Mega-Staudämme sind «zu komplex und zerstörerisch»
Weltbank und Regierungen in den Industriestaaten haben jahrzehntelang den Bau von Staudamm-Grossprojekten in aller Welt unterstützt und auch heute sind Riesen-Staudämme weltweit im Bau oder in Planung. Die Wasserkraftwerke sollen Industriezentren aus entlegenen Gebieten mit Strom versorgen und die wirtschaftliche Entwicklung ankurbeln. Doch die Folgen der gigantischen Talsperren sind zum Teil verheerend: Meist verlieren Tausende von Menschen ihren Lebensraum und ihre Existenzgrundlage, intakte Ökosysteme werden grossflächig zerstört.
Die Erfahrungen mit den Mega-Dämmen haben die Euphorie über saubere Energie und sichere Wasserreserven gedämpft. Thayer Scudder, ein weltweit führender Experte und angesehener Berater für grosse Staudamm-Projekte, hat seine Meinung radikal geändert. In der «New York Times» äussert sich Scudder höchst kritisch zu den Mega-Staudämmen und ihren Folgen. «Die grossen Dämme sind ihr Geld nicht wert», sagt er. Solche Mega-Projekte seien «schlicht zu komplex und zu zerstörerisch für unsere unbezahlbaren natürlichen Resourcen».
Während 58 Jahren untersuchte Scudder die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Auswirkungen von Mega-Staudämmen. Dabei vertrat er lange Zeit die Ansicht, die grossen Wasserkraftwerke würden zur Linderung der Armut beitragen. Ihr Nutzen sei deshalb höher zu bewerten als allfällige negative Auswirkungen auf Mensch und Natur. Im Gespräch mit der «New York Times» beschreibt der mittlerweile 84-jährige Anthropologie-Professor wie er vom hoffnungsvollen Unterstützer von Wasserkraftprojekten zum überzeugten Staudamm-Gegner wurde.
Die Not der Vertriebenen
Scudders erstes Projekt stand im Zusammenhang mit dem Bau der Kariba-Talsperre des Sambesi entlang der Grenze von Simbabwe und Sambia im südlichen Afrika. Als der Kariba-Stausee Ende der 1950er-Jahre gefüllt wurde, mussten rund 57’000 Menschen ins karge Hinterland umgesiedelt werden. Scudder hat den sozialen und wirtschaftlichen Zerfall des vormals unabhängigen Tonga-Volkes mitverfolgt. Die meisten Tongas leben heute in Hunger und Armut und hängen am Tropf der Entwicklungshilfe.
Eine weitere grosse Enttäuschung erlebte Scudder als Berater beim Staudamm-Projekt Nam Theun 2 in Laos. Auch hier wurden rund 6000 Menschen umgesiedelt und hundertausende Anrainer des Flusses, die vorher vom Fischfang lebten, mussten sich eine neue Existenzgrundlage schaffen. Ein umfangreiches Programm sollte die sozialen und ökologischen Folgen des Projektes mildern. Die laotische Regierung verpflichtete sich, einen Teil der Einnahmen aus dem Stromexport für die Armutsbekämpfung einzusetzen. Erklärtes Ziel damals: Den betroffenen Menschen sollte es nach dem Bau des Staudamms deutlich besser gehen als zuvor.
Der Staudamm wurde 2010 fertiggestellt, die Programmziele blieben jedoch unerfüllt. Vor allem den Menschen an den Unterläufen des Dammes geht es heute schlechter, weil der Fischbestand markant zurückgegangen ist. Für die Zukunft sieht Scudder schwarz: «Die Regierung in Laos will in den nächsten 20 bis 30 Jahren 60 weitere Staudämme bauen, doch sie ist nicht einmal in der Lage mit den ökologischen und sozialen Auswirkungen eines einzigen Projekts fertigzuwerden.»
Seine Arbeit als Projektberater beurteilt Scudder rückblickend selbstkritisch. Nicht das Verbessern eines Staudammes sei seine wichtigste Leistung gewesen, sondern dessen Verhinderung. Scudder leitete 1992 eine Studie, die mit dazu beitrug einen Staudamm im Okavango-Delta in Botswana zu verhindern. Damit konnte ein einzigartiges Ökosystem gerettet werden, das zahlreiche seltene Tierarten beherbergt.
«Unrentabel und nicht sinnvoll»
In seiner Kritik an den gigantischen Talsperren sieht sich Scudder von anderen Wissenschaftlern bestätigt. Vor kurzem veröffentliche das Fachmagazin «Energy Policy» eine Oxford-Studie, die zum vernichtenden Schluss kommt: Die meisten Mega-Staudämme sind viel zu teuer, deshalb unrentabel und ökonomisch nicht sinnvoll.
Forscher der Oxford University und der Saïd Business School haben die Kosten-Daten von bereits fertig gebauten Mega-Dämmen analysiert. 245 Projekte aus 65 Ländern haben sie dabei unter die Lupe genommen mit Gesamtbaukosten in Höhe von 353 Milliarden US Dollar (auf Basis 2010). Die wichtigsten Erkenntnisse:
- Die meisten Dammprojekte werden bereits ohne Massnahmen für Mensch und Umwelt massiv teurer als geplant. Die tatsächlichen Baukosten waren im Durchschnitt fast doppelt so hoch wie ursprünglich budgetiert. Je grösser das Projekt, desto höher die Kostenüberschreitung.
- Im Durchschnitt beträgt die Bauzeit für Grossstaudamm-Projekte über 8 Jahre, oft aber mehr als 10 Jahre – 44 Prozent länger als geplant. Das ist so viel Zeit, dass grosse Staudämme keine Lösung sind bei akuter Energieknappheit.
- Schwellenländer tappen in die Schuldenfalle und gefährden ihre fragile Volkswirtschaft mit dem Bau von milliardenteuren Mega-Staudämmen. Erhoffte Gewinne aus dem Stromexport bleiben aus. Die Rückzahlung der Kredite verschlingt über Jahre enorme finanzielle Ressourcen – Geld, das in anderen Bereichen fehlt.
Damit kommen die Wissenschaftler der Oxford University zu ähnlichen Ergebnissen wie die letzte umfassende Analyse dieser Art – jene der Weltkommission für Staudämme WCD im Jahr 2000: Die Mehrzahl der bisher gebauten Mega-Staudämme haben die Erwartungen nicht erfüllt oder weitaus schädlichere Folgen als bei der Planung vorhergesehen.
Umstrittene Monster-Projekte
Trotz dieser vernichtenden Analyse boomt der Bau von Staudämmen weltweit. Aktuelle Beispiele für solche Mammutprojekte sind der Grand-Inga-Staudamm in der Demokratischen Republik Kongo, der Ilisu-Damm in der Türkei, der Staudamm Belo Monte in Brasilien und der Diamer-Basha-Damm am Indus im Norden von Pakistan. Die gigantischen Wasserkraftprojekte sollen den Ländern Wohlstand und Fortschritt bringen. Eine trügerische Hoffnung, wie bisherige Erfahrungen zeigen. Thayer Scudder warnt in der «New York Times»: «Viele der Projekte, die derzeit im Bau sind, werden katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, das Wirtschafts- und Sozialgefüge haben.»
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Übersetzung des als Quelle dienenden Artikels aus der «New York Times»: Uwe Böhm
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Mich wundert, dass ein Wissenschafter, der sich hauptberuflich mit den Auswirkungen von Mega-Staudämmen befasst, 58 Jahre braucht, bis er zur Einsicht gelangt, dass diese eine ökologische und soziale Katastrophe darstellen.
Die Auswirkungen des Dreischluchten-Staudamms in China, der im Infosperber-Artikel nur als Bild vorkommt, sind seit längerem bekannt. Ich habe nach einer China-Reise vor drei Jahren mich mit diesem Projekt befasst und dazu auch einen Text veröffentlicht, den ich hier gekürzt wiedergebe:
In Europa hat es vor dem Bau dieses Mega-Staudamms (1993-2006) wegen der ökologischen und sozialen Folgen dieses Monsterprojekts massive Proteste gegeben. Ähnliche Aktivitäten in China selbst wurden massiv unterdrückt. Wie beim anderen ähnlich grossen Stau-damm im ägyptischen Assuan, hat auch der Drei-Schluchten-Staudamm ursprünglich den sowjetischen Machbarkeitswahn zum Vater. Doch die weltweite Kritik und der Widerstand im eigenen Land konnten diesen Wahnsinn nicht verhindern.
Das Ziel des Dammes war erstens die Regulierung der periodisch auftretenden Hochwasser, zweitens die Stromerzeugung und drittens eine Verbesserung der Schifffahrt.
Der nun entstandene Stausee hat eine Länge von 670 Kilometer und die neben dem Stau-damm entstandenen Schiffsschleusen sind die grössten der Welt.
Die ökologische und soziale Bilanz des Projekts ist indessen katastrophal.
Die grossen Sedimentmengen (gegen 1,4 Millionen Tonnen pro Tag!) die der total 5’800 Kilometer lange Yangtze mit sich führt, können nicht mehr ins Meer abfliessen und bleiben im Stausee liegen. Drum sollen zwei weitere Dämme gebaut werden, von denen noch mehr schwere Eingriffe ins Ökosystem befürchtet werden. Zudem ist der Fluss als ehemalige Trinkwasserquelle unbrauchbar geworden, weil die von Fabriken eingeleiteten giftigen Abwässer nicht mehr ins Meer abfliessen. Bereits sind grosse Schlamm- und Geröllmengen von den Uferböschungen abgebrochen und in den Stausee gerutscht.
Eine durch einen grossen Erdrutsch ausgelöste Flutwelle hätte grauenhafte Konsequenzen: Ein Dammbruch hätte zur Folge, dass mehrere Millionenstädte von einer riesigen Welle überrollt und ganz Shanghai ins Meer hinaus gespült würde. Es wäre die grösste Katastrophe in der Geschichte der Menschheit. Das Risiko eines Dammbruchs ist durchaus nicht irreal: „Es ist schon heute bekannt, dass beim Bau des Dammes durch die in China alles beherrschende Korruption minderwertige Baumaterialien verwendet wurden; zudem ist die Region anfällig für Erdbeben. Bereits wurden Risse im Damm entdeckt…“ (Apa Guide China).
Ein Bruch des Yangtze-Staudamms wäre auch nicht der erste grosse Dammbruch in China mit katastrophalen Folgen: Am 8. August 1975 kamen beim Bruch von mehreren Staudämmen 231’000 Menschen um. Aber wer weiss das hierzulande schon?
Sind die unvorstellbaren Folgen einer Dammbruch-Katastrophe nur hypothetisch, so sind die sozialen, ökonomischen und soziokulturellen Folgen des Drei-Schluchten-Stausees real und irreversibel:
Elf Grossstädte, über 1’000 Dörfer, 4’000 Spitäler und Krankenstationen, 1’300 historische Tempel und archäologisch wertvolle Stätten, Tausende von Schulen und Hunderttausende von Wohnhäusern versanken unwiederbringlich in den Fluten, Flora und Fauna wurden zer-stört. Daneben gingen riesige Flächen fruchtbaren Ackerlands verloren. Zwei Millionen Menschen wurden „umgesiedelt“, von ihrem Land entwurzelt. In den geplanten Folgeprojekten sollen weitere ein bis vier Millionen Menschen (je nach Quelle) von ihrem Land und aus ihren Häusern vertrieben werden.
Schliesslich muss auch erwähnt werden, dass aus den versunkenen Städten, Dörfern und Friedhöfen nun Millionen von Tonnen Abfall an die Oberfläche gelangen, die den langen See zu einer Kloake verkommen lassen.
Angesichts der katastrophalen ökologischen und sozialen Bilanz des Drei-Schluchten-Damms sage ich hier ohne Hemmung, dass die 2011 durch einen Tsunami ausgelöste Katastrophe in Fukushima dagegen ein Klacks ist! Aber wer kennt hierzulande schon die un-vorstellbaren Folgen DIESER Katastrophe in China, um sich der verzerrten Dimensionen in der Öffentlichen Meinung im Zusammenhang mit der Atomausstiegsdiskussion bewusst zu werden?
Und wer weiss schon, dass in den chinesischen Kohlebergwerken, die das Material für die Hunderten von Kohlekraftwerken in China und anderen Ländern liefern, jährlich rund 20’000 Bergleute durch Unfälle oder schwere gesundheitliche Schäden (Staublunge usw.) ums Leben kommen?
Ich wage daher die Frage in den Raum zu stellen, ob die Stromproduktion in einem oder mehreren Atomkraftwerken statt mit Wasserkraft im Drei-Schluchten-Werk oder in Kohlekraftwerken nicht die ökologisch und sozial verträglichere und humanere Lösung gewesen wäre. Auf ein paar Atomkraftwerke mehr oder weniger käme es in China nämlich nicht an: 2011 waren im Reich der Mitte 26 (!) Atomkraftwerke im Bau, elf weitere sind zur Zeit (2012) geplant.
Wie gut, haben wir darum im Kampf gegen die weltweite Klimaerwärmung bei uns doch die Glühbirnen verboten!
Ihr Monolog in Ehren, Herr Fröhlich, aber was ist mit dem Hoover-Dam in USA? Er half doch die republikanische Rezession überwinden und wurde daher in der Weltwirtschaftskrise (ab 1929) vom Demokrat F.D.Roosevelt initiiert. Seine Erstellung hat den Aufstieg Kalifornien’s zur einzigartigen Wirtschaftsmacht erst ermöglicht etc.
Und der 285 m hohe Staudamm Grande Dixence in der Schweiz, in unwirtlichem Alpengebirge, hat der auch nichts gebracht?
Sie haben selbstverständlich Recht, sehr geehrter Herr Raess, wenn Sie erwähnen, dass Staudammprojekte wirtschaftliche Vorteile zeitigen. Das bestreite ich keineswegs! Mit meinem „Monolog“, der mit der Auflistung der ökologischen Folgen und Gefahren des Dreischluch-ten-Damms halt etwas lang geraten ist, wollte ich auf den argumentativen Widersinn in der aktuellen Energiedebatte aufmerksam machen: In den europäischen Alpen hat es bei Staudammbrüchen Tausende von Toten gegeben (Fréjus 1959 400 Tote / Longarone 1963 2000 Tote / Mattmark (Wallis) 1965 88 Tote). Trotzdem hat nie niemand den Ausstieg aus der Stromgewinnung durch Wasserkraft als einer „gefährlichen Technologie“ verlangt, wie das nach der Katastrophe von Fukushima der Fall war. Der Beschluss Deutschlands und der Schweiz, aus der Atomenergie auszusteigen, ist daher eine Hypokrisie par excellence mit dramatischen ökologischen Folgen: der den Atomstrom substituierende Strom aus Stein- und Braunkohlekraftwerken ist nicht nur für die Umwelt ein Problem (CO2-Ausstoss und Grundwasserabsenkungen), sondern auch für die Menschen in mehreren Hundert Dörfern, die für den Tagbau „abgebaggert“ worden und von der Landkarte verschwunden sind.