AufhngerbildEcuadorProteste

Demonstrierende flüchten und schützen sich vor dem Einsatz der Polizei in Quito © Alejandro Ramirez Anderson

Mit offenen Augen im Tränengasnebel von Ecuador

Romano Paganini /  Bei den jüngsten Protesten im südamerikanischen Ecuador wurden auch Medienleute verletzt. Ein Erlebnisbericht.

Als Journalist habe ich den Anspruch, nah dran zu sein. Ich möchte sehen, hören, riechen und spüren, was vor Ort passiert. Nur so kann ich einschätzen, analysieren, Empathie erzeugen und Verständnis schaffen. Und darum geht es mir. Mein Körper verwandelt sich in diesen Momenten in eine Art Schwamm, der alles aufsaugt, um es danach durch Gedanken gefiltert niederzuschreiben. Die Leser und Leserinnen meiner Texte sollen nachvollziehen können, was ich gesehen, gehört und gespürt habe – und warum ich zu meinen Schlussfolgerungen komme.

Auf dem Fahrrad zu den Protesten

Das war im Fall der Proteste in Ecuador, die am Sonntag, 13. Oktober, nach zwölf Tagen zu Ende gingen, nicht anders. Für den ersten Protest-Samstag war geplant, die Ankunft der Indigenen in Quito zu dokumentieren. Doch entgegen unseren Informationen waren die noch gar nicht eingetroffen. Also fuhr ich mit meinem Fahrrad – Busse verkehrten keine – einfach weiter und landete spät abends in Latacunga, rund hundert Kilometer südlich der Hauptstadt Quito.

Dort hatte die Bevölkerung bereits mit der Mobilisierung begonnen. Sie sperrte alle paar Kilometer Autobahnen, Brücken und Mautstellen und liess nur jene Fahrzeuge passieren, die DemonstrantInnen oder Lebensmittel für die Demonstrierenden geladen hatten. Niemand im Land sollte sich motorisiert bewegen oder seine Produkte auf dem Markt verkaufen können, bis der Entscheid der Regierung rückgängig gemacht würde, die Subventionen auf Benzin und Diesel zu streichen.

Als ich zwei Tage später nach einer anstrengenden Rückfahrt – teilweise im Bauch von Camions, zusammen mit DemonstrantInnen – wieder in der Hauptstadt eintraf, war ich erschöpft. Mein Körper mochte nichts mehr aufnehmen, schon gar nicht den schwarzen Rauch verbrannter Autoreifen oder das weisse Tränengas aus den Pistolen der Polizei. Ich überliess das Feld meinen Kollegen und Kolleginnen. Sie waren es, welche die darauf folgenden Tage dokumentierten: mit Videos, Fotos und Audios.

Im Einsatz gegen das Schweigen der etablierten Medien

Als unabhängige JournalistInnen erachteten wir es als unsere Pflicht, täglich über die Proteste, die Gewalt und Repression in Quito zu berichten. Erstens war diese absolut unverhältnismässig und hinterliess mehrere Tote und Dutzende von Schwerverletzten. Zweitens fehlte die Berichterstattung der Massenmedien: Sie zelebrierten den Courant Normal und errichteten ein Konglomerat des Schweigens. Ein Schweigen, das wir zusammen mit anderen digitalen Medien teilweise brechen konnten – auch dank der Hilfe von zahlreichen Menschen, die die Situation vor Ort filmten und auf Facebook und andere soziale Plattformen luden.

Wir, die für die Informations-Plattform mutantia arbeiten, machten keinen Hehl daraus, dass wir die friedlichen Proteste von Anfang an unterstützten. Nicht, weil wir für die Subventionen von Treibstoffen sind, denn früher oder später werden wir das Erdöl im Boden lassen müssen, sondern weil uns die herrschenden Klassenunterschiede, die Prekarisierung der Arbeit und die Benachteiligung von Minderheiten seit Jahren und Jahrzehnten selber betreffen.

Das gilt nicht nur in Ecuador. Wir Journalisten befinden uns zwar nach wie vor in einer privilegierten Situation. Doch auch wir haben Mühe, uns im Alltag irgendwie über Wasser zu halten. Auf Grund der miserablen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, für die der Internationale Währungsfond (IWF) mitverantwortlich ist, sichern wir unsere Existenz über Auftragsarbeit und Gelegenheitsjobs.

Deshalb befanden wir uns nicht nur aus Dokumentationsgründen auf der Strasse, sondern auch aus Solidarität: mit den Indigenen, mit den Bauern und ArbeiterInnen, mit den StudentInnen und Hausfrauen sowie mit den Prekarisierten aus der Bananen-, Shrimps- und Palmöl-Industrie. Und wir solidarisierten uns nicht zuletzt mit den anderen freischaffenden Medienleuten, die von der Polizei niedergeknüppelt und verhaftet oder deren Homepages Opfer von Cyberattacken wurden. Auch deshalb stellten wir unsere Körper in die mit Tränengas getränkte Luft und riskierten, von Schrott-Einsätzen verletzt zu werden.

Gewalt und Tränengas am nationalen Streiktag

So war es auch am 9. Oktober 2019, dem nationalen Streiktag. Ich machte mich am späten Nachmittag auf zum Park El Arbolito, dort, wo sich die DemonstrantInnen eingerichtet hatten. Das war sozusagen der Mittelpunkt des Widerstands im Zentrum von Quito. Ich wollte mir ein Bild der Situation machen und zog meinen Schal übers Gesicht, um mich vor dem Tränengas zu schützen.

An der Front hatten die DemonstrantInnen eine Art Schutzwall aufgezogen, bestehend aus Karton, Steinen und ausgeklinkten Metalltüren. Von oben, dort wo das Parlament normalerweise tagt, schoss die Polizei Schrotmunition und Tränengas in Richtung Menge. Sie wartete stets ein paar Minuten und lancierte dann eine neue Salve. Die Demonstrierenden hatten sich inzwischen organisiert, um die Tränengasgeschosse entweder in einem mit Wasser gefüllten Plastikkübel zu ertränken oder, ausgerüstet mit Handschuhen, diese in Richtung Polizei zurück zu werfen.

Schutz gegen Tränengas: Maske, Essig und Eukalyptus. Bilder: mutantia

Als es dämmerte, intensivierte die Polizei ihre Attacken und begann, El Arbolito systematisch mit Gas zu beschiessen. Selbst die Ärzte und Medizin-StudentInnen, die als NothelferInnen an der Front wirkten, hatten sich inzwischen zurückgezogen. Der von der Zivilbevölkerung organisierte Kinderhort, wo die Demonstrierenden vom Land tagsüber ihren Nachwuchs abgeben konnten, war schon früher evakuiert worden.

Ich selber stand zu diesem Zeitpunkt am Rande von El Arbolito, hatte aber nicht realisiert, in welcher Gefahr ich mich befand. Von einer Minute zur anderen rannten etliche Demonstrierende direkt auf mich zu. Ich hörte das metallische Klicken eines Zauns. Kurz darauf waren wir eingekesselt. Einzelne der Demonstrierenden begannen über den wackligen Zaun zu klettern, der immerhin knapp drei Meter hoch war.

Als ich mich umdrehte, den Schal eng übers Gesicht gezogen, die Augen voller Tränen, sah ich, warum. Da standen mehrere Polizisten und Polizistinnen mit ihren Pferden, Schlagstöcken und Tränengas-Pistolen. Sie waren umgeben von Gas. Es herrschte eine bemerkenswerte Stille, die nur hin und wieder von einem Schrei oder einem Husten unterbrochen wurde.

Panik im Tränengasnebel

Ich rannte in Richtung Strasse und beging in Panik jenen Fehler, den man in solchen Situation vermeiden sollte: Ich atmete durch den Mund. Sofort brannte mein Rachen. Wie ein Feuer bahnte sich das Gas seinen Weg in Magen und Därme und liess meine Beine weich werden. Ich rannte und atmete, irgendwie, und hielt meine Augen geschlossen, so gut es ging.

Rund um mich herum befanden sich Dutzende in derselben Situation. Röchelnd schleppten wir uns aus der Gefahrenzone. Einzelne mussten sich übergeben. Andere hatten Essig und Bicarbonat dabei und leerten es sich in Augen- und Nasenhöhlen. Das linderte den Schmerz ein wenig.

Nach ein paar Minuten stand ich endlich beim Kreisel, der zu den Universitäten führt, die ein paar Minuten später angegriffen werden sollten – obwohl sie eigentlich Schutzzonen sind. Von weitem schon waren Polizisten auf Motorrädern zu sehen, und es war klar: Hier gab es nichts mehr zu demonstrieren. Der Polizei ging es nur noch darum, die Menschen zurückzudrängen, die Menge aufzulösen und die Demonstrierenden niederzuschlagen.

Der Tod im Park El Arbolito

Ich blickte noch einmal in Richtung El Arbolito, dort wo die Pferde standen und wo an diesem Abend Segundo Inocencio Tucumbi Vega vom staatlichen Sicherheitsapparat umgebracht werden sollte. Sein Kopf sei zertrümmert worden, liess der Bürgerbeauftragte tags darauf ausrichten. Das Innenministerium, das für die enorme Polizeigewalt während des Streiks verantwortlich war, sprach von einem Sturz. Andere Quellen meinten, er sei von den Pferden niedergetrampelt worden.

Der Sohn von Segundo Inocencio Tucumbi Vega hingegen, der ebenfalls vor Ort war, sagte, dass die Polizei ein Tränengas-Projektil auf den Kopf seines Vaters abgefeuert habe. Der 50-Jährige aus der Provinz Cotopaxi, also von dort, wo unsere Recherche begonnen hatte, ist einer von mindestens acht Menschen, die zwischen dem 2. und 13. Oktober im Rahmen der Proteste umgebracht wurden.

Als ich am nächsten Tag an seiner Beerdigung teilnahm, zusammen mit über 10’000 anderen Personen, wurde mir bewusst, dass ich tags zuvor Glück gehabt hatte – genauso wie unsere anderen MitarbeiterInnen, die während des Streiks an der Front waren und in einem Falle von einem Schrotteil am Finger getroffen wurden.

Von Schrotteilchen getroffen: Finger eines verletzten Journalisten des Informations-Mediums mutantia.

Mehrere DemonstrantInnen haben ein Auge verloren oder durch die Schrotsalven einen Knochen gebrochen. Und wie ich verspürten Dutzende andere Personen in den Tagen darauf Brechreiz und Appetitlosigkeit oder litten an Durchfall. Unsere Körper wurden mit Tränengas vergiftet. Wir sind erst langsam daran, uns davon zu erholen.

Unabhängige Medien werden immer wichtiger

Es wird Zeit brauchen, um alles aufzuarbeiten. Denn die massive Gewalt und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen, die inzwischen auch die UNO und die Interamerikanische Menschenrechtskommission auf den Plan riefen, haben auch unser Verständnis von Demokratie verletzt.

Das Gute ist, dass wir uns vergangene Woche zusammen mit mehreren Dutzend freischaffenden JournalistInnen, FotografInnen, ZeichnerInnen und anderen Kunstschaffenden in Quito getroffen haben, um das Geschehene gemeinsam aufzuarbeiten und Netzwerke zu schmieden. Denn diese werden angesichts des autoritären Vorgehens des ecuadorianischen Staats immer wichtiger.

Wenn eine Regierung von einem Tag auf den anderen die Subventionen auf jenem Rohstoff streicht, der unseren Alltag prägt – im Wissen, dass andere Präsidenten bei ähnlichen Versuchen bereits gescheitert sind –, scheint uns das nicht nur zynisch, sondern ein Akt von politischem Vandalismus zu sein. Und wenn sich die Massenmedien so verhalten, wie sie das meistens tun, wenn es ums Eingemachte geht, nämlich zu schweigen, dann wird die Berichterstattung kleiner, unabhängiger Medien je länger desto wichtiger.

Dieser hier leicht redigierte Bericht ist zuerst bei mutantia.ch erschienen.

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Video zum landesweiten Streik vom 10. Oktober


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor lebt in Lateinamerika und betreibt von dort aus unter anderem die Website mutantia.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Polizei1

Justiz, Polizei, Rechtsstaat

Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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