Gabriel Boric

Die SRF-Tagesschau berichtet über die Wahl von Gabriel Boric zum Präsidenten Chiles © SRF

Linker Wahlsieg in Chile und kurze Gedächtnisse in den Medien

Niklaus Ramseyer /  Schon 1970 wählte das Volk einen linken Präsidenten. Damals orchestrierten US-Agenten seinen Sturz. Es folgte Diktator Pinochet.

Die Medien hatten im Vorfeld ein «Kopf-an-Kopf-Rennen» vorausgesagt. Doch am Abend des 19. Dezember war das Resultat dann deutlich: Der Linke Gabriel Boric (35) hatte mit 56 Prozent der Stimmen die Wahl zum neuen Präsidenten Chiles klar gewonnen. Er werde sich «um die Bedürfnisse aller Menschen kümmern, nicht um die Privilegien einiger», versprach er in seiner ersten Rede nach der Wahl vor Hunderttausenden, die seinen (und ihren) Sieg in den Strassen Santiagos feierten.

SRF blendet Chiles «Gespenster der Vergangenheit» aus

Das Schweizer Fernsehen SRF berichtete über diese chilenische Überraschung am 20. Dezember in seiner Hauptausgabe der Tagesschau. Der ausführliche Bericht gipfelte in einem Interview mit einer deutschen Kommentatorin vor Ort. Sie wurde zu den Gründen der klaren Wahl Borics befragt und zu dessen Zielen. Sie sagte auch, dass der rechtsextreme Gegenspieler des neuen Präsidenten – ein Verehrer des früheren chilenischen Militärdiktators General Pinochet – seine Niederlage anerkannt habe. Und sie erwähnte in diesem Zusammenhang die «Gespenster der Vergangenheit».

Doch Moderator Franz Fischlin im Studio ging nicht darauf ein. Er stellte die Frage nicht, die sich aufdrängte: Fürchtet man sich in Chile nun wieder vor einem gewalttätigen Umsturz – wie schon 1970? Dabei sind die Parallelen zu damals offensichtlich: Wie nun Boric, so war auch der 1970 demokratisch zum Präsidenten Chiles gewählte Arzt Salvador Allende politisch aus der Studentenbewegung gekommen. Wie Boric nun wieder, so hatte auch Allende ab 1970 dafür sorgen wollen, dass die Erträge aus reichen Bodenschätzen des Landes (vor allem Kupfer) nicht nur einer dünnen, sich bereichernden Oberschicht zugute kommen, sondern der teils mausarmen breiten Bevölkerung. Nichts zu solchen historischen Parallelen jedoch in der SRF-Tagesschau.

Gewalttätige «Gespenster» geistern weiter durch die USA

Salvador Allende

Das Fernsehen SRF war damit nicht allein: Die historischen Parallelen zu 1970 fanden in den grossen Schweizer Medien von den Radiosendern über die Tamedia-Zeitungen bis zur NZZ so gut wie nicht statt. Die NZZ berichtete am 21. Dezember zwar etwa, Chile sei «die erfolgreichste Wirtschaft Lateinamerikas», oder deren Führungselite habe in jüngster Zeit nun schon wieder 50 Milliarden Dollars ihrer Profite ins Ausland geschafft – und Boric sei der «klar am weitesten links stehende Präsident seit dem Putsch gegen Salvador Allende 1973». Ausser diesem halben Satz jedoch kein Wort zu jenem Putsch und zu den «Gespenstern der Vergangenheit», die im Fernsehen immerhin angetönt wurden.

Warum haben grosse Medien über die historische Parallele so schmalbrüstig informiert? Es wäre eine Gelegenheit gewesen, die damaligen Verbrechen und die Rolle der USA in Erinnerung zu rufen. Denn Chiles «Gespenster der Vergangenheit» sassen 1973 teils in den USA – und sie geistern jetzt noch in Washington herum.

In der Gestalt eines Henry Kissinger etwa. Der Sicherheitsberater unter dem US-Präsidenten Richard Nixon und spätere US-Aussenminister hatte schon vor und besonders nach der demokratischen Wahl Allendes 1970 die Destabilisierung des Landes Chile und den gewalttätigen blutigen Sturz seines linken Präsidenten aktiv mit Geld und über US-Geheimdienste wie die CIA vor Ort orchestriert und vorbereitet. Der faktenbasierte Film «Missing» von Costa Gavras deckte schon 1982 die Verwicklungen der USA in diesen Putsch eindrücklich auf.

USA mitverantwortlich für zehntausende Ermordete in Chile

Nach der Machtübernahme des brutalen Militärdiktators General Augusto Pinochet am 11. September 1973 hat Kissinger von Washington aus dessen blutige Gewaltherrschaft stets unterstützt. Er und die US-Geheimdienste sind mitverantwortlich für die über 100’000 Eingekerkerten während Pinochets Militärdiktatur von 1973 bis 1990. Mitverantwortlich für Zehntausende von Opfern chilenischer Folterknechte (die ihr grässliches Handwerk teils bei «Kollegen» aus den USA gelernt hatten) und für viele tausend grausam Ermordete, die durch Pinochets Häscher entführt und hingerichtet wurden. 

Die neuen, rechten Machthaber in Santiago foutierten sich um «die Bedürfnisse aller Menschen» in Chile (Boric) und vertraten die Privilegien einiger weniger – auch die Interessen fremder Investoren vorab aus den USA. 

Demokratie und Menschenrechte nur, wenn es der US-Regierung nützt

Je mehr Dokumente und Untersuchungen über diese übergriffigen und gewaltsamen US-Einmischungen ans Tageslicht kamen und kommen, desto mehr wird klar: Demokratie und Menschenrechte interessieren die Machthaber in Washington nur, wenn dies den USA nützt. So haben US-Geheimdienste zur Zeit Kissingers auch die mörderischen Militärmachthaber in Argentinien unter General Jorge Rafael Videla von 1976 bis 1984 aktiv und passiv unterstützt. Auch hier wurden zehntausende Männer, Frauen und Kinder gefoltert und grausam ermordet (teils gar lebendig aus Flugzeugen und Helikoptern ins Meer geworfen). Die Aufarbeitung dieser Schreckenszeit von US-Gnaden ist in Argentinien noch nicht abgeschlossen. Das ORF hat jetzt gerade wieder eine eindrückliche Dokumentation («Vorherige Sendung») darüber publiziert – unter dem Titel «Mein Vater, der Täter». 

Der Helfer grausamer Diktatoren namens Henry Kissinger wird seiner heimlichen Übeltaten wegen inzwischen nicht nur in Lateinamerika als mutmasslicher Kriegsverbrecher bezeichnet, sondern (gemäss Wikipedia) teils sogar in Washington selber. Vor Gericht verantworten, wie ähnliche Täter aus Ex-Jugoslawien oder aus Afrika (Ruanda), musste er sich bisher dennoch nicht. Er meidet inzwischen Auslandreisen möglichst. Und wenn schon, lässt er zuvor durch seine Anwälte abklären, ob er riskieren müsse, gleich am Ankunftsflughafen festgenommen zu werden. 

Unglaubwürdige Demokratie-Offensive der USA

Diese Fakten wurden auch bei der jüngsten Offensive der US-Regierung «für Demokratie und Menschenrechte» (Summit for Democracy) nicht thematisiert. Das Magazin Time hat es getan: «Joe Biden’s Democracy Summit Is the Height of Hypocrisy». Es fiel auch auf, dass sich diese aktuelle Initiative einseitig gegen Russland und China richtet. Denn krasse Demokratiedefizite oder inexistente Frauenrechte in Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern oder die Diktatur im verbündeten Ägypten waren ebenso wenig ein Thema wie permanente Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee im illegal besetzten Palästina. Über solche Ungereimtheiten informierten die meisten westlichen Medien nicht, sondern jubelten den einseitigen «Demokratie-Gipfel» des US-Präsidenten hoch. Deshalb scheuten sie sich wohl, nun nach der Wahl von Chiles neuem, linkem Präsidenten gleich an die gewalttätigen Umtriebe der US-Regierungen gegen Demokratien in Lateinamerika zu erinnern.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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9 Meinungen

  • am 28.12.2021 um 11:24 Uhr
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    Perfekt auf den Punkt gebracht, bleiben sie dran!
    Danke.

    Und wer noch zweifelt lese «Die scheinheilige Supermacht» von Michael Lüders.

    • am 28.12.2021 um 22:18 Uhr
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      ….und/oder «Die Weltbeherrscher» von Armin Wertz. (Westend-Verlag)

  • am 28.12.2021 um 12:18 Uhr
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    Dank an Niklaus Ramseyer für diese Zeilen, die uns vor dem Vergessen – und Verdrängen – der amerikanischen Hegemonialdemokratie am Beispiel Chile schützen. Nicht als Kritik, aber als Ergänzung zu verstehen: Die Schweiz, wie die meisten anderen Gefolgsstaaten der USA in Europa, machte sich mitschuldig an der humanitären Katastrophe Chiles, indem Flüchtlinge aus dem «roten» Land damals tunlichst abgewehrt werden sollten. Nur der Freiplatzaktion und heutzutage kaum vorstellbaren Protesten breiter Bevölkerungskreise ist es zu verdanken, dass schliesslich doch noch mehr als die vom Bundesrat als reines Alibi erlaubten 200 Einreisen möglich wurden. Die Geschichte wiederholt sich seither regelmässig. Immer dann, wenn die USA sich auf die Monroe-Doktrin abstützend wieder einmal bedroht fühlen und daher die internationale Gemeinschaft zum Schutz der US-Interessen eingespannt werden muss. Tendenz seit 1990 zunehmend. Die Konsequenzen sind ausnahmslos katastrophal und zwar zuallererst für die «geschützten» Länder und ihre Bevölkerungen, aber stets auch für die Mittäter-Länder, wie unschwer etwa am Ukraine-Konflikt abzulesen ist. Den USA die Rohstoffe und die geopolitische Vorherrschaft, dem Rest der Welt, meistens Europa, die Flüchtlinge, die Wiederaufbaukosten und die Schande. Und zum Dank kaufen wir den USA auch gleich noch deren Kampfjets ab.

  • am 28.12.2021 um 13:07 Uhr
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    GottseiDank hat das chilenische Volk bei der Stichwahl doch noch Gabriel Boric zu einem Wahlsieg verholfen.
    Nachdem Boric aber im Parlament keine Mehrheit haben wird, können wir gespannt sein, wie lange es dauern wird, bis er heftigen Gegenwind bekommt und die neoliberalen Kräfte und die geheimdienstlichen Aktivitäten der US ihm das Regieren immer schwerer machen werden. Wird sich Geschichte wiederholen? Bisher haben es die USA noch nie zugelassen, dass ein sozialistischer Staat seine Rohstoffe verstaatlicht hat. Und solche hat Chile, vor allem im Hinblick auf Kupfer und Lithium, reichlich. Wird endlich einmal das Volk davon profitieren?

    • am 30.12.2021 um 21:10 Uhr
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      An Gott wird es nicht gelegen haben, aber auf alle Fälle wird am Sturz von G. Boric schon «gearbeitet».
      Wer schon etwas älter ist und sich für die Probleme der Welt interessiert, dem ist das nun folgende Prozedere vertraut. Jedes mal, wenn sich in der Welt ein Land für eine etwas linke Richtung endscheidet ist sich der Westen in seiner verbrecherischen Politik einig.
      Diesem Land wird gemeinsam mit Sanktion und Embargo die Existenz fast unmöglich gemacht.
      Von Kuba, Korea, Iran, Venezuela und nicht zu vergessen die DDR betrifft und betraf das alle.
      Ja ich weiß, die DDR blablabla usw.
      So soll und wird der Bevölkerung die Unfähigkeit des bestehenden Systems suggeriert.
      Mit China funktioniert es nicht mehr.
      Länder wie Niederlande, Belgien und auch die Schweiz würden gewaltig am Schirm hängen, unter solchen Bedingungen.
      Unter S. Allende fiel der Kupferweltmarktpreis, gesteuert von den USA, ins bodenlose.
      Kupfer war damals die Haupteinnahmequelle Chiles.
      Gegen Pinochet gab es kein Embargo, sondern beste Beziehungen, denn es lebten ja noch einige Nazigrößen unbehelligt in Chile.
      Zum Beispiel der Vater von Antonio Kast, der Kandidat der «Rechten».
      Übrigens, die Veröffentlichung mit Vollnamen und Wohnort ist nicht ok, denn im Netz werden alle Meinungen registriert und gesammelt. Manche glauben , das gibt´s nur in China oder Russland.

  • am 28.12.2021 um 13:41 Uhr
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    Ein nötiger Bericht, Herr Ramseyer: Danke. Für mich bestätigen Ihre Feststellungen das, was ich schon immer sage: unsere Schweizer Medien sind von der CIA resp. deren Handlangern gesteuert. Ich erlebte das hautnah in meiner bisherigen Zeitung 24-Heures. Da erschien letzthin ein Bericht über Afghanistan: kein Wort über die Aggression der USA, dafür wurden die bösen Taliban angeklagt.
    Bei uns weiss kaum jemand, dass die religiösen Fanatiker Mudschaheddin von der CIA ausgewählt, ausgerüstet und trainiert worden waren gegen die Sowjetarmee. Und diese undankbaren Taliban haben nun ihre «Schöpfer» ebenfalls vertrieben, trotz Drohnen und Pilatusflugzeugen.

  • am 28.12.2021 um 14:15 Uhr
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    Herr Ramseyer, besten Dank für diesen bemerkenswerten Artikel wider das Vergessen. Es zeigt sich eben im Zusammenhang deutlich wie heuchlerisch der Demokratiegipfel des US Präsidenten war. Zu denken gibt, weshalb sich unser Bundespräsident mit der Teilnahme arglos in die Falle locken liess. Meines Erachtens wäre es betreffend der Neutralität der Schweiz ein starkes Zeichen gewesen, dem Gipfel fern zu bleiben anstatt sich in die Reihe der Lakaien zu stellen.

    • am 29.12.2021 um 06:40 Uhr
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      Ich bin sehr mit Ihnen einverstanden, Herr Barmettler. Doch, wann wird endlich eine Partei als Vertreter der Bevölkerung den Mut aufbringen, sich bei einem solchen Fehlverhalten der Regierung nicht einfach – wie es sich für alle wachsamen Bürger eines echt neutralen Landes gehörte – zu empören, sondern unsere Regierung unmissverständlich darauf hinweisen, dass sie sich bei ihrem Handeln und dem Verkehr mit dem Ausland an unsere Verfassung zu halten habe, und sie daran erinnern, dass Neutralität bedeutet, «keinem Staatenbündnis angehörend» (auch nicht nur faktisch, ohne einen schriftlichen, öffentlichen Vertrag), und sich «unparteiisch» zu verhalten (nachzulesen in der neusten Dudenausgabe vom Januar 2017).
      Neutralität sollte nicht einfach nur ein wohlklingender, unverpflichtender, geschichtlich bedingter Ausdruck sein bei feierliche Reden, Jubiläen und sonstigen Veranstaltungen, wo man ja gerne die Grundwerte unserer Demokratie beschwört, nein es wäre eine «immerwährende» völkerrechtliche Verpflichtung, und kein alter Zopf, den man bei Bedarf aus der prall gefüllten Wortaufbewahrungsbüchse hervorholt.

  • am 29.12.2021 um 00:28 Uhr
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    Es sollte sich doch so langsam herum gesprochen haben, dass die offizielle Schweiz sowie der Grossteil der Medien sehr amerikahörig ist und das in allen Belangen. Da erstaunt es nicht, dass frühere politische «Episoden» so leicht «vergessen» werden, besonders wen es um politische Morde geht. Man will es doch mit dem grossen Bruder nicht verderben.

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