„Kolumbien ist eine Zeitbombe“
Die Stimmung war vor neun Jahren äusserst angespannt. Zum Termin im Haus der Organisation «Femenina Popular» (OFP) in der kolumbianischen Erdölstadt Barrancabermeja waren auch Vertreter der Armee, der Polizei und des Geheimdienstes eingeladen. «Sie sollen wissen, wer wir sind, was wir tun und wohin wir gehen. Denn sie sind für unsere Sicherheit verantwortlich», hatte mir Yolanda Becerra die Anwesenheit der ungewöhnlichen Gäste erklärt.
«Wir sind eine Basisbewegung, leisten aktiven Widerstand und fordern Reformen, die einflussreiche Kräfte in Kolumbien verhindern wollen. Und das ist der Grund, warum wir seit Jahren in einem Klima der ständigen Bedrohung leben», sagte Becerra schon damals. Frauen würden am meisten leiden unter dem Bürgerkrieg, der Kolumbien seit mehr als 40 Jahren terrorisiert.
In Barrancabermeja, einem Brennpunkt sozialer Konflikte in Kolumbien, leitet Yolanda Becerra die OFP, die in den 70er Jahren entstanden ist. Inzwischen hat die Organisation im ganzen Land viele Zentren eröffnet, in denen Frauen Schutz und Beratung finden. «Das genügt aber nicht», hatte Becerra zu bedenken gegeben. «Wir müssen alle Frauenorganisationen des Landes gegen den Krieg mobilisieren.»
Im gepanzerten Wagen mit Leibwächtern
Vor kurzem habe ich Yolanda Becerra erneut getroffen. Diesmal in einem Hotel in Zürich. Ich erinnerte mich, was ich 2003 im Haus der OFP erlebt und was die Kolumbianerin damals über die prekäre Sicherheitssituation ihrer Organisation berichtet hatte. Offensichtlich nicht ohne Grund: Yolanda Becerra wurde im November 2007 in ihrem Haus überfallen und misshandelt. Zwei ihrer Kolleginnen wurden ermordet. Ein Mitglied der OFP ist ins Ausland geflohen. Becerra selber musste Barrancabermeja verlassen und lebt seither in einer Nachbarstadt. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat die kolumbianische Regierung verpflichtet, Becerra zu beschützen. Die 51-jährige Frau bewegt sich seither in einem gepanzerten Wagen in Begleitung von zwei Leibwächtern, die auf Wunsch der Bewachten keine Waffe tragen.
Neue Regierung – alte Politik
Yolanda Becerra weckt nicht den Eindruck einer ständig vom Tod bedrohten Frau. Doch wenn sie die Situation in Kolumbien analysiert, bleibt sie ruhig und sachlich: «Ja, seit gut einem Jahr gibt es in Kolumbien mit Präsident Santos eine neue Regierung. Nach seinem polarisierenden Vorgänger, Uribe, der aus dem Milieu der Grossgrundbesitzer kommt, wirkt der städtische Grossbürger Santos diplomatisch und geschliffen. Die langfristige Strategie der Politik des Staates hat sich aber nicht geändert. Auch Santos glaubt an einen militärischen Sieg gegen die FARC-Guerilla. Es fehlt der Wille, den Konflikt politisch zu lösen. Das heisst auch: Die Ursachen des Konflikts werden weiterhin nicht anerkannt. Die Armut im Volk wächst ständig. Die durch den Krieg geschwächte Zivilbevölkerung muss ohnmächtig zusehen, wie multinationale Unternehmen, auch aus der Schweiz, die Ressourcen des reichen Landes ausbeuten. Um Megaprojekte, zum Beispiel Monokulturen von Ölpalmen zur Produktion von Agrotreibstoffen, oder um riesige Kohlen- oder Goldminen zu realisieren, werden Kleinbauern, Indigene und Afrokolumbianer vertrieben.»
Wachsende Militarisierung
Becerra verweist auf die Protestbewegungen der Studenten, die in der Hauptstadt Bogot’a gegen eine noch stärkere Privatisierung der Hochschulen demonstrieren. Der Staat will 650’000 zusätzliche Studienplätze schaffen, ohne das Budget zu erhöhen. Den Studenten geht es auch um eine zunehmende Militarisierung des Landes. Für viele Jugendliche, vor allem auf dem Land, sind die Armee, die Guerilla und die paramilitärischen Gruppen die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Für einen Soldaten gibt der Staat pro Jahr umgerechnet 9’000 Franken, für einen Studenten 1’500 Franken aus. Becerra meint dazu: «Einerseits werden immer mehr Mittel in einen Krieg gesteckt, der angeblich Frieden schaffen soll. Anderseits verschärfen sich die soziale Polarisierung und die Armut, also jene Ursachen, die den Konflikt ausgelöst haben. In Kolumbien tickt eine Zeitbombe.»
Demokratische Fassade und Realität
Vor kurzem wurde ein ehemaliger Kämpfer der mittlerweilen aufgelösten Guerilla-Organisation M-19 zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt. Ist das nicht ein Zeichen, dass auch die FARC heute ihren Kampf als Partei mit politischen Mitteln weiter führen könnte? Dazu Becerra: «Kolumbiens politische Elite hat es immer verstanden, Fassaden zu errichten, die den Anschein von Demokratie erwecken. Das war und ist ihre Strategie, um den Staat zu legitimieren. Die Wahl des Bürgermeisters von Bogot´a ist ein solches Beispiel. Oder: Den Posten des Vizepräsidenten Kolumbiens hat man einem linken Politiker überlassen, weil es ein rein dekoratives Amt ist.»
Den Anschein wecken, dass sich etwas ändert, wollte Präsident Uribe, als er 2005 anordnete, die Paramilitärs zu demobilisieren. «Davon ist in meiner Region nichts zu spüren,» berichtet Yolanda Becerra. «Die gleichen Organisationen existieren einfach unter neuen Namen weiter. Sie kontrollieren die militärischen, politischen Institutionen, die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und können so die ganze Bevölkerung als Geisel nehmen. Die Demobilisierung war eine Farce. Die Paras waren eine Konstruktion des Staates und konnten gar nicht aufgelöst werden, weil sie den Staat bis hinauf zum Präsidenten, in die obersten Ränge der Armee und im Parlament infiltriert hatten.»
Neuer schwerer Zwischenfall in Barrancabermeja
Während des Gesprächs erhält Yolanda Becerra dringende Anrufe aus Kolumbien. Am Vortag ist ein führendes Mitglied der OFP in ihrem Haus überfallen worden. Die Frau und ihre Familie erhielten Todesdrohungen, Computer und Festplatten wurden entwendet. Becerra informiert sich und gibt Anweisungen. «Nach solchen Ereignissen benachrichtigen wir sofort unsere Partnerorganisationen im Ausland. Wir bitten sie, die kolumbianischen Behörden aufzufordern, den Vorfall gründlich zu untersuchen. Ohne Druck aus dem Ausland sind wir hilflos. Auch eindeutige Vergehen gegen die Menschenrechte werden von den Behörden regelmässig als kriminelle Verstösse abgetan. Wir müssen zuerst beweisen, dass sie politisch motiviert sind. Die meisten Fälle werden aber nicht aufgeklärt. Es herrscht Straflosigkeit.»
Die OFP wird vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) unterstützt und hat dieses Jahr den Paul-Grüninger Preis erhalten. Der Preis erinnert an den St. Galler Polizeikommandanten, der 1938 und 1939 Hunderten von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland das Leben gerettet hat.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine