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Vor der Abstimmung: Demonstration für die Unabhängigkeit © AJ

Neue Feinde stärken den inneren Zusammenhalt

Anina Jendreyko /  Das Referendum in Südkurdistan hat zu beeindruckenden Entwicklungen geführt. Ein Erlebnisbericht aus den letzten Tagen.

Niemand weiss, wie lange Grenzen und Flughäfen in Südkurdistan geschlossen bleiben. Schnell noch auszufliegen, ist keine einfache Entscheidung, wenn man viele Freunde und Freundinnen zurücklässt.

Mit 92 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 80 Prozent, haben die Kurden und Kurdinnen in Südkurdistan (Nordirak) für ihre Unabhängigkeit vom Irak gestimmt. Ein historischer Tag, der in allen Teilen Kurdistans mit grossem Jubel gefeiert wurde. In den Tagen vor dem Referendum wurde der Druck der umliegenden Regierungen (Irak, Türkei, Iran) auf Barzani, den Präsidenten der Kurdischen Regionalregierung, das Referendum zurückzuziehen, immer grösser.

Strasse in Dohuk vor der Abstimmung

Ich kam zwei Tage vor der Abstimmung in Südkurdistan an, der gesamte Flughafen ist mit kurdischen Fahnen beflaggt, aus den Lautsprechern tönt laut ein altes kurdisches Widerstandslied. Auf der Fahrt zum Hotel ein Fahnenmeer, wo man auch hinblickt, an fast jedem Hochhausgerippe – und davon gibt es unendlich viele – hängt eine überdimensional grosse Fahne. Dann taucht im kurdischen Fahnenmeer die israelische Fahne auf – beim ersten Mal denke ich, ich habe mich versehen – aber dem ist nicht so, die israelische Präsenz ist unübersehbar. Israel ist das einzige Land, das das Referendum begrüsst. Das hat wohl mit der Haltung Israels gegenüber den arabischen Ländern zu tun. An jeder Häuserwand und Mauer kleben Aufrufe, abstimmen zu gehen, die Menschen haben an ihren Autos Fahnen, tragen Kleider in den kurdischen Farben und jeden Abend finden Hupkonzerte und Feuerwerke statt.

Der Druck der irakischen, iranischen und türkischen Regierungen nimmt stündlich zu. Der irakische Ministerpräsident Haydar El Ebadi erklärte im Vorfeld, dass das Referendum gegen die Verfassung des Irak verstosse und nicht anerkannt werde. Der Iran und die Türkei verstärken ihre Truppenverbände an der Grenze, die verbalen Drohungen und Beschimpfungen werden immer lauter.

Bis zum Abstimmungsmorgen ist nicht klar, ob Barzani dem Druck standhält und die Abstimmung wirklich stattfindet. Die kurdischen Bewegungen aus den Nachbarländern – aus der Demokratischen Föderation Nordsyrien (seit einem Jahr die offizielle Bezeichnung für Rojava-Syrien) und Bakur (Türkei) – senden am Vorabend Grussbotschaften. Auch wenn es zum Teil Kritik am Referendum gibt, steht die kurdische Solidarität, die anzustrebende kurdische Einheit im Vordergrund.

Frage ich die Leute auf der Strasse und in den Cafés, erhalte ich überall die freudige und stolze Antwort: «Natürlich gehen wir morgen abstimmen, das ist unser Recht, auch wenn wir nicht wissen, wie es danach weitergeht.» Das weiss niemand. Auf meine Frage, ob man sich fürchtet, bekomme ich von Frauen und Männern, alt und jung, immer wieder die Antwort: «Wir haben schon so viel erlebt, Krieg, Giftgasangriffe, Vertreibung, als dass uns dies noch Angst bereiten könnte.» Ihre Haltung beeindruckt mich, grosses Selbstbewusstsein zeichnet die Stimmung in der Bevölkerung aus.

Abstimmung in Erbil (Fotos Anina Jendreyko u.a.)

Feinde werden Freunde

Wie schnell doch sind aus Feinden Freunde geworden. Die gleichen Nachbarn, die gestern noch im Streit lagen, haben sich nun zu einer trilateralen Front vereinigt: die Türkei, der Iran und der Irak. Der irakische Ministerpräsident ist plötzlich Ankaras Partner Nummer 1, der Streit um Mosul und Abadi scheint vergessen, die regionale Rivalität zwischen der Türkei und dem Iran beseitigt. Natürlich stellt sich die Frage, wie tragfähig diese Annäherung ist und ob daraus wirklich neue Allianzen entstehen, die über die unmittelbare Situation hinausreichen. In der Vergangenheit sind solche Allianzen immer wieder zerbrochen.

Iranische Waren dominieren den Markt in den Regionen nahe der iranischen Grenze (u.a. Süleymania), in der Nähe der türkischen Grenze (u.a. Dohuk, Erbil) sind es türkische Güter. Ankara arbeitet mit der KDP (Kurdische Demokratische Partei) zusammen und Teheran mit der PUK (Patriotische Union). Einflussnahme und wirtschaftliche Gebietsaufteilung sind Ausdruck eines labilen Gleichgewichts zwischen den beiden starken Nachbarstaaten.

Ein historischer Tag

Am Abstimmungstag liegt eine gespannte Ruhe über der Stadt, die Hitze tut das ihrige dazu, alle Geschäfte sind geschlossen, die Strassen leer. Nur vor den Abstimmungslokalen bilden sich schon frühmorgens die ersten Menschenschlangen. Abgestimmt wird von 9 Uhr bis 19 Uhr. 12’000 Urnen stehen in den Provinzen Erbil/Hewlêr, Duhok, Süleymaniye, Halepçe und Kirkuk bereit. Jeder Taxifahrer, mit dem ich von einem Abstimmungslokal zum anderen fahre, schüttelt mir die Hand und bedankt sich, dass ich an einem für die Kurden und Kurdinnen so historischen Tag dabei bin.

Clevere Werbung, für alle verständlich

Im Laufe des Tages werden die Menschenschlangen vor den Abstimmungslokalen immer länger. Alt und jung ist auf den Beinen, die Kinder werden mitgenommen, alle fotografieren sich gegenseitig, es ist ein historischer Tag, das ist an allen Ecken und Enden spürbar. Das Ereignis hat eine starke symbolische Ausstrahlung in alle vier Länderteile der kurdischen Region. «Es ist unser Recht, unabhängig zu sein», höre ich immer wieder, und der mit Druckerschwärze gefärbte Zeigefinger wird zum Zeichen des Stolzes. (Um einen Abstimmungszettel zu bekommen, muss man seinen Fingerabdruck neben seinen Namen setzen.)

Mir scheint, dass der zunehmende Druck der umliegenden Länder in den letzten Tagen noch viel mehr Menschen zur Stimmabgabe bewegt hat. Denn das Referendum wurde von vielen, vor allem auch jüngeren Leuten durchaus kritisch betrachtet. Es gab viele Stimmen, die fragten, wer Barzani berechtigt habe, das Referendum zu lancieren.

Südkurdistan ist seit zwei Jahren faktisch ohne funktionierende Regierung. Es gibt sehr ernsthafte politische, ökonomische und gesellschaftliche Probleme. Laut Verfassung kann ein Regierungschef nur zwei Amtsperioden durchlaufen, diese endeten für Barzani (Vorsitzender der KDP) vor zwei Jahren. In den letzten Jahren konzentrierten die KDP und die Barzanî-Familie alle Kompetenzen auf sich, ohne dass sie dazu vom Parlament oder der Bevölkerung legitimiert worden wären.

Die Goran-Bewegung (Goran bedeutet Erneuerung), wäre eigentlich in der Regierung. Sie wurde in den letzten beiden Jahren aus allen wichtigen Posten gedrängt. Der Einfluss der PUK (Patriotische Union Kurdistan), die Teil der Regierung ist, wurde gleichfalls stark eingeschränkt. Je unzufriedener die Menschen in den letzten Jahren wurden, desto mehr wurde die Opposition im Land verfolgt.

Der Barzanî-Clan ist nicht bereit, seine Macht abzugeben. Der gesunkene Ölpreis und der Krieg gegen den IS bewirkten eine wirtschaftliche Krise. Der KDP angehörenden Beamten, Polizisten und Militär wurden die Löhne nicht mehr bezahlt. Der Unmut in der Bevölkerung gegen Barzani und seinen Clan wurde immer lauter. Goran und PUK forderten Neuwahlen. So stellen verschiedene Leute die Frage, inwieweit das Referendum dem Machterhalt von Barzani diene, um einen Ausweg aus der Sackgasse, in der sie sich befindet, zu finden und die Opposition zum Schweigen zu bringen.

Um 19 Uhr werden die Wahllokale geschlossen und ein ohrenbetäubendes Hupkonzert, gepaart mit Freudeschüssen und Feuerwerk, legt sich über die Stadt. Die Strassen der Innenstadt sind völlig verstopft – und genauso wird auch in anderen Städten der kurdischen Gebiete gefeiert, nicht nur in Südkurdistan. In den Städten und Dörfern Nordsyriens, wie Qamshli, Derik, Kobane, Afrin feiern die Menschen, in vielen kurdischen Städten im Iran u.a. Merivan und Baneh gehen die Leute trotz Polizeidrohung ebenso zu Tausenden auf die Strasse und das gleiche gilt für die kurdischen Städte in der Türkei. Auch wenn das Wahlresultat erst 72 Stunden später bekannt gegeben wird.

Freudenfeier nach der Abstimmung

Die Drohungen der umliegenden Länder

Noch am Abstimmungstag stellt die irakische Regierung in Bagdad den Vertretern der kurdischen autonomen Region ein dreitägiges Ultimatum und fordert die Überantwortung der Hoheit über die Flughäfen und Grenzübergänge in Nordirak. Erbil weist diese Forderung zurück, woraufhin Bagdad ankündigt, alle internationalen Flüge nach Hewlêr /Erbil und Süleymaniye ab Freitag auszusetzen. Zwei türkische Fluggesellschaften annullieren daraufhin sofort ihre Flüge. Das irakische Parlament droht Truppen in die Ölregion Kirkuk zu entsenden, was einer Kriegserklärung an die Kurden und Kurdinnen gleichkäme.
Die Türkei und der Iran verstärken ihre Truppen an der Grenze. Beide drohen, die Grenzen zu schliessen. Die grössten Barzani nahen Fernsehstationen, u.a. Rudaw und Waar TV, werden von der Türkei geschlossen.

In Dohuk und Erbil beginnen die Leute Grosseinkäufe zu tätigen und Lebensmittel zu horten. Irakisch Kurdistan ist auf die Lebensmittelimporte aus der Türkei und dem Iran angewiesen. Erdogan droht nun die Ölimporte und den Warenhandel zu stoppen und macht sich über diese wirtschaftliche Abhängigkeit der Kurden von der Türkei lustig, indem er ihnen Hunger androht.

Kaum jemand befürchtet einen militärischen Angriff. Jeder der drei Staaten würde sich grosse Probleme im eigenen Land einhandeln. Im Iran leben 12 Millionen Kurden und bei einem Angriff würden viele von ihnen auf die Strasse gehen bzw. sich dem kurdischen Verteidigungskampf anschliessen, das hat sich in den letzten Tagen bereits gezeigt. Die Stärke der PKK in der Türkei ist nicht zu unterschätzen und bei einem militärischen Angriff auf den Süden würde sie die Kurden und Kurdinnen dort sofort unterstützen – das haben sie bereits angekündet. Die potentielle Ausdehnung der PKK in die südkurdische Gesellschaft verhinderten bisher die auf Verwandtschaftsbindungen basierenden Machtallianzen, aber das könnte sich bei einem Angriff auf die Verwaltung Barzanis schnell ändern.

Ebenso ist die türkische Armee nach der grossflächigen Säuberung nicht in bester Verfassung, es fehlt nicht nur an Piloten. Auch die irakische Armee ist sehr geschwächt.
Doch die Befürchtung, dass die Grenzen geschlossen werden, ist gross.

Die Abhängigkeit Südkurdistans von der Türkei und vom Iran ist enorm. Im Minutentakt passieren voll bepackte Lastwagen die Grenze in Silopi. Lebensmittel, Alltagsgebrauchsgegenstände, Wohnungseinrichtungen, Kleider, Medikamente, ja eigentlich alles, was man zum Leben braucht, wird aus der Türkei und dem Iran nach Südkurdistan importiert. In die entgegengesetzte Richtung (Türkei) fahren die Öltransporter.

Das in Südkurdistan gewonnene Öl wird über die Türkei in die Mittelmeerhäfen und so in die Welt transportiert. Das gesamte Ölgeld ist auf türkischen Banken. Kurzum, der grösste Teil der Wirtschaft Südkurdistans liegt in der Hand der beiden Nachbarländer.

Ankara hat einen 50-jährigen Öl-Deal mit der südkurdischen Regionalverwaltung (KRG) unterzeichnet, um Bagdad zu umgehen, einen Tag nach dem Referendum hat Erdogan versprochen, nur noch von der Zentralregierung in Bagdad Rohöl zu importieren. Aber der Handel, den die Türkei mit Südkurdistan treibt, kann die Türkei selber empfindlich treffen. Denn mehr als 4000 türkische Unternehmen sind in Südkurdistan tätig, und so hat auch der türkische Wirtschaftsminister vor vorschnellen Sanktionen gewarnt. Der Handel zwischen der Türkei und Südkurdistan beläuft sich auf 9 Milliarden US-Dollar.

Unabhängigkeit braucht …

Die südkurdische Regierung hat es in den letzten 20 Jahren versäumt, eine eigene Landwirtschaft und verarbeitende Industrie aufzubauen, obwohl es weder an Land, Wasser noch Geld mangelte. Es wurde fast ausschliesslich in die Ölförderung und die Bauindustrie investiert.

Ganz anders ist das in der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Dort wird die Landwirtschaft diversifiziert und eine handwerkliche Kleinindustrie aufgebaut. Der Ausbau der Bildung steht ganz oben auf der Prioritätenliste. Die Vertretung der Demokratischen Föderation Nordsyrien bietet der autonomen kurdischen Region im Falle eines Embargos ihre Unterstützung an. Der Co-Vorsitzende der PYD Salih Muslim erklärte, dass ihre Türen für Südkurdistan immer offen sein werden und dass sie die Bevölkerung von Südkurdistan im Falle eines Angriffs verteidigen würden.

Der Druck von aussen und das Gerücht, dass die Flughäfen schliessen, verstärkt sich. Ich stehe, wie viele andere ausländische Gäste, vor der Entscheidung, vorerst für unbestimmte Zeit zu bleiben oder mich schnellstmöglich um einen Rückflug zu bemühen. Nach wie vor kann niemand die Lage einschätzen.

Washington hat seine Truppen in Südkurdistan aufgestockt. Sie hatten Barzani ersucht, das Referendum erst nach den Wahlen vom 6. November abzuhalten. Allerdings werden die USA die kurdische Regionalregierung in Erbil / Hêwler wahrscheinlich weiterhin unterstützen. Der Kampf gegen den IS ist noch nicht ganz gewonnen.

Die Ausstrahlung in alle kurdischen Gebiete

Wohin die durch das Referendum ausgelöste Dynamik führt, bleibt abzuwarten. Dass Barzani sich dem Druck von aussen nicht gebeugt hat, hat eine starke symbolische Ausstrahlung in alle kurdischen Gebiete und stärkt sein Ansehen innerhalb der südkurdischen Bevölkerung, Er hat bekanntgegeben, bei den nächsten Wahlen nicht mehr zu kandidieren, doch er hat drei Söhne. Die Abstimmung, die nach innen und aussen die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Staates suggeriert, birgt in sich aber auch die Gefahr eines sich verstärkenden Nationalismus der, wie in jedem Land, einer demokratischen Entwicklung entgegen steht.

Weder in der Türkei noch in Nordsyrien/ Rojava ist das Ziel der kurdischen Bewegung, einen eigenen Staat zu schaffen, sondern vielmehr unter Einbezug der verschiedenen Ethnien und Glaubensrichtungen eine kommunale Unabhängigkeit – eine Art Föderalismus im bestehenden Staat – aufzubauen.

Deutlich ist, dass das Referendum die kurdische Bevölkerung, im Einstehen für ihre Unabhängigkeit, in allen Teilen Kurdistans und im Exil bestärkt hat. Die Stimmung im Land selbst ist auch in den Tagen danach von grossem Selbstbewusstsein geprägt.

Die Lage im Mittleren Osten ist höchst angespannt. Was in den kommenden Wochen und Monaten passiert, ist nicht einzuschätzen, es wird die gesamte Region beeinflussen. Die Kräfte für eine demokratischen Entwicklung sind vorhanden, das zeigt u.a. die Entwicklung in Nordsyrien. Die Entwicklung der kurdischen Bewegung, ihr Recht auf Unabhängigkeit, ist untrennbar mit dem Friedensprozess in der gesamten Region verbunden. Den Friedensprozess in der Region zu ermöglichen, dafür trägt aber auch der Westen Verantwortung

Ich steige ins Flugzeug Richtung Europa, kurz bevor der Flughafen geschlossen wird – entschlossen, wiederzukommen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Anina Jendreyko ist seit den 1990er Jahren immer wieder in den kurdischen Gebieten, mit Ausbildungsprojekten, Theater-Projekten, mit Menschenrechtsdelegationen und in letzter Zeit auch im Zusammenhang mit den Flüchtlingen aus Syrien. Von der Volksbühne Basel aus wurde zu Südkurdistan eine Kultur-Brücke initiiert.

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