R2P zwischen Absturz und Erfolg
Es gehört zu den wichtigsten und vornehmsten Aufgaben des Staates, seine Bevölkerung in jeglicher Hinsicht zu schützen, vor allem auch vor Massengewalt wie ethnischen Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Kriegsverbrechen. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Doch was tun, wenn ein Staat dazu nicht in der Lage ist, diesen Schutz bewusst unterlässt oder gar aktiv an solchen Verbrechen beteiligt ist? Eine Antwort darauf hat die Uno 2005 gegeben: Rund zehn Jahre nach dem Genozid in Ruanda von 1994 wurde das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) ins Abschlussdokument des Uno-Weltgipfels aufgenommen. Danach kann die internationale Gemeinschaft eingreifen, allerdings nur mit Zustimmung des Uno-Sicherheitsrates.
Knapp zehn Jahre später fragen sich viele, was aus diesem hehren Konzept geworden ist, und ob es nicht vielmehr ein zweischneidiges Schwert ist. Zweischneidig und heikel ist es deswegen, weil es zentrale Normen des Völkerrechts tangiert: Das Prinzip der staatlichen Souveränität, das Gebot der Nichteinmischung sowie das zwischenstaatliche Gewaltverbot, gewissermassen die oberste Leitidee der Vereinten Nationen.
Nur: Die Schutzverantwortung ist (noch) keine Völkerrechtsnorm, sondern lediglich eine politische Verhaltensnorm. Es gibt, mit anderen Worten, keinen Eingriffsautomatismus und auch keine Eingriffslegitimation für einzelne Staaten oder eine Staatengruppe ohne Zustimmung des Uno-Sicherheitsrats. Das Vetorecht der USA, Russlands, Frankreichs, Grossbritanniens und Chinas sorgt dafür, dass ein Konsens schwierig zu finden ist.
Libyen: Schuss über das Ziel hinaus
Das ist ein Segen und ein Fluch zugleich: Ein Segen, weil keine leichtfertigen Interventionsbeschlüsse zustande kommen, ein Fluch, weil die R2P nie allein nach menschenrechtlichen Gesichtspunkten funktionieren wird und immer auch machtpolitische Überlegungen mit einfliessen. Mehr noch: Nationale und geostrategische Interessen dominieren wohl klar die humanitären Motive. Der Fall Syrien zeigt das auf beklemmende Weise. Die internationale Gemeinschaft ist nicht in der Lage, eine gemeinsame Strategie zur Deeskalation zu finden, nicht zuletzt deshalb, weil die syrischen Konfliktparteien die unterschiedlichen Interessen externer Mächte spiegeln.
Anders beim Bürgerkrieg in Libyen 2011: Dort hat der Uno-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone eingerichtet und die Mitgliedstaaten ermächtigt, «alle notwendigen Massnahmen zum Schutze der Bevölkerung» zu ergreifen. Dies war der erste Fall, in dem die Uno die Schutzverantwortung anwandte, um die staatliche Souveränität ausser Kraft zu setzen.
Der von Nato-Staaten geführte Militäreinsatz geriet jedoch in die Kritik, weil die Intervention nicht allein dem Schutz der Zivilbevölkerung galt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes weit über dieses Ziel hinausschoss: Die militärischen Mittel wurden zu einem Regimewechsel eingesetzt, was den Konflikt letztlich verlängerte und zusätzliche zivile Opfer forderte.
Diskreditiertes Instrument
Der westliche Interventionismus nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA war immer mit einer Doppelmoral unterlegt: Vorgeschobene humanitäre Gründe sollten notdürftig die geostrategischen Interessen verdecken. Es wurden und werden laufend völkerrechtswidrige Kriege und militärische «Operationen» durchgeführt, vom Irak-Krieg bis zu den Drohneneinsätzen in verschiedenen Weltgegenden. Wenn dann aber selbst die vom Uno-Sicherheitsrat legitimierten Militäreinsätze weit über den vorgegebenen Rahmen einer «Polizeiaktion» hinaus für weitergehende strategische Ziele eingesetzt werden, zum Beispiel eben für den Regimewechsel in Libyen, dann wird auch das Instrument der Schutzverantwortung an sich diskreditiert.
Responsibility while Protecting
Das hat auch der «German Marshall Fund» (GMF) erkannt, der sich für den transatlantischen Dialog zwischen den USA und Europa einsetzt. Eine grössere, von der Uno legitimierte Militärintervention sei wegen dieser Vorkommnisse in nächster Zukunft wohl nicht mehr möglich (Link siehe unten). Der GMF rät den USA und dessen europäischen Partnern, auf die Kritiker zuzugehen und dabei einen Vorschlag Brasiliens aufzunehmen. Brasilien stellte schon rasch nach der Libyen-Intervention eine Modifikation der R2P zur Debatte: Die RwP (Responsibility while Protecting) ist zwar noch wenig konkret, es geht aber vor allem darum, die Grenzen eines militärischen Einsatzes möglichst eng zu ziehen.
Die renommierte «Stiftung Wissenschaft und Politik» (SWP) in Berlin schreibt in einer Studie gar, dass dieser Ansatz Brasiliens bereits Früchte getragen habe (Link siehe unten). China und Russland seien von ihrer bisher skeptischen Haltung der R2P gegenüber abgewichen: «Inzwischen wird die Normsubstanz nur noch von Regimen wie Syrien kritisiert, die ihrer Schutzverantwortung nicht gerecht werden.» Strittig seien nur noch Auslegung und Anwendung der Norm.
R2P-Netzwerke in aller Welt
Die SWP ist ohnehin sehr optimistisch. Auf allen politischen Ebenen sei eine Institutionalisierung der R2P zu beobachten. Dabei geht es nicht etwa um militärische Interventionen, sondern um Prävention. Denn die militärische Intervention von aussen ist im R2P-Konzept ohnehin nur das allerletzte Mittel, wenn alle innerstaatlichen Massnahmen versagen. In vielen Staaten und Regionen der Welt entstehen R2P-Netzwerke: «Netzwerke ermöglichen den Austausch von Informationen darüber, wie Massengewalttaten entstehen. Ausserdem helfen sie dabei, Erfahrungen zu teilen, die den juristischen, politischen und gesellschaftlichen Umgang mit begangenen oder erlittenen Verbrechen betreffen.» Dabei sei es wichtig, in risikobehafteten Staaten und Gesellschaften alle Akteure einzubeziehen.
R2P-Erfolg in Kenia
Die SWP-Studie weist auf einen konkreten Erfolg durch Frühwarnsysteme und präventive Massnahmen hin: die Präsidentenwahl von 2013 in Kenia. Die befürchteten massiven gewaltsamen Ausschreitungen seien weitgehend ausgeblieben, weil im Rahmen von R2P frühzeitig international unterstützte Deeskalationsprojekte ihre Wirkung gezeigt hätten. Der Bericht «R2P in Practice: Ethnic Violence, Elections and Atrocity Prevention in Kenya» (Link siehe unten) zeigt eindrücklich, was langfristige Prävention in identitäts- und soziopolitisch stark gespaltenen Gesellschaften zu bewirken vermag.
Hier dürfte auch die Zukunft des Konzepts der Schutzverantwortung liegen. Und vor allem ist es wichtig, diese Massnahmen in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, statt R2P allein unter dem Aspekt der völkerrechtlich heiklen militärischen Intervention zu thematisieren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine