso keinen Pfifferling wert. Beachten sie auch das Prinzip von Ursache und Wirkung.

  • am 28.11.2023 um 13:34 Uhr
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    Für mich sind diese Informationen bekannt. Ich habe sie zeitnah erfahren. Ebenso sind die Positionen für eine Ablehnung der russischen „Vorschläge“ bekannt und nachvollziehbar.

    Ich verstehe nicht, warum hier jemand versucht daraus eine Schuld am weiteren Krieg dem globalen Western oder der USA zu Lasten zu konstruieren.

  • am 29.11.2023 um 07:08 Uhr
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    Der Verhandlungsführer der russischen, Medinskij, meinte zu den Aussagen Achramijas: „Die Forderung nach Neutralität der Ukraine und Nichtbeitritt zur NATO war sehr wichtig – aber ich möchte betonen, dass zu den bedingungslosen Forderungen unsererseits darüber hinaus die Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim und dann die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken gehörten.“ Auch der Schutz der russischen Bevölkerung sei wichtiges Ziel gewesen, allerdings nicht ‹die Eroberung der Ukraine›. Anfang März 2022 erschoss der ukrainische Geheimdienst SBU Denys Kirieiev, Mitglied des ukrainischen Verhandlungsteams, der des Verrates verdächtigt wurde. Man muss also nicht lange suchen, um herauszufinden, wer hier ’nicht wollte›. Überraschend ist eigentlich nur die Annahme im Kreml, dass sich Kyiv (und der Westen) irgendwann schon an irgendwelche Abkommen halten werden – trotz klaren Beweisen und Aussagen des Westens seit 2014 zur Absicht sich nicht daran halten zu wollen.

  • am 29.11.2023 um 11:20 Uhr
    Permalink

    Es ist überraschend, dass Herr Gasche weiterhin von einem russischen Überfall (= überraschender Angriff von militärischen Kräften auf einen unvorbereiteten Gegner, Staat) schreiben, obwohl die Russen ein klares Ultimatum gestellt haben, nur Siebenschläfer waren überrascht.
    Auch sollte man den 1991 Vertrag zwischen Russland und der ukraine nicht vergessen, welcher den NATO Beitritt verunmöglicht und von der Ukraine (2019) gekündigt wurde, wie der Minsker Frieden auch.
    Vielleicht sollte man die Russen fragen (Botschaft zu Bern) wie sie die legale Situation interpretieren um zu eruieren wo das Problem wirklich liegt.

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