«Russland endet nirgendwo»
psi. Dieses Interview erschien zuerst im oppositionellen russischen Online-Magazin «Meduza». Das journalistische Magazin wurde in Russland als «ausländische Agentin» verboten und publiziert auf Russisch und Englisch aus Lettland. Das Medium finanziert sich nach eigenen Angaben hauptsächlich mit Spenden. Wer die grössten Spender und Sponsoren sind, gibt Meduza «aus Sicherheitsgründen» nicht bekannt.
Der Soziologe Grigorij Judin unterrichtet Politische Philosophie an der Moscow School of Social and Economic Sciences. Er war einer der wenigen russischen Experten, die im Februar 2022 glaubten, dass eine militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine unvermeidlich sei. In einem Artikel, der nur zwei Tage vor der Invasion veröffentlicht wurde, sagte Judin voraus, dass in naher Zukunft ein grosser Krieg bevorstehe, dass die Russen dem Kreml folgen und dem Westen die Schuld geben würden und dass Sanktionen Putin nicht aufhalten würden – was alles eintraf. Im Februar 2023 sprach die Meduza-Sonderkorrespondentin Margarita Liutova mit Judin darüber, warum Putin einen «ewigen Krieg» braucht und was das Entstehen einer breiten Antikriegsbewegung in Russland gewährleisten könnte.
Es gibt eine weit verbreitete Ansicht über die gegenwärtige russische Politik. Sie besagt, dass Krieg für Putin ein endloser Prozess ist. Putin selbst schien diese Idee in seiner jüngsten Rede vor der Bundesversammlung zu bestätigen: Er sagte nichts darüber, wie Russland gewinnen wird und was danach passieren wird. Glauben Sie, dass Putins Plan wirklich ein ewiger Krieg ist?
Ja, natürlich, der Krieg ist jetzt ewig. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und zu seinem Ende führen. Er geht einfach weiter, weil die Gegner in Putins Vorstellung Feinde sind und sie uns töten wollen und wir sie töten wollen. Für Putin ist es eine existenzielle Auseinandersetzung mit einem Feind, der ihn vernichten will. Man sollte sich keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht enden. Er wird sich nur ausweiten. Die Grösse der russischen Armee nimmt rapide zu, die Wirtschaft wird auf Waffen umgestellt, und das Bildungswesen wird zu einem Propagandawerkzeug und zur Kriegsvorbereitung. Sie bereiten das Land auf einen langen und schwierigen Krieg vor.
Und dann ist es offensichtlich unmöglich für Putin zu gewinnen?
Es ist absolut unmöglich. Niemand hat ein Ziel für den Krieg festgelegt oder eine Definition des Sieges angeboten.
Können wir also davon ausgehen, dass es um die Erhaltung der Autorität von Wladimir Putin geht?
Das ist fast das Gleiche. Er betrachtet seine Herrschaft als ständigen Krieg. Putin und die Leute, die ihn umgeben, haben uns schon vor langer Zeit gesagt, dass es einen Krieg gegen uns gibt. Einige zogen es vor, ihre Worte nicht zu kennzeichnen, aber sie glauben ernsthaft, dass sie sich schon lange im Krieg befinden. Nur ist dieser Krieg jetzt in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offensichtlich keinen Ausweg mehr gibt. Der Krieg selbst ist in ihrer Weltanschauung normal. Hören Sie auf zu denken, dass Frieden der natürliche Zustand ist, und Sie werden die Situation mit deren Augen sehen. Wie die Gouverneurin von Chanty-Mansi [Natalja Komarowa] sagte: «Der Krieg ist ein Freund».
Am 22. Februar 2022 veröffentlichten Sie einen Artikel auf openDemocracy, in dem Sie einen bevorstehenden großen Krieg und Putins ablehnende Haltung gegenüber den Sanktionen beschrieben, die die westlichen Länder als Reaktion darauf verhängt haben. In der zweiten Hälfte des Artikels argumentierten Sie, dass «der Krieg mit der Ukraine der sinnloseste aller Kriege in unserer Geschichte sein wird». Glauben Sie, dass die russische Gesellschaft im letzten Jahr begonnen hat, dies zu begreifen?
Nein, meiner Meinung nach nicht. Vielen, vielen Menschen war es von Anfang an klar, aber seither ist diese Gruppe kaum gewachsen. Im heutigen Russland gibt es dieses starke Gefühl, und es ist eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Wladimir Putin mit einem bedeutenden Teil der Gesellschaft in Verbindung steht. Bei weitem nicht alle teilen seine wilden Theorien, aber er findet den Draht zu den Menschen. Noch wichtiger ist, dass er diese Emotion selbst erzeugt. Und diese Emotion ist Ressentiment – monströses, endloses Ressentiment. Nichts kann diesen Unmut besänftigen. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, was es kompensieren könnte. Es lässt die Menschen nicht daran denken, irgendeine Art von produktiven Beziehungen mit anderen Ländern aufzubauen.
Wissen Sie, es ist wie bei einem kleinen Kind, das zutiefst beleidigt ist und dann seine Mitmenschen verletzt. Der Schaden wird immer grösser, und irgendwann fängt es an, das Leben anderer und auch sein eigenes ernsthaft zu zerstören. Aber das Kind denkt nicht soweit; es denkt nicht daran, dass es irgendwie Beziehungen aufbauen muss.
Ich denke, dass die Ressentiments, die in letzter Zeit in Russland Überhand nehmen, auf einem sehr hohen Niveau unterstützt werden. Und wir haben noch nicht den Punkt erreicht, an dem jemand erkennen könnte, dass wir [Russen] normale, legitime Interessen haben. Aber wir können sie nur erreichen, indem wir auf die richtige Weise Beziehungen zu anderen Ländern aufbauen.
In Russland gibt es ein gutes Sprichwort: «Das Wasser wird auf den Schultern der Beleidigten getragen» [was in etwa bedeutet, dass ein Groll eine schwere Last ist]. Irgendwann werden wir verstehen, dass dieser Groll gegen uns arbeitet, dass wir uns damit selbst schaden. Aber im Moment wollen zu viele von uns beleidigt sein.
Gegen wen richtet sich der Groll Wladimir Putins und der russischen Gesellschaft? Gegen die ganze Welt? Den Westen? Die USA?
Putin und seine Anhängerschaft ärgert sich über eine Weltordnung, die ihnen ungerecht erscheint, und dementsprechend über denjenigen, der die Verantwortung dafür übernimmt, in dieser Weltordnung «überlegen» zu sein, also die Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich erinnere mich immer an etwas, das Putin Mitte 2021 sagte. Er sagte, völlig grundlos, dass es kein Glück im Leben gibt. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Führer, der die Menschen natürlich nicht in den Himmel bringen muss, sondern theoretisch ihr Leben verbessern sollte.
Aber es ist, als würde er sagen: «Es gibt kein Glück im Leben. Die Welt ist ein schlechter, ungerechter, schwieriger Ort, an dem die einzige Möglichkeit, zu existieren, darin besteht, ständig zu kämpfen, zu kämpfen und, an der äussersten Grenze, zu töten».
Die Ressentiments gegenüber der Aussenwelt sind in Russland tief verwurzelt und werden auf die USA projiziert, die für die Welt verantwortlich zu sein scheinen. Irgendwann haben die Vereinigten Staaten tatsächlich die Verantwortung für die Welt übernommen – nicht ganz erfolgreich. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich spreche, definitiv nicht nur in Russland existiert (wo es natürlich in einer katastrophalen, schrecklichen Form existiert).
Ein erheblicher Teil der Welt hat begründete Beschwerden über die derzeitige Weltordnung und gegen die USA. Sie haben die Verantwortung übernommen, sind zum Hegemon geworden und haben in vielerlei Hinsicht von der Weltordnung profitiert. Wir sehen, dass Teile der Welt, die von diesem Groll erfasst sind, Wladimir Putin gegenüber mehr Verständnis aufbringen.
Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt. Ganz einfach, weil Putin der Welt nichts bietet. Putin will die gleichen Dinge tun, für die er die Vereinigten Staaten kritisiert. Es ist also schwierig, ihn zu unterstützen. Aber viele wollen sich den Ressentiments anschliessen.
Ist das Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, in den Neunzigerjahren, verwurzelt? Oder wurde es unter Putin kultiviert?
Es gibt einige Gründe für Ressentiments in der russischen Gesellschaft. Sie hängen mit der Rolle zusammen, welche die USA und einige Teile Westeuropas übernommen haben. Ideologisch gesehen wurde [diese Rolle] im Sinne der Modernisierungstheorie gestaltet. Sie besagt, dass es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt und dass die entwickelten Länder – freundlich und unterstützend – die Entwicklungsländer lehren werden: «Leute, ihr solltet euch so und so einrichten. Im Allgemeinen mag es niemand, belehrt zu werden. Vor allem nicht ein grosses Land, das eine eigene imperiale Vergangenheit hat.
Die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, war in Wirklichkeit viel komplizierter. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde Russland eingeladen, einer ganzen Reihe wichtiger internationaler Clubs beizutreten, und Russland nahm Einfluss auf Entscheidungen in wichtigen globalen Fragen. Aber dieser lehrreiche Ton schwang immer mit. Er war das Ergebnis eines tiefgreifenden ideologischen Fehlers: Unter den Bedingungen des Zusammenbruchs des sozialistischen Projekts schien es nur einen richtigen Weg zu geben, das berühmte «Ende der Geschichte». Es gab also die Voraussetzungen für Ressentiments, aber auch für andere Emotionen.
Es gab auch viele konkurrierende Erzählungen über die Bedeutung des Zusammenbruchs der UdSSR für ihre Bürger. Eine davon besagt, dass es sich um eine Volksrevolution handelte, einen glorreichen Moment in der russischen Geschichte und in der Geschichte anderer Nationen, weil es den Russen gelang, die Kontrolle über ein verhasstes, tyrannisches Regime zu übernehmen. Diese Sichtweise führt natürlich nicht zu Ressentiments.
Aber Putin hat sich für Ressentiments entschieden. Wahrscheinlich zum Teil wegen seiner eigenen persönlichen Eigenschaften. Und Ressentiments sind ansteckend. Es ist ein bequemes Gefühl: Erstens fühlt man sich immer im Recht, und zweitens fühlt man sich unverdienterweise mit Füssen getreten.
Sie haben mehr als einmal gesagt, dass Putin auch nach der Ukraine nicht Halt machen wird. Womit rechnen Sie genau? Moldawien, die baltischen Staaten, einen selbstzerstörerischen Krieg mit den USA?
Seine Weltanschauung kennt keine Grenzen. Diese Formel ist praktisch zu einer offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Dies ist die Standarddefinition eines Imperiums, denn ein Imperium kennt keine Grenzen.
Ich erinnere an Putins Ultimatum an die USA und die NATO im Dezember 2021 – es ist glasklar. Es sagt im Klartext, dass ganz Osteuropa zu Wladimir Putins Einflussbereich gehört. Wie das aussehen wird, ob es einen formalen Verlust der Souveränität bedeutet oder nicht, ist doch völlig egal. Und zu dieser Zone gehört zweifelsohne Ostdeutschland, schon weil Putin persönliche Erinnerungen daran hat. Es fällt mir wirklich schwer, mir vorzustellen, dass er dieses Gebiet wirklich als nicht zu ihm gehörig betrachtet. Putin hat definitiv die Absicht, die Zone des Warschauer Pakts die ehemaligen Ostblockländer unter sowjetischem Einfluss wiederherzustellen.
Ich höre oft: «Das ist irrational. Es ist sinnlos. Das kann doch nicht sein!» Vor nicht allzu langer Zeit sagten die Leute genau dasselbe über die Ukraine. Noch vor kurzem sagte man dasselbe über die Republik Moldau, und jetzt hören wir, dass die Führungen der Republik Moldau, der Ukraine und der USA glauben, dass die Republik Moldau in grosser Gefahr ist. Wir haben bereits gesehen, dass Moldawien in den Plänen der aktuellen Militäroperation enthalten war; es ist nur noch nicht so weit.
Die allgemeine Strategie Russlands sieht in etwa so aus: Wir beissen ein Stück ab, dann wird dieses Stück als rechtmässig anerkannt, und in der nächsten Phase können wir uns auf der Grundlage dieser Anerkennung etwas anderes nehmen.
In der Logik dieser Strategie werden wir mit Hilfe einer Art Waffenstillstand ungefähr die Ostukraine abbeissen. Schon bald werden wir Stimmen aus Europa hören, die sagen: «Na ja, es war ja schließlich ihr Land. Alle waren sich einig, es ist in Ordnung.» Nun, Moment mal. Wenn es «ihr» Land ist – russisches Land – weil die Menschen dort Russisch sprechen, was ist dann mit Ost-Estland? Man könnte sagen: «Aber Estland ist doch in der NATO!» Aber wird die NATO für Estland kämpfen? Putin ist sich absolut sicher, dass die NATO zusammenbrechen wird, wenn die Haltbarkeit von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags [der Artikel, der die kollektive Verteidigung gewährleistet] im richtigen Moment getestet wird.
Um es klar zu sagen: Ich halte dies nicht für die wahrscheinlichste Möglichkeit. Ich beschreibe Putins Strategie, aber Putin regiert nicht die Welt. Er wird so viel bekommen, wie er bekommen darf. Aber ein solches Szenario ist nicht unvorstellbar.
Man kann sich leicht vorstellen, dass Putin und sein Team solche Ansichten am 24. Februar 2022 hatten. Aber ein Jahr ist vergangen, und der Westen ist nicht zusammengebrochen und unterstützt die Ukraine sogar in erheblichem Masse. Könnten die Ereignisse dieses Jahres, einschliesslich der Ergebnisse der russischen Militäraktion, die von Ihnen beschriebenen Wahrnehmungen beeinflusst haben?
Das könnte so sein, und das war auch der Fall. Das ganze Jahr hat Putin gezeigt, dass die Ukraine eine Schlüsselregion ist und dass der Westen genau von dort aus einen Angriff auf ihn plant, da der Westen sich der Ukraine bemächtigt hat. Abgesehen davon ist es aus Putins Sicht gut, dass die Probleme dieses Jahres vor dem eigentlichen Krieg, den die russische Führung für unvermeidlich hält, ans Licht kamen. Es wäre viel schlimmer nach ihrer Logik, eine solche Armee in einen zukünftigen grossen Krieg zu führen. Alles, was passiert, stärkt also Putin in seinen eigenen Augen.
Seit vielen Jahren haben sie diesen Krieg vorbereitet. Es wäre seltsam, wenn sie ihn mit nur einem Plan angehen würden. Putins Logik sieht so aus: «Ja, es hat nicht alles nach dem besten Szenario geklappt – kein Problem, wir machen weiter. Wir sind bereit, so viel Blut wie nötig zu vergiessen, und die anderen sind es nicht.»
Ich behaupte nicht, dass eine solche Taktik erfolgreich sein wird. Ich glaube sogar, dass Putins Logik ihn zur Niederlage verdammt und dass er unbewusst verlieren will. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor das passiert. Aber wenn wir Vorhersagen machen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Machthaber in Russland vorgehen.
Glauben Sie, dass irgendetwas Putin dazu bringen könnte, an seinen eigenen Vorstellungen von der Welt zu zweifeln?
Nein. Nichts.
Als wir vor dem Interview über das Thema dieses Gesprächs sprachen, kommentierten Sie den derzeitigen Zustand der russischen Gesellschaft, ihre Atomisierung und die Blockade kollektiven Handelns, und Sie merkten an, dass ein Gespräch wie dieses das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit verstärken kann, was Sie nicht wollten. Gibt es Möglichkeiten, mit der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Gefühl der Hilflosigkeit zu verstärken?
Wenn die wichtigste Emotion in Russland Ressentiments sind, dann ist der wichtigste Affekt, auf dem jetzt alles aufbaut, Angst. Es ist existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn einer bestimmten Person, Angst vor Krieg oder eine abstrakte Angst vor Chaos. Die Furcht wird durch die Hoffnung besiegt. Das ist der gegenteilige Effekt. Den Menschen muss Hoffnung gegeben werden. In diesem Sinne sind die absolut verständlichen, gut begründeten Vorwürfe gegen die Menschen in Russland politisch kurzsichtig. Nochmals: Sie sind verständlich, gut begründet und legitim, aber sie sind politisch kurzsichtig.
Die Frage ist, wie man den Menschen in dieser Situation Hoffnung geben kann. Hoffnung ist mit der Vorstellung verbunden, dass alles anders werden kann, dass Russland anders organisiert werden kann. Solange die Russen nicht erkennen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, ist die Motivation, auf solche Dinge zu hören, gering, weil sie beängstigend sind. Sie sind mit einer Infragestellung des Status quo verbunden. Und das ist bedrohlich genug, um die Menschen davon zu überzeugen, sich nicht zu engagieren.
In Russland ist jeder normative Diskurs im Keim erstickt worden. Es war lange Zeit schwierig, die Frage zu stellen, wie die Gesellschaft organisiert sein sollte, wie man es fair, ehrlich und gut machen kann. Vor ein paar Jahren antworteten die Befragten einer soziologischen Umfrage, die ich durchgeführt habe: «In Russland? Das gibt es nicht.» Das ist die Unterdrückung des normativen Diskurses, aber es wird unweigerlich eine Nachfrage danach geben, wenn die Menschen erkennen, dass sie in eine Sackgasse geraten sind. In dieser Situation ist es wichtig, dass die Menschen Hoffnung haben.
Sie haben den Diskurs dargelegt, der derzeit am häufigsten über die russische Kultur zu hören ist: dass sie imperial ist, dass sie eine Sklavenmentalität hervorgebracht und genährt hat…
Ich denke, dass die russische Kultur ein grosses imperiales Element enthält, und es ist an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch eines Imperiums ist ein guter Zeitpunkt, um das zu tun. Wird er die russische Kultur auslöschen? Nein. Vielleicht werden nicht einmal die Werke eines bestimmten Autors ausgelöscht. Kann man in den Werken eines bestimmten Autors imperiale Ideen finden? Das kann man, und das muss man. Warum muss man entweder alles ablehnen oder alles akzeptieren? Sie heiraten ja auch nicht irgendjemanden und legen ein Gelübde der bedingungslosen Liebe ab.
Die Kultur entwickelt sich, indem sie sich selbst überarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber die Kritik kann nicht in einer vollständigen Ablehnung bestehen. Die Kultur selbst liefert die Positionen, von denen aus sie kritisiert werden kann. Darin liegt nichts Herabsetzendes; es ist kein Problem, imperiale Ideen in der russischen Kultur zu sehen, sie zu isolieren und zu untersuchen, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen.
Können Sie ein Beispiel für ein Rezept für Weisheit und Hoffnung aus der russischen Kultur nennen?
Nun, der klassische Kritiker des Imperialismus in der Geschichte des politischen Denkens ist Wladimir Lenin. Es war Lenin, der in Bezug auf die Ukraine vom «grossrussischen Chauvinismus» sprach und den Imperialismus in anderen Ländern angriff. Heute beginnt das Studium des Imperialismus an den Universitäten in aller Welt mit Lenin.
Russland hat auch dem globalen politischen Denken die Fähigkeit verliehen, über den Staat hinaus zu denken: Michail Bakunin, Leo Tolstoi, Peter Kropotkin, und in gewisser Hinsicht auch Lenin. Die Liste liesse sich fortsetzen. Russland hat keinen einzigen bedeutenden staatsorientierten oder zentralistischen Denker hervorgebracht. Alle Ideen zur Zentralisierung in Russland sind importiert. Die Ideen über Freiheit, gegenseitige Hilfe und Würde laufen in die andere Richtung.
Was denken Sie über die Kluft zwischen jenen, die Russland verlassen haben, und jenen, die geblieben sind?
Ich habe den Eindruck, dass wir alle, und unser Land, in Schwierigkeiten stecken. Es wäre gut, wenn alle, die jetzt ausserhalb Russlands sind, darüber nachdenken würden, wie sie jenen helfen können, die in Russland sind. Und wenn jeder in Russland darüber nachdenken würde, wie er jenen helfen kann, die weit weg leiden. Wir werden es überstehen, aber wir können es nur gemeinsam überstehen. Nur gemeinsam.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Komisch, in der Realität ist es die NATO, die sich stetig ausdehnt. Auch bombt dieser Block sinnlos seit Jahrzehnten alles tot und kaputt was nicht seinen Erwartungen entspricht.
Menschenrechte, eine Farce hüben wie drüben.
Der Autor scheint dies auszublenden.
Kurz gesagt: der hat eine viel zu einseitige Sicht auf die Geschehnisse dieser Welt und sollte sich mal dringend über den Deep State in den USA informieren.
Ein wichtiges, beeindruckendes Interview. DANKE!
Das erscheint mir als billiges Konglomerat mikropolitischer Ansichten. Alles auf einzelne individuelle Politiker zurückführen zu wollen, abstrahiert m.E. von den sozio-politischen Realitäten der komplexen Entscheidfindung. Geopolitische Realitäten übersteigen individuelle Ansichten. So kann weder Biden die ex-komunistische Welt annullieren, noch Putin sein Imperium auf die ganze Welt ausweiten.
Etwas mehr Verständnis für geopoltische Realitäten würde auch hier gut tun.
Die permamente «Containment Poltik» der US – Cento (mit Iran und Pakistan), Anzus mit Australien und Neuseeland, weltweite Dominanz durch die «erweiterte Nato» (inkl. Japan, Süd-Korea, Australien…) — all das nach dem 1855 Krim Krieg, der Vernichtung der russischen Flotte 1905 vor Shimonoseki…dem Opium-Krieg >> all das hat System.
Alles auf «Putin» zurückführen wollen, zeugt von westlicher Myopie i.S. Geopolitik.
Man sollte dazu vielleicht noch diese früheren Artikel von IS lesen um die Situation noch etwas differenzierter betrachten zu können:
https://www.infosperber.ch/politik/die-nato-erhoeht-an-russlands-grenze-die-atomkrieg-gefahr/
https://www.infosperber.ch/politik/welt/wir-wollen-keine-dominierende-macht-werden/
Der Westen lässt auch nichts aus, um die Weltkriegsgefahr noch mehr anzuheizen.
«Air Defender 2023. Es wird die bis dato größte Luftoperationsübung seit Bestehen der NATO sein. Vom 12. bis 23. Juni 2023 werden unter der Führung der Luftwaffe Luftkriegsoperationen im europäischen Luftraum trainiert. 10.000 Übungsteilnehmerinnen und -teilnehmer aus 18 Nationen mit bis zu 210 Flugzeugen finden sich für dieses Ereignis in Europa zusammen.»
Hoffen wir, dass es bei der «Übung» bleibt. Auf jeden Fall bleibt der Luftraum während dieser Zeit gesperrt.
https://www.fliegermagazin.de/news/news-fuer-piloten-luftraumsperrungen-fuer-uebung-air-defender-2023-im-juni/
Ich kann die Ressentiments des Autors verstehen, aber von einem Soziologen erwarte ich doch eine objektivere und sachlichere Sicht des Weltgeschehens. Er versetzt sich in den Kopf Putins, aber wer weiss genau, was Putin denkt? Putin hat nie von solchen Plänen gesprochen. Was Putin in der Ukraine wollte, hat er erreicht: die paramilitärischen Neonazis (Azov et al.) aus dem Donbass vertreiben, weil sie während 8 Jahren die Russophonen im Donbass diskriminiert haben. Dann ging es ihm auch darum, die Ukraine zu entmilitarisieren, weil sie seit dem Maidan von den USA und Europa militärisch aufgerüstet wurde. Im März letzten Jahres war Russland bereit für Friedensgespräche, aber der Westen wollte nicht.
Die Einstufung als ‹Ausländischer Agent› bedeutet in Russland, dass eine Organisation einen großen Teil ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhält und sie sich in ihren Publikation als ‹Ausländischer Agent› kennzeichnen muss. Für Zuwiderhandlungen gibt es Geldstrafen. Es bedeutet jedoch nicht ein Verbot der Tätigkeit. Viele der ‹ausländischen Agenten› sind aber lieber ins Ausland abgewandert, als ihre Publikationen als die eines ausländischen Agenten zu kennzeichnen. Das war aber deren Entscheidung. Von Verbot, wie im Artikel geschrieben, kann also keine Rede sein.
Die USA haben das FARA Gesetz, nach dem man seine Finanzierung durch und Tätigkeit für ausländische Geldgeber registrieren und kennzeichnen muss, neben Geldstrafen sieht es auch Gefängnisstrafen vor.
Twitter hat ebenfalls eine Kennzeichnung von bestimmten Publikationen und Accounts eingeführt. Man sieht also hier wieder mal den Grundsatz des Westens, dass was er selbst macht andere nicht dürfen.
Danke für diesen analytisch hervorragenden Beitrag.