Hamlet_Moskau

Für seine Inszenierung von «Hamlet» in Moskau erhielt Juri Butussow einen Preis als bester Regisseur © Pinter

Russland: Entwicklung oder Stagnation?

Roman Berger /  Dazu Meinungen von politischen Beobachtern. Und was denkt der sogenannte russische Durchschnittsbürger?

Moskau, im Dezember – Nadezhda Azhgikhina ist Dozentin an der bekannten Moskauer Lomonosow Universität und bildet Journalisten aus. Azhgikhina kennt nicht nur die Metropolen Moskau und Sankt Petersburg sondern auch kleinere Städte in der Provinz, die sie als Direktorin des Pen-Clubs Moskau oft besucht.

Das «passive russische Volk» – ein Vorurteil

Dort erlebt sie eine erwachende Zivilgesellschaft. «Heute verlangen die Bürger von den Beamten», so Azhgikhina, «dass sie ihre Wahlversprechen erfüllen. Das Volk fordert Respekt. Und das Verlangen von Respekt zeigt, wie sich die russische Gesellschaft entwickelt». Früher erwartete das Volk vom Staat finanzielle Unterstützung, zum Beispiel im Wohnungswesen oder Hilfe bei der Beschaffung von Lebensmitteln. Die Landwirtschaft habe sich entwickelt. Es gebe genug Lebensmittel.

Das «passive russische Volk» erweise sich immer mehr als Vorurteil. «Allerdings fehlen dieser erwachenden Gesellschaft neue, junge Leader.» Nadezhda Azhgikhina hofft jedoch, dass sich das in den nächsten Jahren ändern werde.

In der«Medienwüste» gibt es immer mehr Oasen

Als Vizepräsidentin der «Europäischen Föderation der Journalisten» korrigiert Azhgikhina die im Westen verbreitete Vorstellung, in Russland herrsche eine Medienwüste :«In dieser Wüste gibt es immer mehr Oasen.» Zum Beispiel: Russlands grosse Tageszeitungen wie die Wirtschaftszeitung Vedemosty, Kommersant, die Nesavisimaya Gazeta oder die kremlkritische Zeitung Novaya Gazeta. Sie erreichen über ihre Online-Ausgaben Millionen von Leserinnen und Leser. Mit anderen Worten: Medien, die eine breite Leserschaft gewinnen wollen, müssen eine regierungskritische Linie verfolgen. Sonst verlieren sie Abonnenten und Werbung.

Vom westlichen Ausland kaum beachtet werden regionale Fernsehsender wie beispielsweise TV2 in der sibirischen Stadt Tomsk. Seit mehr als 20 Jahren gilt TV2 als Garant für unabhängigen Journalismus. Ein Versuch, den Sender zu schliessen, scheiterte an einem in Moskau ansässigen Schiedsgericht, das dem Sender die Lizenz verlängerte.

Die überregionalen Fernsehanstalten werden vom Kreml kontrolliert. Ein grosser Teil der jungen Generation schaut jedoch kein Fernsehen mehr, sondern informiert sich über das Internet, das der Kreml nicht im Griff hat .

«Ich würde Putin wieder wählen»

Als ich Boris Osipov 2003 zum ersten Mal traf, glich er buchstäblich einem Obdachlosen. Das kleine Unternehmen, in dem Osipov bis heute angestellt ist, stand kurz vor dem Bankrott. Boris wirkte nervös und seine Kleider sahen ärmlich aus.
Während dieser Reise traf ich Boris Osipov erneut. Mit Stolz erzählte er, wie er eine Lohnerhöhung erhalten habe und sich jedes Jahr zwei Wochen Ferien in Litauen leisten könne. Allerdings beklagte sich Osipov über die steigenden Lebenskosten und machte dafür die Regierung verantwortlich. Dennoch: «Ich würde Putin wieder zum Präsidenten wählen. Denn Putin ist der Garant für Stabilität und Ordnung in Russland.» Gleichzeitig hat Osipov Angst vor einem neuen Krieg, den er selber aber nicht genau umschreiben kann. Zum Schluss unseres Gesprächs meinte Boris Osipov: «Das russische Volk hat Kriege und Hungersnöte überlebt. Wir haben deshalb auch die Kraft, uns neuen Herausforderungen zu stellen.»

Der 58-jährige Osipov gehört zu Putins Wählern. Sie würden, das bestätigt auch das vom Kreml unabhängige Meinungsforschungszentrum Lewada, eine Wiederwahl Putins unter freien und fairen Bedingungen garantieren.

Laut Verfassung sollte Präsident Putin 2024 zurücktreten. Wer aber wird sein Nachfolger? Weil es bis heute dazu nur Gerüchte gibt, beschäftigen sich viele Politologen und Journalisten mit dieser Frage. Das gilt auch für den bekannten Journalisten Valery Jakow, der von der «Russischen Journalisten Union» mit dem Preis der«Goldenen Feder» ausgezeichnet wurde. «Es ist möglich», so Yakow, «dass Putin formell zurücktreten aber seinen Nachfolger wie einen Stellvertreter kontrollieren wird».

Russland wird nicht zerfallen

Russland könnten aber auch schlimmere Zeiten bevorstehen. Yakow erinnert sich an Aussagen von Putins langjährigem Finanzminister Alexander Kudrin. Der Wirtschaftsexperte Kudrin befürchtet, Russland könnte Opfer einer «Stagnation» werden, die schlimmer als unter Leonid Breschnew ausfallen könnte. Unter «Stagnation» versteht man in Russland eine Periode, die jede Hoffnung auf Wandel und Reformen zunichte macht. Aber Russland werde nicht wie die Sowjetunion zerfallen.

Der Journalist und ehemalige Chefredaktor von Novie Iswestia Valery Jakow zitiert Nikolai Nekrassow (1821 – 1878), der sich schon damals die Frage gestellt hat, ob Russland je eine demokratische Zukunft haben werde: «Es tut mir leid, in dieser wunderschönen Epoche wirst weder Du noch ich am Leben sein.» Auch Yakow ist sich bewusst, das jahrhundertelang autoritär regierte Russland könne nicht morgen oder übermorgen eine Demokratie werden.

Unter Hausarrest

Valery Yakow ist heute Präsident und Gründer der Organisation «Stern des Theaters». Jedes Jahr werden im berühmten Moskauer Vachtangow Theater in einer festlichen Atmosphäre die besten Schauspieler und Regisseure ausgezeichnet. Die Zuschauer bestimmen selber, wer diese Preise erhält. Dabei können die Fans des russischen Theaters weltweit online abstimmen.
Mit einem Preis geehrt wurde dieses Jahr der weltberühmte Regisseur Kyrill Serebrennikow. Er ist Regisseur des musikalischen Spektakels «Nurjew». Serebrennikow konnte den Preis nicht entgegennehmen, weil er wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder vor Gericht und zur Zeit unter Hausarrest steht.

Mit einem Preis ausgezeichnet wurde auch der Regisseur Juri Butussow für seine Inszenierug von «Hamlet». Er bedankte sich beim Publikum mit einer Rede, in der er russische Bürokraten scharf kritisierte, die sich in die Welt des Theaters einmischten. Auf die Frage eines Regisseurs, ob Russland unter dem Einfluss der Wirtschaftssanktionen des Westens zu leiden habe, antwortete Butussow: «Es geht uns gut. Alle Theaterkarten sind bei uns immer ausverkauft.» Das Publikum reagierte mit einem Beifallssturm.

«Ein totalitäres Regime?»

Tatjana Vorozejkina lehrt an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die Politologin war aus gesundheitlichen Gründen verhindert, ein Gespräch zu führen. Statt dessen übermittelte Vorozejkina einen von ihr in der Zeitschrift Osteuropa publizierten Artikel (Heft 8- 9/ 2018), der auf ähnliche Fragen Antwort gibt:

«In den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelang es Russlands Gesellschaft und ihren Intellektuellen nicht, die Ursachen und grundlegenden Faktoren, die zum Zusammenbruch des letzten Imperiums auf dem europäischen Kontinent geführt hatten, ernsthaft aufzuarbeiten. Im Gegenteil, das irrationale Gefühl des Verlusts ging mit einem wachsenden Ressentiment einher, einer Mischung aus Gekränktheit und Neid…»

«Räume relativer Freiheit»

«Im heutigen Russland hat die Kontrolle ungeachtet der zunehmenden Repression und der ideologischen Gehirnwäsche durch das Staatsfernsehen auf keinen Fall totalitären Charakter. Es gibt immer noch Räume relativer Freiheit, auch wenn diese enger werden: In den Massenmedien, im Internet, in der Kultur und, in geringerem Masse, im Bildungswesen. Und weiterhin artikuliert sich, etwa auf der Strasse, auch offene Opposition gegen das Regime.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Roman Berger war 1991-2001 Moskau-Korrespondent des Zürcher Tages-Anzeigers und reist regelmässig nach Russland.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Umgang mit Putins Russland

Russland zwischen Europa, USA und China. Berechtigte Kritik und viele Vorurteile.

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2 Meinungen

  • am 31.12.2018 um 19:03 Uhr
    Permalink

    Ein bemerkenswert objektiver Artikel aus und über ein Land und dessen inzwischen jahrzehntelang aktiven Präsidenten PUTIN, die Beide von den westlichen Regierungen und den westlichen Massenmedien einheitlich «verteufelt», besser: verunglimpft werden! Und DAS, dieser eklatante Widerspruch zwischen Wahrheit und Feind-Propaganda muss doch eigentlich wenigstens einen triftigen Grund haben. Aber welcher könnte das sein? Eifersucht auf die grossartigen Fortschritte, die ausgerechnet dieses von besonders cleveren Staatsbürgern mit aktiver Hilfe westlicher Ratgeber ausgeraubte und sozusagen zum «Fallobst» für westliche Interessen gemachte und von dem «Teufel» Putin in knapp 20 Jahren zur militärisch führenden Weltmacht umgestaltet wurde? Die auch zur wirtschaftlich potenten Nation geworden ist, die völlig illegale Wirtschaftssanktionen des Empires und dessen Vasallen zur internen Kräftigung nutzt und gestärkt daraus hervorgeht?

    Nach Überzeugung westlicher Militärexperten hat Russland inzwischen die stärkste Armee mit den modernsten Angriffs- und Abwehr-Waffen. Ist das vielleicht der Hauptgrund für den westlichen Hass auf Russland und besonders auf «den klugen Schaffer» und Staatsmann Putin?

    Meine Schlussfrage: Wie lange wird auch der klügste Staatsmann noch tatenlos zusehen – können – , wie erklärte Feinde seines Landes Raketenstellungen entlang besonders der Westgrenze seines Landes einrichten – und die Vorwarnzeit für Kurzstreckenraketen NULL Minuten ist??

  • am 1.01.2019 um 14:43 Uhr
    Permalink

    Kompliment an Rolf Schmid. Abgesehen von ein, zwei Punkten, bin ich ganz ihrer Meinung. Vor allem der letzte Abschnitt entspricht haargenau meine Gedanken und lässt mich jedes mal erschauern.. ja wie stark ist wohl Putins Geduldsfaden?

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