Lateinamerika: zerstörte Hoffnungen – und neue!
«Der Kirche ist erst seit einiger Zeit bewusst geworden, dass sie einen anderen Auftrag hat als nur ‚geistlich’ zu predigen, spirituell oder wie immer man das nennen mag. Sie hat zum Beispiel das Privateigentum verteidigt, als ob es sich dabei um ein absolutes Recht handelte. Mit der Soziallehre ist nun bewusst geworden, dass es kein absolutes Recht auf Eigentum gibt.»
Genau 25 Jahre ist es her, seit der deutschstämmige Kardinal Aloysio Lorscheider mir diesen Satz – auf deutsch – im Rahmen eines Interviews aufs Tonband sagte. Lorscheider war damals, im Jahr 1988, Erzbischof von Fortaleza im nordostbrasilianischen Bundestaat Ceara. Und er war in Basilien und ganz Lateinamerika einer der bekanntesten und einflussreichsten Geistlichen überhaupt, war er doch schon von 1975 bis 1979 Vorsitzender der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz «Consejo Episcopal Latinoamericano» CELAM gewesen. Lorscheider war also alles andere als nur irgend ein Aussenseiter.
Papst Johannes XXIII. war richtungsweisend
«Das Umdenken in der brasilianischen Kirche hat vor zwanzig, dreissig, vielleicht auch vierzig Jahren begonnen. Wobei immer Angst vor dem Klassenkampf herrschte und vor Gewalt. Aber wir müssen eben eine neue Gesellschaft schaffen, die nicht auf dem Klassenkampf, sondern auf Gerechtigkeit und Liebe gründet», sagte Lorscheider. Und was – oder wer – hat dieses Umdenken denn ausgelöst, wollte ich von ihm wissen? «Sicher hat die erste Sozialenzyklika von Papst Leo XIII. von 1891, Rerum Novarum, schon in diese Richtung gewiesen. Und dann viel gewaltiger Johannes XXIII., das von ihm initiierte Zweite Vatikanische Konzil. Und natürlich die Versammlungen des Lateinamerikanischen Episkopats von Medellin 1968, und von Puebla 1979. – Wir in Brasilien haben uns erstmals 1962, also noch vor dem Konzil, mit diesen sozialen Fragen auseinandergesetzt und Pastoralrichtlinien erlassen.»
Medellin 1968? Mir ging, bei Erwähnung der Jahrzahl 1968, fast reflexartig der Prager Frühling durch den Kopf. Dort wurde versucht, aus kommunistischer Herrschaft aus- und aufzubrechen. Nicht das System zu kippen, zum Kapitalismus. Man suchte einen «dritten Weg», einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz». Wurde vielleicht auch hier, in Brasilien, 1968, aus einer kapitalistischen Diktatur heraus, ein «dritter Weg» gesucht?
Das Problem war und ist der Grossgrundbesitz
Lorscheider erzählte freimütig, wie er sich persönlich und kraft seines Amtes sozial engagierte. Seine Stossrichtung war die absolut dringliche Landreform, eine gerechtere Verteilung des Grundbesitzes. Die Armen sollten endlich ein Stück Land erhalten, um sich aus eigener Kraft ernähren zu können. Das Land sei reich, Sonne und Wasser stünden in Ceara ausreichend zur Verfügung, um aus dem Boden die notwendigen Lebensmittel zu erhalten. Nur, die Grossgrundbesitzer liessen ihre Latifundien oft sogar unbewirtschaftet, sie warteten nur darauf, sie als Spekulationsobjekte eines Tages mit Gewinn weiterverkaufen zu können, sagte er. So war denn auch der 1985 gegründete Verband der brasilianischen Grossgrundbesitzer «União Democrática Ruralista» UDR, sein klarer – politischer – Gegner. «Wir bereiten jetzt hier in Ceara ein Dokument vor, in dem wir sagen, was es mit der UDR und dem Christentum auf sich hat. Wir werden klar sagen, dass sündhaft handelt, wer die Politik der UDR unterstützt. Dass man nicht gleichzeitig der UDR angehören und ein guter Christ sein kann!», sagte Lorscheider in mein Mikrophon wörtlich.
Und Lorscheider redete nicht nur zugunsten einer Landreform, er handelte auch danach. «Ich spreche jetzt von unserem Land, von Ceara. Die Kirche hier hat bereits drei grosse Fazendas (Grossgrundbesitzungen) gekauft. Das war etwa vor zehn Jahren. Wir hatten das Geld dazu von den kanadischen Bischöfen erhalten. Dann haben wir auf dem gekauften Land Leute angesiedelt.»
Aktive Unterstützung der Landlosen
«Und was denken Sie über die Landbesetzungen, die Acampamentos, die ja eigentlich nicht legal sind?», fragte ich nachhakend? Lorscheider: «Die armen Leute haben gar keinen anderen Ausweg. Wir haben hier in Fortaleza noch ein Stück Land, gleich hinter dem Priesterseminar. Ich habe schon immer gesagt, man sollte es bepflanzen, etwas daraus machen. Es wäre ein schönes Stück Land für eine städtische Anlage, einen kleinen Park oder ähnlich. Jetzt ist auch die Rede davon, dass es besetzt werden soll. Warum eigentlich nicht? Sie sollen es ruhig tun! Ich werde deswegen keinen Schlaf verlieren.»
«Sie haben also die Hoffnung, dass die Landreform in den nächsten zehn Jahren kommt», fragte ich, gewissermassen zum Abschluss des Interviews. «Die kommt mit Sicherheit», antwortete Lorscheider. «Ob in den nächsten zehn Jahren, weiss ich nicht. Aber sie wird kommen. Die Kirche wird nicht Ruhe geben, bis sie kommt. Das Bewusstsein der Leute ändert sich. Entweder es kommt die Landreform oder die Revolution.»
Johannes Paul II. gab Gegensteuer
Die Begegnung mit dem damals 64jährigen Kardinal Aloysio Lorscheider ist mir unvergesslich. Lorscheider, der als 22jähriger die Gelübde des Franziskaner-Ordens abgelegt hatte, erhielt 1962, 38jährig, die Bischofsweihe und wurde von Papst Johannes XXIII. zum Bischof von Santo Angelo im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul ernannt. Papst Paul VI. machte ihn, elf Jahre später, zum Erzbischof von Fortaleza. Und 1976 wurde er vom gleichen Papst ins Kardinalskollegium aufgenommen. Aber schon damals, 1988, als ich mit ihm persönlich reden konnte, war ich skeptisch, ob er seinen Kampf für die soziale Gerechtigkeit unter Papst Johannes Paul II. noch lange so weiterführen könnte. Zu deutlich waren schon damals die Anzeichen, dass die «Theologie der Befreiung», wie die damalige soziale Bewegung innerhalb der katholischen Kirche Lateinamerikas genannt wurde und wird, dem polnischen Papst und seinem engsten Berater, Kardinal Joseph Ratzinger, nicht ins Konzept passten.
Und so kam es denn auch. Die Landreform, so wie Kardinal Lorscheider sie gefordert und angekündigt hatte («Die Kirche wird nicht Ruhe geben!»), die Aufteilung von – oft ungenutztem – Grossgrundbesitz zugunsten der Landlosen, hat bis heute nicht stattgefunden. Auch – wenn auch nicht nur – , weil die Katholische Kirche in Brasilien ihren handfesten Kampf für diese Reform aufgeben musste – auf Wunsch, auf Drängen, lass es mich doch so sagen: auf Befehl Roms. Papst Johannes Paul II. hatte, wie die Kirchenhistoriker zu wissen glauben, nicht zuletzt wegen seines – als Kardinal Karol Wojtyla in Polen – ausgeprägt antikommunistischen Kurses im Konklave 1978 die Stimmen der westeuropäischen und US-amerikanischen Kardinäle erhalten. Und er war denn auch, ganz im Gegensatz zu Johannes XXIII., der schon das Zweite Vatikanische Konzil angestossen hatte, kein Freund der lateinamerikanischen «Theologie der Befreiung». Sie war ihm und seinem engsten Berater, dem deutschen Kardinal Joseph Ratzinger, seinem späteren Nachfolger, zu nahe am irdischen Wohl und zu weit weg vom «reinen» Glauben. Johannes Paul II. ging immer wieder auf Reisen, er wollte, suchte und fand mehr Gläubige – zählbar mehr Gläubige! Dass diese Gläubigen auch ein menschenwürdigeres Leben führen können sollten, der erklärte Kampf gegen die Armut in dieser Welt, das war dagegen nicht seine Priorität.
Richtungspolitik durch «Personalpolitik»
Mehrere führende Köpfe innerhalb der das soziale Engagement der Kirche fordernden «Theologie der Befreiung» wurden im Verlaufe des Pontifikats von Papst Johannes Paul II. in unbedeutendere Positionen versetzt oder zum Beispiel auch mit Lehrverboten zum Schweigen gebracht. Einem ihrer grossen Köpfe, Leonardo Boff, der unter anderem auch an der Universität München bei Karl Rahner Theologie studiert hatte, wurde schon 1985 die Rede- und Lehrberechtigung entzogen. 1991 erfolgte dann, nach einer persönlichen Intervention Kardinal Joseph Ratzingers, der totale Bruch. 1992 trat Leonardo Boff auch aus dem Franziskanerorden aus. Die staatliche Universität Rio de Janeiro allerdings schaffte, um Boff die Weiterführung seines Lehramtes gewährleisten zu können, einen neuen, kirchenunabhängigen Lehrstuhl für Ethik und Spiritualität.
Helder Pessoa Camara, Erzbischof von Olinda und Recife, ein anderer sehr prominenter Vertreter der «Theologie der Befreiung», wurde, um ein anderes Beispiel zu nennen, im gleichen Jahr 1985 durch den erzkonservativen José Cardoso Sobrinho ersetzt, der die sozialen Aktivitäten seines Vorgängers eiligst wegputzte. Oscar Romero, Erzbischof von El Salvador in Mittelamerika, der als besonders couragierter Vertreter der «Theologie der Befreiung» auch gegen die dortige Militärdiktatur anzutreten wagte, wurde von Rom-Getreuen zwar bereits heftig kritisiert, musste aber nicht mehr zurückgepfiffen werden. Er bezahlte seinen sozialen und politischen Einsatz mit dem Leben; 1980 wurde er während einer Predigt in einer Krankenhauskapelle von einem Soldaten erschossen – ein Auftragsmord von Seite des Regimes.
Auch Kardinal Lorscheiter wurde entmachtet
Kardinal Aloysius Lorscheider selber war 1962 unter Papst Johannes XXIII. zum Bischof geweiht worden, wurde 1973 von Papst Paul VI. zum Erzbischof ernannt und drei Jahre später vom gleichen Papst ins Kardinalskollegium aufgenommen. Die Unterstützung aus Rom schien ihm sicher. Papst Johannes Paul II. aber versetzte ihn 1995 von Fortaleza, einem Erzbistum mit dreieinhalb Millionen Einwohnern, ins Erzbistum Aparecida in der Nähe von Sao Paolo, mit weniger als 200’000 Einwohnern. 2004 reichte Lorscheider sein Rücktrittsgesuch ein. Es wurde von Johannes Paul II. gerne angenommen. Lorscheider starb an Weihnachten 2007, 83jährig.
War es der richtige Weg?
Waren Lorscheider und seine Gesinnungsgenossen und Mitkämpfer für eine gerechtere Welt auf einen falschen, auf einen unchristlichen Weg geraten? Clodovis Boff, der Bruder von Leonardo Boff, meint: Ja. Er, der ursprünglich selber ein aktiver Befreiungstheologe war, distanzierte sich 2007 formell von der «Teología de la Liberación». In einem Interview mit der Zeitung «Folha de São Paulo» sagte er kürzlich: «In den 70er Jahren entzog mir Kardinal Eugenio Sales die Lehrerlaubnis für Theologie an der Katholischen Universität von Rio. Sales erklärte mir auf liebenswürdige Art: ‚Clodovis, ich denke, Du irrst Dich. Gutes zu tun genügt nicht, um Christ zu sein. Das Essenzielle ist, sich zum Glauben zu bekennen.’ Kardinal Eugenio Sales hatte recht.»
Darf auch die Gegenfrage gestellt werden? Genügt es, den Glauben zur Römisch-Katholischen Kirche zu bekennen, um Christ zu sein – aber darauf zu verzichten, Gutes zu tun?
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Teologia de la liberación / Theologie der Befreiung
Die Theologie der Befreiung – oder kurz auch die «Befreiungstheologie» genannt – ist der heute übliche Begriff für eine sozialethische Bewegung, die sich spezifisch, wenn auch nicht ausschliesslich, ab etwa 1960 innerhalb der Römisch-Katholischen Kirche Lateinamerikas abzuzeichnen begann. In vielen Staaten Süd- und Mittelamerikas waren in den 1960er, 1970er und auch noch 1980er Jahren Militärdiktaturen an der Macht – in Brasilien zum Beispiel 1964 bis 1985, in Argentinien 1976 bis 1983, in Chile von 1973 bis 1988 – und in allen Fällen genoss die an der Macht stehende Militärjunta die unverdeckte Unterstützung durch die USA. Das Interesse der Machthaber lag dabei durchwegs nicht in einer Besserstellung der mehrheitlich eher armen Bevölkerung, sondern in der Erhaltung und wenn möglich Steigerung der Privilegien der Oberschicht. Viele römisch-katholische Geistliche waren Mitläufer. Vor allem aber an der Basis, da, wo Geistliche direkt mit der misslichen Situation breiter Bevölkerungsschichten konfrontiert waren, begannen sich aber auch mehr und mehr Kirchenleute mit der gepeinigten Bevölkerung zu solidarisieren und für deren Rechte zu kämpfen.
Ihren Namen hat die Befreiungstheologie von einem Buch des mittlerweile 85jährigen Gustavo Gutiérrez, eines Theologen aus Peru, der in Lyon, Löwen, Rom und Paris neben Theologie auch Philosophie, Psychologie, Medizin und sogar Kunst studiert hatte. «Teologia de la liberación», so der Titel des Buches, erschien im Jahr 1972 und war Ausdruck des Geistes der Bischofskonferenz von Medellin im Jahr 1968, die ihrerseits auch unter dem unmittelbaren Einfluss des Zweiten Vatikanischen Konzils stand (1962 bis 1965).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Das erwähnte Interview erschien 1988 in den Luzerner Neusten Nachrichten LNN, deren Chefredaktor der Autor damals war. Der oben wiedergegebene Artikel erschien erstmals in der Zeitschrift "Die Gazette" (Ausgabe 4/2013).
Christian Müller erwähnt Dom Helder Camara Pessoa. Dieser war der bedeutendste Repräsentant des sog, «Geistes von Medellin", der für 1968 tatsächlich so repräsentativ war wie das, was wir in Europa mit dieser Jahreszahl verbinden. Helder Camara war ein dem Geist der Zeit zugewandter hochprogressiver Bischof. Nach faschistischen u. peronistischen Anfängen kam er auf die klassische südamerikanische Kapitalismuskritik, was Kritik an den USA bedeutete. Das Wort «revoluçion» hatte in Südamerika seit dem 19. Jahrhundert einen magischen Beigeschmack. Die Bedeutung von Helder Camara lag ähnlich wie später beim Argentinier Bergoglio auf dem Seelsorgerlichen. Spirituell war er , wie später Leonardo Boff, ein enthusiastischer Verehrer der Muttergottes, nicht gerade ein bürgerlicher Aufklärer à la Hans Küng. Intellektuell bemerkenswert blieb, dass sich Helder Camara vom Gedankengut des französischen Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin inspiriert zeigte, welcher die christliche Lehre von der Schöpfung zu einer progressiven Doktrin uminterpretierte, das Unterwegssein von einem Punkt Alpha zum Punkt Omega mit dem Menschen als Arbeiter in der Schöpfung, sogar als eine Art Mitschöpfer, im Mittelpunkt. Typisch für diese Theologie ist der Einfluss des Scotismus (Duns Scotus, mittelalterlicher franziskanischer Erkenntnistheoretiker) und Nominalismus auf die Revolutionierung des christlichen Weltbildes, eine franziskanische Alternative zum Marxismus. Ev. ein Verständnisansatz zu Papa Francesco.