Kommentar
Kandidierende reden um heissen Brei herum
Es handelt sich um Scheingefechte, bei denen die beteiligten Akteure genau darauf achten, die wirklich brennenden Fragen zu umgehen und die Wählerschaft von den wahren Verursachern der derzeitigen Probleme abzulenken.
Die Mittel, mit denen die Wahlkandidaten arbeiten, sind nicht neu: Es werden Vorurteile bedient, Feindbilder aufgebaut und Ängste geschürt – eine sichere Methode, um die Wähler zu verunsichern und ihren Blick auf die drängendsten Probleme der Gegenwart zu vernebeln.
Das grösste Problem unserer Zeit
Das Hauptproblem unserer Zeit, das eigentlich im Mittelpunkt eines jeden Wahlkampfes stehen müsste, ist die rasante Zunahme der sozialen Ungleichheit. Nach Angaben der Hilfsorganisation Oxfam verfügten 2014 85 Einzelpersonen über ein Vermögen, das dem Besitz der ärmeren Hälfte der Menschheit entspricht. 2015 waren es sogar nur noch 62 Personen.
Dabei handelt es sich nur um die Spitze eines Eisberges: In den USA sind inzwischen 60 Millionen Menschen auf Essensmarken angewiesen, Hunderttausende mussten Häuser und Wohnungen aufgeben und leben in Wohnwagen- und Zeltstädten. Die Obdachlosigkeit unter sozial Schwachen nimmt zu, die Lebenserwartung ab. Gleichzeitig haben die Spitzenverdiener in den USA ihr Vermögen kontinuierlich vermehrt.
In Deutschland arbeiten mehr als 25 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor, die Leiharbeit boomt, immer häufiger werden Löhne durch «Werkverträge» gedrückt. Während die Kinderarmut wächst, nimmt das Einkommen derer, die von ihrem Vermögen leben können, ebenfalls überproportional zu.
Europaweit sieht die Lage noch schlechter aus. Vor allem der jüngeren Generation rauben Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten und zunehmend schwierigere soziale Verhältnisse die Zukunftsperspektive, und das nicht nur im Süden, sondern auch im benachbarten Frankreich.
Die Ursache wird verschwiegen
Die beschriebene Entwicklung ist kein Zufall, sondern das Produkt einer weltweit betriebenen Politik. Diese Tatsache wird von sämtlichen Wahlkandidaten unterschlasgen – ob in den USA oder in Europa. Offensichtlich handelt es sich hier um ein Tabu, das niemand anzurühren bereit ist: Es geht nämlich um die Geldpolitik der Zentralbanken.
Als das globale Finanzsystem 2008 zusammenzubrechen drohte, sprangen die Regierungen ein und retteten vermögende Investoren mit dem Geld von Steuerzahlern. Obwohl es sich um die in der gesamten Geschichte der Menschheit grösste Vermögensumverteilung von unten nach oben handelte, unterwarf sich die Politik bereitwillig der von der Finanzindustrie ausgegebenen Parole, die Banken seien «too big to fail».
Die Folge der Bankenrettung waren riesige Löcher in den Staatshaushalten. Um diese zu stopfen, sprangen die Zentralbanken ein. Sie finanzierten bankrotte Staaten durch den Aufkauf von Staatsanleihen, pumpten Billionenbeträge in die Wirtschaft und senkten bis heute weltweit mehr als 660 Male die Leitzinsen. Parallel dazu erliessen Regierungen Austeritätsprogramme, d.h. sie kürzten die Staatsausgaben (nicht selten auch die Renten), erhöhten die Steuern und senkten so den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung.
Stabilisiert wird nicht das Finanzsystem
Die meisten Menschen glauben noch heute der offiziellen Version, dass diese Massnahmen der «Stabilisierung» des von ihnen nicht verstandenen Finanzsystems dienen. Kaum einer durchschaut ihren tatsächlichen Charakter: Dass sie das System nämlich ganz im Gegenteil destabilisieren und in Wirklichkeit keinem anderen Ziel dienen, als die Lasten der Krise von 2008, die von gewissenlosen Spekulanten verursacht wurde, auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.
Einige Beispiele: Die Staatsfinanzierung durch den Kauf von Staatsanleihen kam nicht etwa den betroffenen Ländern zugute, sondern diente fast ausschliesslich dazu, diesen Ländern die Begleichung ihrer Schulden bei ausländischen Banken zu ermöglichen. Nutzniesser waren also nicht die arbeitende Bevölkerung der unterstützten Staaten, sondern in erster Linie ausländische Grossbanken.
Nicht anders verhält es sich mit den Unsummen frisch aus dem Nichts geschöpften Geldes: Allein die EZB hat seit dem März 2015 mehr als eine Billion Euro «in die Wirtschaft gepumpt». Offiziell heisst es, das sei nötig, um «die Wirtschaft anzukurbeln». Das aber ist in den vergangenen acht Jahren nachweislich nicht passiert. Tatsächlich hat die EZB das Geld über private Banken an Investoren ausgegeben, die es grossenteils zur Spekulation an den Finanzmärkten einsetzen. (Und die Mainstream-Medien machen fleissig mit und nennen wunschgemäss «Spekulanten» heute «Investoren». Anm. der Red.)
Ähnlich sieht es bei der Senkung der Zinsen aus. Auch hier heisst es, die Massnahme sei nötig, um «Anreize für Investitionen» zu schaffen. Tatsächlich wird Spekulanten das Geld zu immer günstigeren Zinsen, zum Teil bereits zum Nulltarif, zur Verfügung gestellt – ein Freibrief, um noch grössere Risiken an den Finanzmärkten einzugehen und das System noch instabiler zu machen.
Auch bei der Einführung der «Bail-in»-Regelung (die Beteiligung von Aktionären, Anlegern und Sparern an der Rettung von Banken) handelt es sich keinesfalls um die von der Politik behauptete «Entlastung der Steuerzahler». Die zur Jahreswende vorgenommenen «Bankenrettungen» in Italien beweisen, dass sich Grossinvestoren rechtzeitig absetzen und vor allem Kleinanleger und die Mittelschicht für die Fehlbeträge aufkommen müssen.
Praktisch alle seit 2008 durchgeführten Massnahmen nützen also nicht der arbeitenden Bevölkerung, sondern vor allem der Finanzindustrie und den hinter ihr stehenden Investoren und Spekulanten. Es gibt aber sowohl in den USA wie auch in Europa kaum einen Politiker, der seine Wähler im Wahlkampf über diese Zusammenhänge aufgeklärt hätte.
Die Manipulation kennt keine Grenzen mehr
Das ist allerdings noch nicht alles. Die angeführten Massnahmen haben die soziale Ungleichheit nämlich nicht nur verschärft, sondern dabei eine Eigendynamik entwickelt, die sich nicht mehr stoppen lässt und mit unerbittlicher Konsequenz in noch schwereres Wasser führt:
So hat das Gelddrucken – wobei das Geld heute nur noch im Computer generiert wird – riesige Blasen an den Aktien-, Anleihe- und Immobilienmärkten geschaffen, die platzen und riesige Vermögenswerte vernichten werden. Die Niedrigzinspolitik hat die Investoren wie Heroinabhängige nach billigem Geld süchtig gemacht und wird nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
Im Gegenteil: Die vor uns liegende Periode wird wegen weiterer Zinssenkungen im Zeichen von Minuszinsen stehen. Da diese aber zur Hortung von Bargeld führen, wird nach der bereits für den Herbst 2017 geplanten Abschaffung des 500er-Euroscheins die generelle Abschaffung des Bargeldes vorangetrieben werden müssen.
Aber auch das ist noch nicht alles. Um den Zusammenbruch dieses aus den Fugen geratenen Systems zu verhindern, werden immer neue Massnahmen nötig: Die Stützung von Unternehmen durch den Aufkauf von Firmenanleihen durch die EZB ist ein Schritt, dem weitere folgen werden. Die Schweizer Nationalbank ist bereits Grossaktionär bei Apple und Google und es gibt keinen Grund, warum die EZB ihrem Beispiel nicht folgen sollte.
Egal, von welcher Seite aus man es betrachtet: Das Finanzsystem steuert auf noch ungehemmtere Manipulation, noch grössere soziale Ungleichheit und schlussendlich auf einen Zusammenbruch zu. Es drohen schwerste gesellschaftliche Verwerfungen bis hin zu Kriegen.
Das mit Abstand wichtigste Thema in einem Wahlkampf, der diesen Namen verdient, müsste die Warnung vor dieser Entwicklung sein.
Dennoch hören wir von keinem Politiker auch nur ein Wort darüber. Der Grund dafür ist keinesfalls Unwissenheit, denn die Fakten liegen ja für jeden, der sich informieren möchte, auf dem Tisch. Der Grund liegt darin, dass die wirklichen Entscheidungen in unserer Gesellschaft schon lange nicht mehr von der Politik, sondern von der Finanzwirtschaft und deren höchster Interessenvertretung, den Zentralbanken, getroffen werden.
Politiker sind in diesem Spiel in erster Linie PR-Agenten und Öffentlichkeits-Verwalter der Finanzindustrie oder Naivlinge. Sie verschleiern die wirklichen Probleme und streuen den Menschen durch Ablenkungsmanöver auf Nebenschauplätze Sand in die Augen, damit diejenigen, die vom gegenwärtigen System profitieren, das auch in Zukunft ungehindert tun können. Zum Lohn für ihre Tätigkeit erhalten diese Politiker materielle Privilegien wie hohe Entschädigungen, grosszügige Rentenansprüche, Sonderleistungen, direkten Zugang zu lukrativen Jobs in der Industrie, dem Finanz- oder Stiftungswesen (José Manuel Borroso ist nur gerade ein Beispiel). Ausserdem erhalten ihre Vertreter die Möglichkeit, ihre Geltungssucht im Lichte der Öffentlichkeit auszuleben und sich – von der Finanzindustrie wohlwollend geduldet – in den teilweise von der Finanzindustrie finanzierten Mainstream-Medien als die Machthaber unserer Zeit aufzuspielen.
Im Grunde bestätigt das Schauspiel, das wir unter dem Titel «Wahlkampf» immer wieder erleben, die Worte von Kurt Tucholsky, der schon vor einem Dreivierteljahrhundert gesagt hat: «Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Ernst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches «Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzugs», erschienen im Tectum-Verlag, Marburg, 26.90 CHF, sowie des Buches «Kapitalfehler – Wie unser Wohlstand vernichtet wird und warum wir ein neues Wirtschaftsdenken brauchen», Eichborn-Verlag 2016, 29.90 CHF.
danke für diese klaren worte, lieber ernst wolff.
bei abstimmungen in der schweiz werde ich noch immer zettel ausfüllen – bei wahlen allerdings nicht mehr: ich gebe also meine stimme nicht mehr ab und lege sie in eine urne… NEIN – ich behalte mene stimme und werde aktiv – zusammen mit freundinnen und freunden für frieden und gerechtigkeit.
früher gehörten in der ddr alle politiker zur sozialistischen einheitspartei.
heute sind politikdarsteller von links bis rechts teil der kapitalistischen einheitspartei – sprich für ewiges bip-wachstum, was die natur zerstört, die schulden erhöht, kriege begünstigt.
wachen wir auf – fairCH ist bereit mit andern SINNvoll zusammen zu spannen.
In diesem Zusammenhang ist das Buch des belgischen Autors David Van Reybrouck «Gegen Wahlen», mit dem Untertitel «Warum Abstimmungen nicht demokratisch sind» zu empfehlen.
Noch schlimmer als Wahlen sind wirklich nur keine Wahlen oder solche mit 99,9% für die Einheitspartei, die häufiger vorkommt als man denkt. Die Demokratie bleibt die schlechteste Regierungsform aller Zeiten mit Ausnahme der andern.
Klasse – genau auf den Punkt gebracht. Danke!
Eines der Probleme von Wolff: Er trennt abstrakt zwischen Arbeitenden und Rentiers und übersieht den Mittelstand, der von einem Mix aus Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen lebt. Die Banken werden nicht nur im Interesse der 1 % geschützt. 1929 wurden die Banken nicht geschützt – mit sehr unangenehmen Auswirkungen auch für die Politiker.
Ein zweites Problem: Er erweckt den Eindruck, die einheimische Bevölkerung sei in hohem Maß verarmt. Die Zahl der Armen steigt aber automatisch mit der Zahl der Einwanderer aus ärmere Ländern, die nun mal unvermeidlich in der Statistik zunächst als Arme auftauchen.
Wie muss der Mensch ticken, der in einer kapitalistischen Marktwirtschaft (zivilisatorisches Mittelalter) «halbwegs glücklich» ist? Der «Normalbürger» darf die wesentlichen makroökonomischen Zusammenhänge, die zu systemischer Ungerechtigkeit führen, NICHT verstehen! Zumindest für den Zeitraum, in dem noch niemand weiß, wie die Marktwirtschaft vom Privatkapitalismus zu befreien ist. Dazu ist es zweckmäßig, die Wahrheit niederzuschreiben und das Geschriebene immer wieder uminterpretieren zu lassen, bis das Volk die Wahrheit nicht mehr erkennt und auch gar nicht mehr erkennen will:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2016/09/die-bedeutung-des-geldes.html