Peru: Eine kleine arrogante Elite regiert das Land
Red. Josef Estermann befindet sich auf einer vierwöchigen Reise durch die Andenländer Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Er trifft alte Bekannte, Orte und eine Gegenwart, die von Widersprüchen und ungelösten Konflikten geprägt ist. Estermann lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien.
Hinsichtlich der peruanischen Metropole scheiden sich die Geister. Inzwischen ist die ehemalige Hauptstadt des spanischen Vizekönigreichs zu einem Schmelztiegel der Bevölkerung Perus geworden. In der Kolonialzeit galt Lima als die «hermosa» (die Schöne), heute wird sie von vielen als die «horrible» (Schreckliche) bezeichnet. Dabei bezieht letztere Bezeichnung sich nicht nur auf das Chaos und die Armenviertel, die sich um die ehemalige Kolonialhauptstadt gelegt haben, sondern auch auf das Klima. Lima liegt buchstäblich in der Wüste. Errichtet wurde die Stadt im Delta des Flusses Rimac, der sich von den Anden in den Pazifik ergiesst und bis heute als Lebensader der Millionenstadt gilt, auch wenn er inzwischen eine übelriechende Kloake geworden ist. Die grünen Parkanlagen gaben der Stadt den Ruf, eine der schönsten aller spanischen Kolonialstädte zu sein.
Lima als Spiegel des Landes
Heute leben in Lima je nach Schätzung zwischen zehn und zwölf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Andenlandes. Dazu zählen aktuell rund eine Million Venezolanerinnen und Venezolaner, die aufgrund der Wirtschaftskrise in ihrem Land in andere Staaten Südamerikas gezogen sind; man redet denn auch von Lima als der viertgrössten venezolanischen Stadt.
Die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung von Lima aber machen all jene Menschen aus, die in den letzten fünfzig Jahren aufgrund der Gewalt zu Zeiten des internen Krieges (1980-1995) oder wegen mangelnder Perspektiven aus den Zentral- und Südanden hierhergezogen sind und sich an den Rändern der ehemaligen Kolonialstadt angesiedelt haben. Dieser auch als «Armutsgürtel» bezeichnete Ring befindet sich buchstäblich in der Wüste und dehnt sich immer weiter bis hin zu den trostlosen Hügeln rund um die Metropole aus.
In den wohlhabenderen Vierteln in der Nähe des Meeres lebt eine weisse und Mischlings-Bevölkerung, die zwar weitaus in der Minderzahl ist, aber nicht nur die Geschicke der gesamten Stadt, sondern auch des Landes über 500 Jahre bestimmt hat und es auch heute noch tut. Gerade die jüngsten Proteste gegen die Übergangsregierung von Dina Boluarte und den durch und durch korrupten Kongress haben das rassistische und arrogante Gesicht dieser Elite offenbart. Viele kennen die «Provinz» – wie der grosse Rest des Landes despektierlich genannt wird – nur vom Hörensagen.
Unsichtbare Apartheid
Diese unsichtbare «Apartheid» wird offensichtlich, wenn man die Stadt von West nach Ost, also von der Pazifikküste bis zu den Ausläufern der Anden durchquert, was je nach Verkehr durchaus drei bis vier Stunden dauern kann. In den gehobenen Vierteln von La Molina, Miraflores oder San Isidro wähnt man sich in Madrid oder London. Im historischen Zentrum mit dem Regierungssitz und Parlament herrschen unförmige Verwaltungsgebäude vor und stellen die Kolonialbauten und heruntergekommenen Häuser aus der spanischen Kolonialzeit immer mehr in den Schatten.
Und dann wird es zusehends staubiger und löchriger; überall liegt Abfall herum, streunende Hunde und fliegende Händlerinnen und Händler prägen das Strassenbild. Man hört Ketschua, die Menschen tragen ihre andinen Kleider. An den Stadträndern schliesslich fehlt es an Strom und fliessendem Wasser, die Häuser sind aus Strohmatten, die Strassen staubige Sandpisten.
Die jüngsten Unruhen haben aber jetzt nicht nur die grossen Ungleichheiten, sondern auch den immer schon vorhandenen Rassismus an die Oberfläche gespült und sichtbar gemacht. Was man bisweilen in den Zeitungen liest oder am Radio hört, lässt einem die Haare zu Berge stehen. Die Demonstrantinnen und Demonstranten in den südlichen Anden werden generell als «Terroristen» bezeichnet und auch als solche vor Gericht gezerrt. Viel schlimmer aber sind die rassistischen Äusserungen. Es ist die Rede von «Wilden», von «Ungeziefer», von «Barbaren» oder «Unzivilisierten». Im Taxi hört man nicht selten, dass man alle diese «Unruhestifter» an die Wand stellen sollte.
Dieser Rassismus, der sich jetzt ungefiltert Bahn bricht, ist das Erbe der Kolonialzeit, hat sich also in den letzen 500 Jahren entwickelt und manifestiert sich zum Teil sehr subtil in dauernden Erniedrigungen und Nadelstichen. So kann es sein, dass sich im Bus in Lima niemand neben eine Frau aus den Anden im Reifrock (pollera) setzt oder man die Nase rümpft, weil diese angeblich «stinke». Andererseits aber arbeiten diese Menschen aus dem Andenhochland als Haushaltarbeiterinnen in den «besseren» Familien der Oberschicht Limas, räumen den Abfall auf oder besorgen als Kuriere Pizzen oder teure Delikatessen. Sie sind geduldet, mehr aber auch nicht.
«Ort der Erinnerung»
Zur Zeit der politischen Gewalt durch den «Leuchtenden Pfad» (Sendero Luminoso), MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru), das Militär und bewaffnete Bürgerwachen, also zwischen 1980 und 1995, hat gerade die indigene Bevölkerung in den Zentral- und Südanden am meisten gelitten. Man schätzt, dass unter den rund 69’000 Opfern über 75 Prozent Indigene sind, die Ketschua sprechen und auf dem Land sowohl den Terrorgruppen als auch dem Militär schutzlos ausgeliefert waren.
In der Nähe des Ufers des Pazifiks, am Abhang der Metropole zum Strand, wurde nach dem Abschluss des Berichts der Wahrheits- und Versöhnungskommission 2015 eine Gedenkstätte für die Opfer dieser bleiernen Zeit in Peru errichtet, der «Ort der Erinnerung, der Toleranz und der sozialen Inklusion» (Lugar de la Memoria LUM). An diesem Ort erfährt man die Hintergründe für die Entstehung der anfangs als «Guerillas» agierenden Terrororganisationen, die ersten Anschläge, die Reaktionen von Politik und Militär, aber auch die hoffnungslose Lage der Landbevölkerung und der Menschen in den Armenvierteln von Lima.
Am eindrücklichsten sind die «Zeugnisse» von Überlebenden, von mutigen Organisationen und Einzelpersonen, die sich dem Terror entgegengestellt haben. Viele haben dies mit ihrem Leben bezahlt. Von über 25’000 Verschwundenen hat man bis heute keine Spur gefunden. Bis vor kurzem sind aber noch Massengräber entdeckt worden. Angehörige, die bisher nicht wussten, ob ihre Liebsten noch leben, können diese endlich begraben.
Der «Ort der Erinnerung» ist aber auch ein Mahnmal für die jetzige und die zukünftigen Generationen, dass nie wieder geschehe, was in den Zeiten des Terrors in Peru geschehen ist. Es sollte auch ein Aufruf sein, die unsichtbare Apartheid und den Rassismus zu überwinden, der gereade jetzt wieder erneut aufflammt und Peru in Atem hält.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
In Südamerika werden diese weitgehend im Zustand der Kolonialzeit verbliebenen Klassenverhältnisse leider immer noch vorsätzlich gepflegt, selbst von ausserhalb des Subkontinents.
Die Absetzung von Pedro Castillo wirft bei mir delikate Fragen auf. Insbesondere die einer möglichen Involvierung der USA, für die Castillo ein Dorn im Auge war (linker Politiker, Verteidiger nationaler und indigener Interessen, insb. in Sachen invasiver Aneignung natürlicher Ressourcen, usw.)
Zwei Tage vor dem Putsch gegen Präsident Castillo traf sich die US-Botschafterin mit dem Verteidigungsminister Gustavo Bobbio Rosas (der nur drei Tage im Amt war!). Derselbe, der am nächsten Tag das Militär anwies, sich gegen den Präsidenten zu stellen.
Lisa Kenna, die US-Botschafterin, stand neun Jahre lang direkt in den Diensten der CIA und hatte weitere vertrauliche Posten inne, die eng mit der CIA verbunden waren.
Sehenswertes Video auf Youtube: Warum Peru im Chaos versinkt https://youtu.be/-2oyXMAr-8Y
Ergänzend zu dieser Einschätzung hier noch ein Interview im Auftrag der spanischen Zeitung El Salto mit Pedro Castillo, das zunächst auf amerika21 und dann in den Nachdenkseiten in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden ist: https://www.nachdenkseiten.de/?p=9426
– Castillo, der sich auch in Haft immer noch als demokratisch legitimierten Präsidenten betrachtet, sagt: „Die USA arbeiten mit der EU zusammen, um uns zu unterdrücken“
Wenn auch nur ein Teil davon wahr ist, was ich nicht beurteilen kann aber auch nicht bezweifle, herrschen haarsträubende, absolut demokratiefeindliche, brutale, kolonialistisch anmutende Zustände in Peru, offenbar getragen durch eine transnational vernetzte wirtschaftliche Elite, welche die Schätze des Landes raubt. Eine üble Rolle scheint auch in Peru die Presse zu spielen.