Kolumbiens neuer Präsident steht vor gewaltigen Aufgaben
Die Begeisterung der ärmeren Mehrheit über den Wahlsieg eines ehemaligen Guerillakämpfers hält in Kolumbien an. Doch es bleibt der Zweifel, ob Gustavo Petro eine regierungsfähige Koalition zustande bringt.
Der Leiter der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bogotá sieht den Schlüssel zur Zukunft im Verhalten der Armee. Ebenso wichtig sind aber die neuen Kräfteverhältnisse im Kongress. Was bisher in Kolumbien nie ein Problem war, weil Konservative und Liberale in den 200 Jahren seit Gründung der Republik die Macht im Parlament fast immer geteilt haben, wird jetzt zur Crux: Werden sie die neue, erstmals linksgerichtete Regierung von Beginn an ausbremsen? Oder schafft es Petro, sein patchworkartiges Linksbündnis Pacto histórico zusammenzuhalten und über die Runden zu bringen? Als zentrale Fragen erscheinen dabei auch, ob der bröckelnde Friedensprozess wiederbelebt werden kann, wie der Grundbesitz gerechter verteilt und wie zu diesem Zweck die Steuerpolitik neu ausgerichtet werden soll.
In einem Land wie Kolumbien, wo die Gewalttätigkeit seit den 1950er Jahren an die 450’000 Todesopfer gefordert hat, wird die Menschenrechtsfrage noch lange gegenwärtig sein. Laut einem Bericht der «New York Times» hat die zuständige Kommission unter der Führung eines Geistlichen einen umfassenden Bericht veröffentlicht, der die Grundlage zu weiteren Ermittlungen der Justiz bilden soll. Die Verwicklung des Militärs und der Polizei in horrende Verbrechen ist dabei wohl das heisseste aller heissen Eisen in dieser tragischen Geschichte. Wie weit ihre Aufklärung kommen wird, ist für das ganze Land eine bange Frage.
Die in der Schweiz domizilierte multinationale Firma Glencore hat von der neoliberalen Politik in Kolumbien enorm profitiert. Auch von dieser Seite her, mit der rücksichtslosen Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen, werden universale Rechte von Teilen der lokalen Bevölkerung ebenso selbstverständlich missachtet wie elementarste Auflagen der Umweltpolitik. Glencore hat die massenhafte Gewährung von Konzessionen im Bergbausektor durch vergangene Regierungen ohne Zögern und schonungslos ausgenützt (Infosperber berichtete). Auch in diesen Aspekten drängen sich Revision und Reform der bestehenden Rechtsverhältnisse auf.
Nach dem Sieg von Petro bei den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien, das mit seinen mittlerweile über 50 Millionen Einwohnern Argentinien als Nation mit der drittgrössten Bevölkerung des Subkontinents überholt hat, stellt sich die Frage, wie weit von einer Rückkehr der Linken in Lateinamerika an die Macht gesprochen werden kann. Der leitende Redaktor von «El Dipló Cono Sur», der argentinischen Ausgabe von «Le Monde Diplomatique», befasst sich in «Nueva Sociedad» (NUSO) mit dieser Frage. Die Ergebnisse der letzten Urnengänge in Argentinien, Mexiko, Chile, Bolivien, Peru, Honduras und jetzt Kolumbien könnten Vermutungen in dieser Richtung bestätigen. Allerdings ist die Palette der Parteien und Allianzen so bunt, dass man erst einmal definieren müsste, was denn da schon wieder links ist. Die vorliegende Analyse geht bis in die Zeiten der mexikanischen Revolution zurück und umreisst dabei die verschiedenen Regierungen und Modelle linker Politik schon fast stichwortartig. Der Überblick, der sich dabei ergibt, kann eine allerseits nützliche Debatte auslösen.
In derselben Monatszeitschrift (NUSO) ist ein langer Hintergrundbericht über die bisherige Regierungszeit von Präsident Andrés Manuel López Obrador in Mexiko erschienen. Da wir ausführliche und tiefschürfende Artikel aus oder über diesen Staat in der «Weltpresse» meistens mit der Lupe suchen müssen, leisten wir uns den Luxus, auf diese aufwändige und reichlich dokumentierte Arbeit hinzuweisen. Die Autoren kristallisieren einige wichtige Aspekte nach zwei Dritteln von AMLOs sechsjährigem Mandat heraus. Sie betreffen die Arbeitspolitik, Nationalisierungstendenzen im Energiesektor und die Aussenpolitik, eine Branche, in der Mexiko seit der Revolution auf eine unabhängige, den US-Interessen oftmals entgegengesetzte Linie bedacht ist.
Aus Argentinien erreicht uns eine ebenfalls umfangreiche Studie über die «Arbeit» der lokalen Geheimdienste. Die ersten Abschnitte wecken Erinnerungen an die Fichenaffäre in der Schweiz, wo gewöhnliche, aber ein bisschen anders denkende Leute hemmungslos (und kleinlich) ausspioniert wurden. Doch dann werden die Unterschiede rasch deutlich. Geduldig werden alle Phasen der politischen Observation und Repression wie Perlen an einer Kette aufgehängt. Und dabei werden dramatische Höhepunkte erreicht, wo die Fäden aus geheimdienstlichen Sphären zusammenlaufen, wo sie sich kreuzten, verknoteten und verwirrten. Dabei ist Argentinien kein Einzelfall. Ähnliches wäre in den meisten anderen Ländern des Subkontinents zu eruieren und zu publizieren.
Dürftig tröpfeln seit vielen Jahren auch Informationen über das Geschehen in Peru an die Öffentlichkeit – obwohl sich der frühere Inka-Staat von einer Regierungskrise zur nächsten quält. Wir scheuen uns darum nicht, das Schweigen in der grossen Presse zu ignorieren und uns die Nachrichten und Kommentare in alternativen Informationsquellen zu beschaffen. Der Verdruss über das Versagen der Politiker ist im ganzen Land gross. Davon zeugt eine Chronik, die von einem Mitarbeiter der deutschen Info-Stelle Peru verfasst wurde. «Que se vayan todos!» («Alle sollen verschwinden!») – diesen empörten Appell an die Verantwortlichen der Politik hat man seinerzeit (beim vorletzten Staatsbankrott 2001/02) auch in Argentinien gehört.
Peru scheint immer tiefer im Chaos und in der Ratlosigkeit zu versinken. Verfassung und Wahlgesetz erschweren das Zustandekommen von stabilen Allianzen ganz offensichtlich. Die Herrschaften im Kongress bekriegen sich lieber gegenseitig, als dass man sich ernsthaft darum bemühen würde, die Mängel in den legislativen Strukturen der Nation zu erkennen und gemeinsam zu beheben. Nicht geringeres Malaise kommt aus der weit verbreiteten Unsitte, dass die Stimmberechtigten ihre Kandidaten und Kandidatinnen nicht nach glaubwürdig programmatischen, sondern nach zumeist oberflächlichen, populistischen Kriterien wählen. Der vom Volk vor einem Jahr mit knapper Mehrheit überraschend erkorene Staatschef Pedro Castillo, auch er ein Linker, wenn auch mit vielen Wenn und Aber, scheint nicht in der Lage zu sein, ein immer weiteres Abrutschen in anarchische Zustände zu verhindern.
Brasilien ist mit seinem stramm rechtsgerichteten Regierungschef Jair Bolsonaro schon fast allein auf weiter Flur. Alle Bemühungen des Staatsoberhaupts sind offenbar darauf gerichtet, bei den gegen Ende des Jahres fälligen Präsidentschafts- und Kongresswahlen die Rückkehr von Expräsident Lula da Silva zu verhindern. Anders als in Peru kommt die grösste Gefahr aber nicht von den Freischützen im Parlament, sondern von Seiten des Militärs. Was für Indizien für eine verschwörungsartige Bewegung es unter den Uniformierten gibt, kann in einem Kommentar der «Nachdenkseiten» nachgelesen werden.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.