Pekings Angst vor dem Demokratie-Virus
Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping hatte kurz nach Beginn der Wirtschaftsreform Anfang der 1980er-Jahre den Traum aller chinesischen Kaiser geträumt, den Traum vom vereinigten China. Dazu gehört unter anderem Hongkong. Die Finanz- und Wirtschaftsmetropole im Süden des Reichs der Mitte ist von besonderer nationaler Bedeutung. Die Briten eigneten sich 1842 nach dem ersten Opiumkrieg den «nackten Felsen», wie der britische Aussenminister Lord Palmerston Hongkong 1841 nannte, «auf alle Ewigkeit» an. Das Territorium wurde nach einem zweiten Opiumkrieg am Ende des 19. Jahrhunderts noch erweitert. Der Vertrag von 1842 und alle weiteren von den Imperialisten diktierten Abkommen gingen als «ungleiche Verträge» in die Geschichte ein. Als Mao am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China vom Tor des Himmlischen Friedens in Peking ausrief, war das «Jahrhundert der Schande und der Demütigungen» beendet.
Ein Land – zwei Systeme
Deng, ein glühender Bewunderer des Strategen Sun Tse, erdachte zur Rückkehr Hongkongs in den Schoss des Mutterlandes eine neue Formel, um die heute heftig gestritten wird: Ein Land – zwei Systeme. Der Hintergedanke dabei: Auch Macao, seit dem 16. Jahrhundert eine portugiesische Kolonie, sollte zurück ins Reich der Mitte geholt werden – vor allem aber der Inselnachbar Taiwan, für die Chinesen bis heute eine «abtrünnige Provinz». Hongkong und Macao sollten den Taiwanesen vor Augen führen, dass nach einer Wiedervereinigung mit dem Festland die demokratischen Institutionen beibehalten werden können.
Deng Xiaoping konnte Anfang der 1980er-Jahre die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher von seinem Konzept überzeugen, obwohl die «eiserne Lady» eine bekennende Nationalistin war, die knallhart verhandelte. 1984 wurde eine «Gemeinsame Erklärung» (Joint Declaration) verabschiedet, die Hongkong einen «hohen Grad an Autonomie» garantierte und die Rückgabe der britischen Kronkolonie an China auf 1997 festsetzte. Und es wurde ein Grundgesetz (Basic Law) ausgearbeitet, das Hongkong zur Sonderverwaltungs-Region erklärte.
«Demokratie durch die Hintertür»
Nach dem Prinzip «Ein Land – zwei Systeme» darf Hongkong fünfzig Jahre lang sein politisches, wirtschaftlich-kapitalistisches, soziales und rechtliches System beibehalten. Trotz dieser Sonderrechte bleibt Hongkong jedoch ein «integraler, unveräusserlicher Teil Chinas». Hongkong kann also bis 2047 nach dem britischen Rechtssystem regiert werden, geniesst weiterhin Presse-, Rede- sowie Versammlungsfreiheit und verfügt über eine eigene Währung. Von Demokratie war nie die Rede.
Der Grund ist einfach: Während über 150 Jahren gewährten die Briten der Bevölkerung der Kronkolonie keinerlei demokratische Mitsprache.
Erst der 28. und letzte Gouverneur Chris Patten führte, kaum im Amt, eine «Last-Minute-Demokratie» ein. «Demokratie durch die Hintertür», wie damals erboste Chinesen das Vorgehen interpretierten. Chris Patten wurde von der chinesischen Propaganda als Clown, Schwindler, ja sogar als «Hure des Orients» verunglimpft.
China-kritische Kandidaten unerwünscht
Der Blick zurück zeigt, warum heute, 17 Jahre nach der Rückkehr Hongkongs zum Mutterland, eine schwierige Debatte stattfindet. Es geht um die nächste Wahl des Regierungschefs der Sonderverwaltungs-Region im Jahr 2017. Bislang wählte ein Komitee aus Vertretern von Gewerbe, Wirtschaft, Handel und Finanzen den Regierungschef. Bei der letzten Wahl 2012 zählte das Wahlkomitee 1200 Mitglieder.
Für das Jahr 2017 hat Peking der ehemaligen Kronkolonie freie und demokratische Wahlen zugesichert. Erstmals soll dann das Volk den Regierungschef an der Urne wählen dürfen. Das ist soweit unbestritten. Doch: Wer darf Kandidat sein? Und wer nominiert die Kandidaten? – Diese Frage hat in den letzten Monaten für heftige Kontroversen gesorgt.
Peking will die Kontrolle über die Wahlen nicht aus der Hand geben. Anfang September hat der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses entschieden, dass ein «umfassend repräsentatives Nominierungskomitee» die Kandidaten bestimmen werde. Diese «müssen patriotisch sein und das Land lieben». Zwei, maximal drei Kandidaten werden dann dem Volk zur Wahl präsentiert.
«Unrealistische Erwartungen auslöschen»
Mit diesem Wahlmodus ist das demokratische Lager im Parlament (Legco) nicht einverstanden. Es will die Kandidaten basisdemokratisch selbst bestimmen. Unterstützung erhalten die Demokraten von der Protestbewegung «Occupy Central with Love and Peace». Nach westlichem Vorbild wollen Demonstranten das zentrale Finanz- und Wirtschaftszentrum Hongkongs mit Aktionen des zivilen Ungehorsams lahmlegen. Einer der Gründer der Occupy-Central-Bewegung, Benny Tai Ziu-ting, sprach von einer «neuen Ära des Widerstandes». Im Juli gingen Zehntausende auf die Strasse, um sich für ein faires, demokratisches Wahlverfahren einzusetzen. Gleiches verlangte auch ein inoffizielles Referendum, an dem sich rund 800’000 Hongkonger im Internet beteiligten.
Doch Peking hat seine Position klar geäussert: Ein «Weissbuch», das bereits Anfang Jahr veröffentlicht wurde, ruft die «umfassende Rechtshoheit» Chinas über Hongkong unmissverständlich in Erinnerung. Die in Peking erscheinende Tageszeitung «Global Times» – ein Ableger des zentralen Parteiblattes «Renmin Ribao» (Volkszeitung) – schrieb, die Hongkonger Demokraten hätten «unrealistische Erwartungen», die es «auszulöschen» gelte, wenn nötig «mit Zwangsmassnahmen».
Hongkongs Stabilität in Gefahr
Li Fei, Abgeordneter des Nationalen Volkskongresses in Peking und zuständig für Hongkong, sagte unlängst an einer Pressekonferenz in Hongkong, eine freie Nominierung von Kandidaten würde unweigerlich eine «chaotische Gesellschaft» schaffen und damit Harmonie, Stabilität sowie Wohlstand Hongkongs bedrohen. «Wenn wir nachgeben, weil einige Leute mit illegalen, radikalen Aktionen drohen, dann wird das mit noch mehr und noch grösseren illegalen Aktionen enden», warnte Li.
Die Kontroverse wird auch das Mini-Parlament Legco noch beschäftigen. Es ist, wie die renommierte «South China Morning Post» in einem Kommentar schreibt, eine Take-or-Leave-it-Situation. Das 70-köpfige Parlament hat nämlich nur eine Wahl: Pekings Regeln für die Wahlen anzunehmen oder sie abzulehnen. Zur Annahme braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Weil die demokratischen Parteien 27 Abgeordnete stellen, wird eine Annahme schwierig sein. Ein Nein zum Vorschlag Pekings würde aber bedeuten: Es bleibt alles beim Alten. Wie bereits in den Jahren zuvor wird auch 2017 ein Peking-treues Komitee den Verwaltungs- und Regierungschef wählen.
Wirtschaftliche Interessen schützen
Professor Wang Zhenmin, Hongkong-Berater der Pekinger Zentralregierung und Vorsteher der Rechtsfakultät der Pekinger Elite-Universität Tsinghua, spricht sich für den vorgeschlagenen Wahlmodus aus, denn: «Mehr ist weniger, weniger ist mehr.» Im Übrigen würden mit der Kandidatenauswahl durch ein Komitee die Interessen der kapitalistischen Klasse Hongkongs geschützt. Tatsächlich steht die kapitalistische Klasse wie ein Mann hinter Peking. Asiens reichster Mann Li Ka-shing, der Immobilien Magnat Lee Schau-kee und der Unternehmer Peter Woo haben sich gegen die demokratischen Parteien und «Occupy Central» ausgesprochen. Auch einige westliche Unternehmen und vier grosse Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften mit klingenden Namen äussern klar und deutlich ihre Ablehnung der demonstrierenden demokratischen Kräfte.
Seit den warnenden Worten Pekings hat die Unterstützung der «Occupy-Central-Bewegung» in der Bevölkerung merklich nachgelassen. Viele Bewohner und Bewohnerinnen Hongkongs haben offensichtlich ihren sprichwörtlichen Pragmatismus hervorgekehrt.
Ein Land – anderthalb Systeme
Wenn die Bevölkerung von Hongkong im Jahr 2017 einen neuen Regierungschef wählen darf, ist dies eine «freie Wahl mit chinesischen Besonderheiten». Das Prinzip «Ein Land – zwei Systeme» hat sich offensichtlich in den letzten 17 Jahren leicht verschlankt und zum Prinzip «Ein Land – anderthalb Systeme» entwickelt. Das ist nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut. Deng Xiaopings grosser Traum rückt damit in weite Ferne. Die Rückkehr nämlich der «abtrünnigen Provinz» Taiwan ins Reich der Mitte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in Peking.