Kommentar

kontertext: Leben in Gaza? Eine Begegnung mit Atef Abu Saif

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Die Anliegen des palästinensischen Schriftstellers Atef Abu Saif verdienen vor dem Ständerats-Entscheid über UNRWA-Gelder Gehör.

In der letzten Februarwoche reiste Abu Saif mit seinem eben ins Deutsche übersetzten Roman «Leben in der Schwebe» in die Schweiz, um in Zürich, Bern und Basel zu lesen. Hinter seinem Besuch witterten einige, darunter auch der Basler Grossrat Luca Urgese, antisemitische Motive. Zu Unrecht. Abu Saif erzählte jene Geschichte vom unaussprechlichen Leid der palästinensischen Bevölkerung, die wir bis heute nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Trotzdem empfing ihn aus Angst keine Organisation und die Bajour sagte das Interview mit ihm ab, nachdem die BAZ seinen privat organisierten Besuch im Vorfeld als «umstritten» ausgerufen hatte. Worum ging es?

Der Schriftsteller als Chronist

Das Buch von 2014 sei bereits ein historischer Roman, so der Übersetzer Hartmut Fähndrich zu Beginn der Lesung in einer kleinen Basler Buchhandlung. Denn alle Schauplätze des Romans sind in den letzten 17 Monaten zerbombt worden: die Schulen, Spitäler, Buchläden, Bibliotheken und Cafés in Gaza. Neben der Ermordung von 50’000 Menschen wurde auch die Kultur von Gaza komplett zerstört.

Umso wunderbarer klingt vor diesem Hintergrund der Disput der Figuren in Abu Saifs Roman: Sie streiten sich über den «richtigen» Umgang mit den Toten in der Zeit nach der Machtübernahme durch die Hamas, als die Wände von Gaza-Stadt nach und nach mit den Bildern von Toten tapeziert wurden. Beim Tod des Vaters plädiert ein Neffe für eines dieser üblichen Mauerbilder («Poster»), der Sohn hält dagegen: Der Vater sei weder Held noch Märtyrer, er war Buchdrucker und verachtete die Poster, die wie Werbeplakate in Gaza-Stadt ausgehängt werden. Er sei zufällig umgekommen durch den Schuss eines israelischen Soldaten, er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Er sei deswegen noch lange kein Held.

Der Konflikt ist sinnbildlich für das Anliegen des Buches, die ambivalenten Haltungen des palästinensischen Volkes zu durchleuchten und an die Möglichkeit seiner Selbstbestimmung zu appellieren, fern jeder Propaganda. Das kann nur Literatur mit ihrer Möglichkeit, ins Wohnzimmer des anderen zu schauen, und mit ihrem Vermögen, jeden einzelnen Toten in der seinem Leben gemässen Art zu betrauern. Denn jeder Tod ist eine Tragödie. Die Verschleppung, Schändung und Tötung der Geiseln aus Israel hat dies in unerträglicher Weise gezeigt, auch durch die andauernde, monatelange Zerdehnung des Schreckens. In Palästina gab es diese Zeit nicht, zu viele starben zu schnell, ohne Berichte, ohne Kamera und oft ohne Bestattung. Sie starben so schnell, dass man sich im Oktober 2023 gar nicht klar werden konnte über das Massaker der Hamas. Bevor man davon erfuhr, begannen die ersten Angriffe in Gaza.

Der Schriftsteller war als Augenzeuge dort: Anfang Oktober 2023 reiste er von seinem Wohnsitz in Ramallah zu seinem kranken Vater in den Gazastreifen und sass dort mit seinem Sohn für drei Monate fest, bis er Ende Dezember von seinem Diplomatenstatus Gebrauch machte, um mit seinem Sohn auszureisen. Was er mitnahm, war eine tiefe Verstörung, waren die Geschichten verzweifelter Menschen, die ihn baten, diese aufzuschreiben. Um der Welt zu erzählen, was in Gaza passiert – nicht als Roman, sondern als Journal. Das Buch «Don’t Look Left» wird in den nächsten Tagen auf Deutsch erscheinen mit dem Untertitel «Tagebuch eines Völkermords». Das Buch ist nicht neutral, es blickt auch nicht nach Israel: es ist das Protokoll eines Grauens im Gazastreifen, das bereits in 14 Sprachen übersetzt ist und ein breites Medienecho fand.

Die Schweiz und die UNRWA

Abu Saif wurde 1973 im Flüchtlingslager Jabaliya im Norden Gazas geboren und erhielt seine Bildung in den Schulen der UNRWA. Dafür ist er der Organisation und auch der Schweiz zutiefst dankbar. Er konnte in England studieren und in Italien sein Doktorat in Sozialwissenschaft machen. Das Studium habe ihm geholfen, das Wesen von Staat und Gemeinschaft zu begreifen; die soziologischen Betrachtungen sind in seine literarischen Werke eingeflossen. Als Kulturminister der palästinensischen Autonomiebehörde (2019–2024) war er Berater der Fatah-Regierung und Kritiker der Hamas. Heute sieht er das Versagen der Politik nach dem 7. Oktober nochmals in aller Deutlichkeit: Hätten beide Seiten sofort einen politischen Prozess gestartet, die soziale Opposition gegen die Hamas im Land gestärkt mit NGOs, wäre die Terrormiliz heute geschwächter, als sie es jetzt ist, davon ist er überzeugt.

Aktuell ist, auch wegen der fehlenden Akzeptanz der palästinensischen Autonomiebehörde, die UNRWA die einzige verlässliche Organisation im Gazastreifen. Die 1949 mit Hilfe der Schweiz gegründete Unterorganisation der UNO ist heute praktisch für alles zuständig, weil nichts mehr garantiert ist: medizinische Nothilfe, Lebensmittelverteilung, Wasser, Notunterkünfte, Minenräumung. An Schulbildung ist seit Monaten nicht zu denken, es gibt höchstens «emergency education». Palästina hatte seit den 50er Jahren die höchste Alphabetisierungsrate in den arabischen Staaten, dank der UNRWA; das Land exportierte einst Lehrer und Orangen, so Abu Saif. Der Appell an die Schweiz nun könnte nicht deutlicher sein: Nicht nur die Koordination der Nothilfe steht auf dem Spiel, wenn der UNRWA Gelder gestrichen werden, sondern auch ein gut funktionierendes Bildungssystem und damit ihre Bemühungen, den traumatisierten Kindern einen Weg in die Zukunft zu weisen, der nicht zur Hamas führt. Philippe Lazzarini, der schweizerische Direktor der UNRWA, sagt es im Interview mit der ZEIT in aller Deutlichkeit: «Wir stehen am Scheideweg. Entweder die internationale Gemeinschaft lässt UNRWA implodieren. Wir müssten unsere Arbeit einstellen, die Schulen schliessen, und das würde vermutlich zu Chaos führen. Es ist der Nährboden für Extremismus.» 

Und Abu Saif unterstreicht zusätzlich: Die Schweiz hat etwas zu verlieren in Palästina, nämlich ihren ausgezeichneten Ruf. Zusammen mit Norwegen gilt die Schweiz als verlässlicher Partner in der Flüchtlingshilfe. Wenn sie sich jetzt auf die Seite von Netanjahu und Trump stellt, wird sie diesen Ruf verlieren. Man kann also ergänzen: Wenn sich der Ständerat am 18. März dazu durchringen könnte, die Gelder fortzuzahlen, wäre etwas gewonnen in Bezug auf die Herstellung von Frieden und Terrorbekämpfung. Entscheidet er sich dagegen, verspielt er Menschenleben und politisches Kapital.

Ein Graffito in Rafah

Die aussenpolitische Kommission des Ständerats hat bereits getagt und mit 6:6 Stimmen sehr knapp gegen die Fortsetzung der UNRWA-Beiträge votiert; den Stichentscheid hatte der Vorsitzende, der SVP-Ständerat Marco Chiesa. Wieder einmal käme es nun auf die Mitte an.

Es wäre gut gewesen, wenn auch Politiker ausserhalb der Linken das Plädoyer für die Schweiz und die UNRWA und auch den Optimismus Abu Saifs für einen möglichen Frieden gehört hätten. Niemand in Palästina hat, so betont er, das geringste Interesse an einer Fortsetzung der Gewalt. Die Menschen brauchen Frieden und sie wollen leben. Sie hätten gar keine andere Option. Und manchmal wollen sie auch lachen. Gegen Schluss seiner Lesung zitiert Abu Saif zu Ehren der Kinder von Gaza einen Graffito aus Rafah: «If I became president, I would make your laughter a national anthem.» Das wirkt ansteckend. Wenn Kinder das Lachen verlernen, haben wir alle verloren.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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2 Meinungen

  • am 11.03.2025 um 12:05 Uhr
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    …und niemand spricht über die wahren Ursachen und bekämpft diese. Was braucht es bis diese angegangen werden? Ich sehe mehr wie 40 Jahre Symptomreduktion und Bewirtschaftung (weltweit). Jetzt stockt die Bewirtschaftung. …

  • am 11.03.2025 um 22:58 Uhr
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    Die Ursachen liegen weit zurück, sie gehen mindestens auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Das Osmanische Reich war noch nicht ganz besiegt, und die zionistische Idee war am Entstehen. 1896 brachte Herzl sein Buch zum Judenstaat heraus, und es war bereits vom Transfer (!) der einheimischen arabischen Bevölkerung die Rede. Die Stellungnahmen der Schweizer Parlamentarier verwundern nicht, denn sie stehen ziemlich geschlossen hinter den zionistischen Ideen. Man hat sie gewählt für die Streichung der Beiträge an die UNWRA.

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