Maidan: Eine «echte Revolution» oder ein «illegaler Putsch»?
Für NZZ-Auslandredaktor Ulrich Schmid beginnt seine ganzseitige Erzählung über «Die blutige Geburt der modernen Ukraine» (so der Titel) wie folgt:
«So sehen echte Revolutionen aus. Barrikaden, Feuer, Nebel. Improvisierte Holzfestungen, turmhoch. Pneus, Zäune, rauchende Tonnen. Menschen in Tarnanzügen und Phantasieuniformen, mit Sturmhauben und Skibrillen, Schildern und Eisenstangen. Trommeln, Trompeten, Pauken. Bärtige Revolutionäre vor Zelten mit den Wimpeln solidarischer Städte der weiten Ukraine: Sumi, Cherson, Donezk, Odessa, Lwiw.»
Ganz anders lauteten die Titel auf Infosperber am 27. November:
«Ein Putsch und keine ‹Revolution in Würde›. Heute steht fest: Die USA und Faschisten haben den Machtwechsel in Kiew herbeigeführt. Manche Medien nehmen es nicht zur Kenntnis.»
Und am 7. Januar:
«Ohne die Hilfe der USA hätte es keinen Staatsstreich gegeben».
Diese Darstellungen kamen zum Schluss, dass wochenlange Demonstrationen gegen eine korrupte, aber demokratisch gewählte Regierung in einen gewaltsamen Putsch ausarteten, der von den USA aktiv unterstützt wurde und bei dem Rechtsextreme eine entscheidende Rolle spielten.
Ablehnung des EU-Handelsabkommens als Auslöser
Die Erzählung der NZZ:
«Unmittelbarer Auslöser des Aufstands ist die Weigerung der Regierung am 21. November 2013, das lange vorbereitete Assoziations- und Handelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen […] Faktisch aber beugt sich Kiew dem Druck Wladimir Putins, der bereits Wirtschaftssanktionen verhängt hat.»
Die andere Erzählung:
Reuters hatte von keinen verhängten Wirtschaftssanktionen berichtet. Dass sich Kiew dem Druck Putins gebeugt hat, ist eine Behauptung. Janukowitschs Regierung kam zum Schluss, dass das Abkommen unvorteilhaft sei. Erstens verbot die EU ein ähnliches Abkommen der Ukraine mit dem wirtschaftlich eng verbundenen Russland. Zweitens war die EU nicht bereit, aus der Ukraine genügend Getreide und Fleisch zu importieren.
Der damalige ukrainische Premierminister Nikolai Asarow erklärte nach dem Putsch: «Die ukrainische Seite war unzufrieden mit den im Abkommen festgehaltenen Ergebnissen zum Freihandel […] Und die Europäische Kommission machte die Unterzeichnung des Abkommens von der Freilassung Julia Timoschenkos abhängig.»
Im Einklang mit der ersten Erzählung der NZZ berichtete Patrik Baab am 27. November auf Infosperber:
«Die Empörung darüber, dass der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch das ausgehandelte EU-Assoziierungs-Abkommen nicht unterzeichnen wollte, war echt. Über ein Jahr lang hatte die Regierung den Menschen erklärt, dass Europa die einzige Perspektive sei, und plötzlich wurde diese Vision zunichtegemacht. Die Wut über Korruption und wirtschaftlichen Niedergang trieb viele proeuropäische Ukrainer auf den Maidan. Sie richtete sich insbesondere gegen die Familie Janukowitsch, deren masslose Bereicherung zum Ansehensverlust des Präsidenten und der hinter ihm stehenden Donbas-Oligarchen beigetragen hatte.»
Doch über die entscheidenden Tage des Putschs selber weicht Baabs andere Erzählung von der ersten ab: Die USA und proeuropäische Oligarchen nutzten die Empörung aus, bedienten sich faschistischer Kampfgruppen und verwirklichten das lange angepeilte Ziel eines «Regime Change».
«Ich war nie ein pro-russischer Politiker, wenn man ‹pro-russisch› so definiert, dass ich irgendwelche Vorgaben aus Russland umgesetzt habe. Heute sagt man, dass die, die jetzt an der Macht sind, ‹pro-westlich›-orientierte Politiker sind. Und die, die weggeräumt worden sind, hat man als ‹pro-russisch› dargestellt. Das ist grundfalsch.»
Damaliger Premierminister Nikolai Asarow
Die Erzählung der NZZ:
«Diverse Male versuchen Demonstranten, Regierungsgebäude zu stürmen, worauf Einheiten der Polizei-Spezialtruppe ‹Berkut› Gegenangriffe lancieren, bei denen Dutzende teilweise schwer verletzt werden.»
Die andere Erzählung berichtet, dass Demonstranten nicht nur versucht hätten, Regierungsgebäude zu stürmen, sondern mehrere Verwaltungsgebäude tatsächlich längere Zeit besetzt hielten. Darüber hatte damals auch die NZZ berichtet. Darauf schränkte das Parlament die Versammlungsfreiheit ein, was die meisten anderen Regierungen auch getan hätten. Doch die Anti-Demonstrations-Gesetze, die drakonische Strafen für «Unruhestifter» vorsahen, heizten die Stimmung unter den Protestierenden zusätzlich auf.
Der ukrainische Soziologe Wolodymyr Ischtschenko, der heute auch für das Osteuropa-Institut in Berlin arbeitet, kam zu folgendem Schluss: Bereits ab Januar seien die Rechtsextremen in die Offensive gegangen und hätten die Polizei mit Metallstangen, Baseballschlägern und Molotowcocktails angegriffen. Aus den geplünderten Militär- und Polizeidepots im Westen, vor allem in Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk, stammten «massive Mengen an Waffen, die später bei den Zusammenstössen mit der Polizei in Kiew zum Einsatz kamen».
Die Scharfschützen auf dem Maidan
Die Erzählung von Ulrich Schmid in der NZZ:
«Der eigentliche Sündenfall kommt am 20. Februar. Scharfschützen feuern von den Dächern auf Demonstranten: fast immer in die Augen, in die Halsschlagader und in den Nacken ihrer Opfer, in die einzige Lücke zwischen Helm und kugelsicherer Weste. Rund hundert Aktivisten werden getötet, in der Mehrzahl junge Männer […] Eine solide Mehrheit der Zeitgeschichtler nimmt an, die Mörder seien Schergen Janukowitschs gewesen.»
Und am 22. April 2022 schrieben die NZZ-Redaktoren Christian Weisflog und Ivo Mijnssen:
«Die Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition auf die Demonstranten. Rund 100 Personen werden getötet, knapp 1000 verletzt.»
Die andere Erzählung beschreibt Patrik Baab wie folgt: Anführer der Selbstverteidigungskomitees, bekannt als «Kommandant», war der Rechtsextremist Andrij Parubij, einer der Gründer von Swoboda. Als die Nacht hereinbrach, waren bereits 28 Menschen erschossen worden, darunter 10 Bereitschaftspolizisten. Der Schusswinkel führte zur Philharmonie, wo Parubij das Kommando hatte. Zwei Tage später eskalierte die Gewalt dramatisch. Mindestens 39 Demonstranten und 17 Polizisten wurden von Heckenschützen ermordet. Ihre Basis hatten sie im Hotel Ukraina und in anderen Gebäuden, die unter der Kontrolle von Parubijs Hundertschaften standen.
Im Gegensatz zur westlichen Version, der zufolge das Feuer von der Polizei eröffnet worden sei, kommt auch der ukrainisch sprechende Professor Ivan Katchanovski der kanadischen Universität Ottawa in einer detaillierten Analyse zu dem Ergebnis, dass «das Massaker eine Operation unter falscher Flagge war, die wohlüberlegt, geplant und ausgeführt wurde mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen und die Macht zu übernehmen […] Versteckte Schützen und ihre Spotter wurden in mindestens 20 vom Maidan kontrollierten Gebäuden beziehungsweise Bereichen festgestellt.»
Am 10. April 2014 berichtete die ARD-Sendung Monitor, wie die ukranischen Behörden eine Aufklärung behinderten.
Im Juli 2015 fand vor Gericht ein öffentlicher Prozess gegen zwei Berkut-Polizisten [der gestürzten Regierung] statt. Die ukrainische Staatsanwaltschaft warf ihnen vor, sie hätten am 20. Februar 2014 39 Demonstranten getötet. Der Prozess brach zusammen, als Zeugen aussagten, dass die Schüsse nicht aus Positionen der Berkut abgefeuert wurden, sondern aus Gebäuden, die von der Opposition besetzt waren. Auch das Kaliber stimmte mit deren Waffen überein.
Professor Katchanovski hat den Prozess mit vielen Zeugenaussagen genau verfolgt und schreibt in der 2023 aktualisierten Auflage seines Buches[1]:
«Die absolute Mehrheit der verwundeten Maidan-Demonstranten, fast 100 Zeugen der Anklage und der Verteidigung, synchronisierte Videos sowie medizinische und ballistische Untersuchungen von Regierungsexperten wiesen eindeutig darauf hin, dass die Maidan-Demonstranten von Scharfschützen in den vom Maidan kontrollierten Gebäuden massakriert wurden. Aufgrund der politischen Brisanz dieser Erkenntnisse und der Vertuschung wurde jedoch bis heute niemand für dieses Massaker verurteilt.»
[Weitere Informationen dazu hier]
Diese Zeugenaussagen vor dem ukrainischen Gericht und der Abbruch des Prozesses gegen zwei Berkut-Polizisten [der gestürzten Regierung] schienen die westlichen Medien nicht zu interessieren. Die Beweise entsprachen nicht der Erzählung der NATO, welche die NZZ noch heute verbreitet.
Ebenso wenig Echo erhielt das Urteil vom 18. Oktober 2023 des ukrainischen Sviatoshyn District Courts. Damalige Polizisten wurden freigesprochen. Auch ging daraus hervor, dass die ukrainischen Behörden die Untersuchungen behindert hatten. Siehe den Bericht auf Grayzone: «Ukrainian trial demonstrates 2014 Maidan massacre was false flag».
Zu falschen Schuldzuweisungen sollte es auch am 2. Mai 2014 kommen, als bei Demonstrationen in Odessa gegen den gewaltsamen Maidan-Putsch ein Gewerkschaftsgebäude angezündet wurde und mindestens 48 Menschen getötet wurden. Brandstifter seien Maidan-Gegner gewesen, berichteten westliche Medien. In Wahrheit waren es von der Regierung protegierte Rechtsradikale.
«Es war ein vom Westen gesponserter Putsch, es gibt kaum Zweifel daran.»
Ray McGovern, früherer CIA-Offizier
Die Erzählung der NZZ:
«Viele Medien berichteten einseitig, nicht selten befeuert von ideologischer Russlandnähe. Zwei Mythen dominierten: Der Maidan ist rechtsextrem und faschistisch, und der Maidan spiegelt die tiefe Spaltung des Landes.»
Die andere Erzählung sagt, dass wochenlange Demonstrationen gegen eine korrupte, aber demokratisch gewählte Regierung Mitte Februar in einen gewaltsamen Putsch ausarteten, der von den USA unterstützt wurde und bei dem Rechtsextreme eine entscheidende Rolle spielten.
Das riesige Land war stets aufgeteilt in einen wirtschaftlich und kulturell stark mit Russland verflochtenen Osten einschliesslich der Krim und einem westeuropäisch orientierten Westen. Das zeigte sich auch bei den Resultaten verschiedener Wahlen. Hier die Präsidenten-Stichwahl von 2010
Die Erzählung der NZZ:
«Beleidigend ist schliesslich die Behauptung, der Westen, vor allem Amerika, habe die Revolution ‹gemacht›. So kann nur reden, wer nicht vor Ort war. Die Annahme, dass es sich bei den Demonstranten um bezahlte, ‹gedrehte› Anhänger Janukowitschs gehandelt habe (seine Gegner hätte man ja nicht zu bezahlen brauchen), ist albern.»
Eine andere Erzählung sagt, dass die USA seit den Neunzigerjahren nach eigenen Angaben fünf Milliarden Dollar investiert hätten, um einen «Regime Change» zu unterstützen. Auf dem Maidan versammelten sich viele NGOs, die schon lange vom Westen finanziell unterstützt und ausgebildet wurden. Am 20. November 2013 erklärte der föderalistische Parlamentarier Oleg Tsarev im Parlament:
«Die US-Botschaft in Kiew hat ‹Tech Camps› unterstützt, an denen Spezialisten für die Informationskriegsführung und für die Diskreditierung staatlicher Institutionen mit Hilfe moderner Medien ausgebildet wurden – potenzielle Revolutionäre für die Organisation von Protesten und den Sturz der Regierung. Etwa 300 Personen wurden zu Agenten ausgebildet. Die letzte Konferenz fand am 14. November 2013 im Herzen von Kiew in der US-Botschaft statt!»
Dazu passte, dass westliche Politiker wie Victoria Nuland, damals Abteilungsleiterin im US-Aussenministerium, der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle, die damalige Sprecherin der Grünen für Osteuropa-Politik Marieluise Beck, US-Senator John McCain und die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton auf dem Maidan auftraten. Sie feuerten die Demonstranten an und sendeten so ein Signal westlicher Beteiligung und Unterstützung.
Dass der Westen die Gegner von Präsident Janukowitsch seit langem finanziell und logistisch unterstützte und an den entscheidenden Tagen des Putsches Unterstützung boten und rechtsnationale Kampftruppen für den «Regime Change» instrumentalisierte, ist nicht albern, sondern – laut der anderen Erzählung – eine Tatsache.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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FUSSNOTEN
[1] Katchanovski, Ivan: The «Snipers Massacre» on the Maidan in Ukraine. Paper, American Political Science Association annual meeting, San Francisco, 3.-6. September 2015: «This academic investigation concludes that the massacre was a faals flag operation, which was rationally planned and carrried out with a goal of the overthrow of the government and seizure of power. It found various evidence of the involvement of an alliance of the far righet organizations, specifically the Right Sector and Svoboda, and Oligarchic parties, such as Fatherland, concealed shooters and spotters were located in at least 20 Maidan-controlled buildings or areas.»
[2] Katchanovski, Ivan: The Maidan massacre in Ukraine: revelations from trials and investigations. In MR online vom 11. Dezember 2021. Und Hahn Gordon: The Ukrainian Revolutions’s Neo-Fascist Problem. In Fair Observer vom 23. September 2014.
Ein wiederum sehr genauer und informativer Artikel zum Thema Maidan. Es ist schon verwunderlich, wieso es nach allem was wir über die Außenpolitik der USA wissen, so schwer in die Köpfe hineingeht, dass hier in großem Maßstab gelenkt und manipuliert worden sein könnte. Wieso unterstellt man Putin mit leichter Hand die größten Coups aber nicht der Gegenseite USA, NATO, EU? So groß kann doch kein Balken und so klein kein Auge sein. Südvietnam (Ermordung von Ngô Đình Diệm), Cuba (Schweinebucht), Chile (Pinochet), Indonesien (Massenmord an Kommunisten), Foltergemeinschaft der südam. Diktaturen, Nicaragua (Contras) usw. usw. Man müsste eigentlich immer umgekehrt fragen, was GEGEN eine Beteiligung der USA spricht.
Ein sehr guter Artikel. Auch Jacques Baud berichtet in seinen Büchern über die üble Rolle des Westens während des Maidans. Wie lange die USA und die EU ihre Bürger, aber auch die Ukrainer, anlügen und über den Tisch ziehen können, ist fraglich. Ich denke, dass die Brics ein starkes Gegengewicht darstellen werden, die diesem Spiel ein Ende setzen könnten.
Kompliment zur Thematisierung dieser Fakten, die jenen, die aufmerksam zugeschaut haben und echte Analysen oder Journalismus machen, schon seit 2014 bekannt sind. Die Aussage, «die USA seit den Neunzigerjahren nach eigenen Angaben fünf Milliarden Dollar investiert hätten, um einen «Regime Change» zu unterstützen» stammt übrigens von Viktoria Nuland selbst, es gibt sie auf Video.