Kampf der Kulturen am Bosporus
Es ist eine steife Brise, die von der asiatischen Seite der Stadt her über den Bosporus in das Istanbuler Viertel Besiktas weht. Flaggen flattern im Wind, weiss mit blauem Schriftzug die Banner der Sosyalist Demokrasi Partisi (SDP), der Partei der Sozialistischen Demokratie; gelb-rot jene der Toplumsal Özgürlük Platformu (TÖP), der Plattform für Freiheit in der Gesellschaft.
Junge Zivilpolizisten fotografieren und notieren emsig. Sie tragen fein karierte Hemden, das Funkgerät am Bund der Jeans und eine durchsichtige Wegwerfpelerine gegen den Nieselregen. Auf dem Platz unweit des 12. Istanbuler Strafgerichts haben sich knapp 200 Aktivisten und Sympathisanten eingefunden. Sie sind zusammen gekommen um ihre Genossen zu unterstützen, denen in den beiden kommenden Tagen der Prozess gemacht wird. Alte Sozialisten mit grauen Schnäuzen und grell geschminkte junge Frauen skandieren gemeinsam: «AKP, Polizei, Medien: Wir werden eure Einheit zerschlagen.»
Verdreifachtes Pro-Kopf-Einkommen
Die Macht der seit bald neun Jahren regierenden Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP), Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, ist ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung gefestigt wie nie zuvor. Dieses Jubiläum wird gefeiert mit Werbespots am Fernsehen, in denen mit Nachdruck das Versprechen wiederholt wird, das der Partei mit der leuchtenden Glühbirne im Logo bei den Wahlen vom vergangenen Juni 327 von 550 Sitzen im Parlament und Premierminister Recep Tayyip Erdogan eine dritte Amtszeit bescherte: Soziale und wirtschaftliche Stabilität für den Tigerstaat am Bosporus.
Seit die AKP an der Macht ist, hat sich das Pro-Kopf-Einkommen verdreifacht. Die eindrücklichen Wachstumsraten – neun Prozent im vergangenen Jahr – sprechen in den Ohren vieler Türken für ihren Premier. Übersehen wird dabei allerdings, dass die ökonomische Stabilität vor allem dem Zufluss ausländischen Kapitals geschuldet ist.
Die AKP verfolgt auf dem Feld der Wirtschaftspolitik eine klar neoliberale Linie. Die Schere zwischen Armen und Reichen öffnet sich immer weiter. Viele Familien sind hoch verschuldet, nicht zuletzt wegen der von der Regierung geförderten, weit verbreiteten Nutzung von Kreditkarten und der Vergabe von Konsumkrediten. Die Gewerkschaften stellen fest, dass immer mehr Menschen durch informelle Arbeitsverhältnisse und Niedriglöhne zu einem neuen Prekariat werden.
Erzfeinde auf der Anklagebank
Der Weg von der kleinen Kundgebung zum winzigen Saal Z03 des Gerichts wird von Wasserwerfern und hunderten Polizisten gesichert. Sie tragen Kampfmontur und Maschinenpistolen. Mit sieben Übertragungswagen stehen TV-Sender bereit, im klimatisierten Pressezentrum bereiten die Fernsehjournalisten ihre Aufsager für die Abendnachrichten vor. «Die Konstellation ist äusserst ungewöhnlich, das macht diesen Prozess interessant», kommentiert eine Mitarbeiterin von CNN Türk.
Vor den Richtern, die in ihren schwarzen Roben mit roten Stehkragen auf einem Podest über den Köpfen der Angeklagten und des Publikums thronen, sitzen politische Erzfeinde: Drei bekennende Linksterroristen und der ehemalige, hoch dekorierte Antiterrorpolizist Hanefi Avci; eine Hassfigur der Linken. Die lokalen Medien fokussieren ihre Berichterstattung auf diesen Mann. Beinahe geht vergessen, dass gleichzeitig über ein Dutzend führende Vertreter der legalen Organisationen TÖP und SDP angeklagt sind. Allen wirft der Staatsanwalt vor, Mitglieder oder Unterstützer der Gruppe Devrimci Karargah (DK) zu sein.
Elf Monate in Untersuchungshaft
Diese leninistische Gruppe, deren Name übersetzt «Revolutionäres Hauptquartier» bedeutet, trat vor drei Jahren mit Anschlägen auf ein AKP-Büro und eine Militärkaserne in Istanbul in Erscheinung. Als die Polizei die Gruppe im April 2009 verhaften wollte, lieferte sich eines ihrer Mitglieder ein stundenlanges Gefecht mit den Sicherheitskräften, feuerte mit vier Kalaschnikows aus den Fenstern seiner Wohnung. Ein Polizeioffizier und ein unbeteiligter Zivilist starben, bevor der Mann erschossen wurde.
Bereits seit elf Monaten sitzen die Angeklagten in einem Hochsicherheitsgefängnis vom F-Typ in Untersuchungshaft. Es ist das erste Mal, dass sich die Angeklagten verteidigen dürfen. Die Anklageschrift umfasst 34 dicke Ordner. Hauptverteidiger Ercan Kanar, ein bekannter und erfahrender Spezialist für solche Angelegenheiten, findet deutliche Worte zur Art und Weise, wie die Staatsanwaltschaft zu ihren Beweisen gelangt ist: «Illegal wurden Telefone abgehört, Computer beschlagnahmt oder Häuser durchsucht und von drei Belastungszeugen wissen wir bis heute nicht, ob es sie wirklich gibt.» Was es gebe, seien lediglich Indizien.
«Als Juristin kann ich diesen Prozess gar nicht beurteilen», ergänzt die Anwältin Deniz Tuna, die den in Basel wohnenden und in Abwesenheit Mitangeklagten Salih Mahir Sayin vertritt. Die Anklage sei so lückenhaft, dass sie eigentlich gar nicht für ein Strafverfahren ausreichen würde. «Die Unschuldsvermutung gilt hier nicht, das ist ein politischer Prozess», stellt Tuna trocken fest, bevor die beiden Anwälte durch den Hintereingang zurück in den Saal eilen. Dort, an der Wand hinter den Richtern, prangt in grossen Lettern: «Das Recht ist die Grundlage des Staats.»
Ergenekon als Anfang
«Politische Prozesse sind ein repressives Element und dienen der Einschüchterung», sagt Roy Karadag. Er ist Politologe am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) in Bremen und forscht schwerpunktmässig zur Türkei. «Die AKP», sagt er, «ist inzwischen zu mächtig geworden, um in ihren Demokratisierungsabsichten glaubwürdig zu sein. Notwendige Reformpläne interpretiert die Opposition allein als weitere Machtmonopolisierung.» Die AKP tue, was konservative türkische Regierungsparteien immer schon getan hätten: «Sie benutzt die staatlichen Institutionen, um ihre Macht zu festigen und auszuweiten.»
Als Paradebeispiel für Machtpolitik mit Hilfe der Gerichte gilt der Ergenekon-Fall, der sich seit einigen Jahren gegen den so genannten Tiefen Staat richtet, die Verflechtung von kemalistischen Ultra-Nationalisten aus Politik, Militär, Sicherheitsapparat und dem Organisierten Verbrechen.
«Als Ergenekon aufgedeckt wurde, freuten wir uns, dass endlich jemand aufräumt», sagt auch die SDP-Aktivistin Ekin Buldur, deren Ehemann ebenfalls der DK-Mitgliedschaft bezichtigt wird. «Aber jetzt hat Ergenekon Ausmasse angenommen, die niemand mehr ernst nehmen kann.» Rund 250 Generäle, Admiräle und andere zum Teil hochrangige Offiziere sitzen derzeit in Untersuchungshaft – mit ein Grund für den geschlossenen Rücktritt der Armeeführung im vergangenen Juli.
Mittlerweile scheint man für jede Farbe des politischen Spektrums einen Skandal und den dazugehörigen Prozess geschaffen zu haben. «Ergenekon für die Nationalisten, der KCK-Prozess für die Kurden und DK für uns», so Buldur. Ihre Erwähnung der KCK bezieht sich auf die laufenden Verfahren gegen angebliche Mitglieder der kurdischen Untergrundorganisation Koma Civaken Kurdistan (KCK), der Union der Gemeinschaft Kurdistans, in denen bisher rund 1800 Personen verhaftet wurden, darunter auch viele kurdische Bürgermeister.
Provokation durch Kurdenkontakte
«Die Linke in der Türkei soll diskreditiert werden», erläutert Anwalt Kanar das politische Kalkül der Prozesse gegen KCK und DK. Alle würden in einen Topf geworfen: Gewaltbereite Linke, legal arbeitende Politaktivisten und im Falle des DK-Prozesses auch noch der ehemalige Polizist Avci. «So wird die Öffentlichkeit an der Nase herum geführt. Damit sollen alle legalen linken Parteien und Gruppen kriminalisiert und unglaubwürdig gemacht werden.»
Nicht, dass die in der Türkei traditionell schwache Linke eine derartige Bedrohung für die Regierung wäre. Aber, wie Chefverteidiger Kanar erklärt: «Die Türkei hat am Beispiel der Kurden die Erfahrung gemacht, das eine kleine und marginale Organisation wie die PKK zur Bedrohung werden kann.»
Kommt hinzu, dass die der Mitgliedschaft zu DK bezichtigten legalen sozialistischen Gruppen SDP und TÖP im Begriff stehen, eine linke Dachpartei zu gründen, zu deren Programm die lautstarke Forderung nach einer wirklichen Lösung des Kurden-Problems gehört. Der Zeitpunkt der Verhaftungen der SDP- und TÖP-Kader im vergangenen September sei denn auch kein Zufall, sagt Kanar: «Es war mitten im Wahlkampf. Es war ein Zeichen an alle, keine zu engen Verbindungen in die Kurdengebiete zu knüpfen.»
Angeklagter mit Personenschutz
Der ehemalige Staatsbeamte Hanefi Avci ist jeweils schon im Saal, wenn die Gendarmen mit ihren olivgrünen Baretten die anderen Angeklagten hereinführen. Immer setzen sie ihn in eine Ecke des von einem hüfthohen Gitter abgegrenzten Gevierts, in dem die drei Anklagebänke für die 21 Angeklagten stehen. Er selber wird vor möglichen Angriffen aus den Reihen der Mitangegklagten durch zwei Gendarmen bewacht, die nie von seiner Seite weichen. Militärisch aufrecht sitzt er im eleganten dunkelblauen Zwirn auf der Bank, verfolgt aufmerksam den Prozess, macht sich Notizen.
Seine zweistündige Stellungsnahme vor dem Gericht beeindruckt sogar die anwesenden politischen Gegner. Sie ist der Publikumsmagnet des zweiten Prozesstages: Aus dem Pressezentrum quetschen sich die Medienschaffenden in den bereits vollen Raum, ebenso die Polizisten aus dem Vorraum, die sonst völlig desinteressiert auf den Plastikstühlen sitzen, und auch die drei Richter lauschen aufmerksam, während sie bei den Statements der Linken auch mal ein Nickerchen gönnen. «Er kennt das Gesetz und den Fall besser als die Richter», meint ein altgedienter Aktivist anerkennend. «Schliesslich war er mal einer von ihnen.»
Avci, der auch schon als zukünftiger Innenminister im Gespräch war, ist seine Reue zum Verhängnis geworden ist. Vor 14 Jahren prangerte er öffentlich die Methoden des Staates im Kampf gegen Linke und Kurden an und entschuldigte sich bei Menschen, die unter seinem Kommando gefoltert worden waren. Auf die Frage nach dem Grund für Avcis Kehrtwende antwortet sein Anwalt Refik Ali Uçarci: «Weil er ein Mensch ist. Er konnte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren.» Und er habe verstanden, dass er vom System gebraucht worden sein.
Freundschaften des reuigen Folterers
Mit einem seiner Opfer, Nedjdet Kilic, verbinde Avci bis heute eine tiefe Freundschaft, wie Uçarci erklärt. Die Freundschaft ging offenbar so weit, dass Avci die Wohnung des Geschäftsmannes Kilic als Liebesnest für die Stunden mit seiner Mätresse nutzten durfte. Auch Kilic sitzt jetzt auf der Anklagebank im Saal Z03, er soll als DK-Financier fungiert haben. Er ist die Schlüsselperson, die Avci mit der DK in Verbindung bringt: Von den bekennenden DK-Mitgliedern, die im Kontakt zu drei der angeklagten SDP-Parteigänger gestanden haben sollen, die wiederum mit Kilic zu tun hatten, macht die Anklage die gewagte Verbindung zwischen dem ehemaligen Guerilla-Jäger Avci und den Terroristen.
«Bis zum heutigen Tag kämpfte mein Mandant gegen Organisationen wie Devrimci Karargah, kein anderer Beamter hat mehr Terroristen verhaftet als er. Es ist ironisch und unlogisch, dass er hier angeklagt wird», ereifert sich sein Anwalt im Gespräch während der Mittagspause des zweiten Gerichtstags in einem kleinen Kaffee ausserhalb des Gerichtsgebäudes. Im Gerichtssaal hat der kleine Mann im beigen Anzug mit Halbglatze und Lesebrille ausser seinem Mitverteidiger wenig Freunde, mit den über dreissig Verteidigern der angeklagten Linken findet keine Kooperation über den ideologischen Graben statt: «Wir sind nicht auf derselben Seite und verteidigen nicht dasselbe.»
Uçarci hat die Verteidigung des prominenten Angeklagten übernommen, weil er als Oberinspektor im türkischen Innenministerium zuständig war für Avcis Polizeistellen, daraus sei eine Freundschaft entstanden. Freunde und Sympathisanten habe Avci immer noch viele, so der Anwalt, nämlich alle aufrechten Polizeibeamten, die sich nicht um Politik scherten, sondern nur einen guten Job machen möchten. Der Anwalt ortet die Feinde Avcis ganz oben: «Der ganze Prozess findet nur statt, um meinen Mandanten zu diskreditieren. Mein Mandat sitzt hier, weil er ein Buch geschrieben hat», sagt er.
Anatoliens fleissige Fromme und die CIA
Auf 600 Seiten hat Avci seine eigene Geschichte vorweg genommen – und er legt sich darin mit dem Mann an, von dem kaum jemand weiss, wie viel Macht er wirklich hat im Land. Fetullah Gülen, Imam und millionenschwerer Geschäftsmann, lebt seit über einem Jahrzehnt im selbst gewählten Exil an der US-Ostküste. Sein Imperium und die nach ihm benannte Bewegung beschäftigen den Recherchedienst des US-Parlaments ebenso wie zahlreiche Politologen und Nahost-Spezialisten. Demnach kontrolliert er Banken mit Einlagen in der Höhe von mehr als fünf Milliarden US-Dollar, Versicherungen, Zeitungen und Magazine sowie TV-Kanäle und Nichtregierungsorganisationen. Allein in der Türkei wird seine Anhängerschaft auf fünf Millionen Personen geschätzt.
«Baut Schulen statt Moscheen», lautet sein Motto. Eintausend sollen es bereits sein auf der ganzen Welt, in Nigeria und Aserbaidschan, aber auch in Deutschland und der Schweiz. Die Schulen sind bekannt dafür, auch Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringen finanziellen Mitteln aufzunehmen und ihnen eine ausgezeichnete Bildung zu ermöglichen.
In der Türkei sind viele – Linke ebenso wie Kemalisten überzeugt – hinter «der Bewegung» stehe der US-Geheimdienst CIA: So wollten sich die Vereinigten Staaten den Einfluss im muslimischen Nato-Land Türkei sichern, nachdem ihnen das Parlament in Ankara 2003 die Stationierung von Truppen für eine Nordfront gegen den Irak verweigert und auch die Überflugsrechte für US-Flugzeuge herausgezögert hatte. Ironischerweise wird die Bewegung auch in den USA aufmerksam verfolgt: Rechte Kreise wittern einen Masterplan zur schleichenden Islamisierung der US-Gesellschaft.
Avci, der den Gülenisten einst selber nahe gestanden haben soll, unterstellt in seinem Buch die Unterwanderung von türkischer Polizei und Justiz durch Anhänger der Bewegung: Illegale Abhöraktionen, politische Diskreditierung, fingierte Beweise und daraus angestrengte Prozesse seien deren Mittel, um missliebige Offiziere aus dem Sicherheitsapparat zu drängen.
Kemalisten gegen die Schattenregierung
Das kemalistische Establishment, das Avci repräsentiert, sieht dadurch die laizistische Republik von Mustafa Kemal Pascha bedroht. Die Armee gilt als das Rückgrat des Laizismus, und die Putschs der Militärs in den vergangenen vier Jahrzehnten erfolgten jeweils unter dem Vorwand, das Erbe des Republikgründers zu bewahren. Die ausufernden Ergenekon-Prozesse tragen nicht dazu bei, den Militärs und Kemalisten die Angst vor einer schleichenden Islamisierung der türkischen Gesellschaft zu nehmen.
Doch Gülen kann nicht in die Ecke radikaler Islamisten gestellt werden. Die Ideologie des Unternehmer-Imams deckt sich weitgehend mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik der islamisch geprägten AKP, welche die kemalistische Oligarchie entmachtete: «Die AKP verkörpert das Grüne Kapital», erklärt Karadag. Damit meint der Wissenschaftler das seit Mitte der 80er-Jahre aufstrebende anatolische Unternehmertum, mit dessen Erstarken die Entstehung der islamisch-konservativen AKP vor zehn Jahren eng zusammenhängt. Aus eben dieser gesellschaftlichen Schicht rekrutieren sich die Anhänger Gülens. Karadag glaubt: «Der AKP liegt viel daran, dass gewisse Dinge wie ihre Nähe zu Fetullah Gülen nicht in er Öffentlichkeit diskutiert werden.»
In seinem Plädoyer vor den Richtern wird der Anwalt Avcis in Anspielung an Gülens Exil rhetorisch fragen: «Wo wird dieser Prozess entschieden? Hier im Gericht oder in Pennsylvania?» Dass die Anschuldigungen in Avcis Buch der Grund sind, dass dieser vor Gericht gezerrt wird, davon geht auch der Journalist Ismail Saymaz der Tageszeitung Radikal aus, er relativiert allerdings den Vorwurf, die Gülen-Bewegung per se bedrohe den Staat: «Gülenist zu sein, macht jemanden noch nicht zum Problem für die Demokratie.» Das Problem seien die illegalen Methoden, mit der die Bewegung ihre Anhänger in staatlichen Institutionen platziere – insbesondere Polizei, Antiterrorpolizei und Polizeinachrichtendienst. Saymaz ist ein Kenner der Materie, wegen seines Buches über den Fall Avci und dessen angebliche Verbindung zu DK hat auch er mehrere Prozesse am Hals. «Es herrscht eine neue Hegemonie im Land. Die Gülen-Bewegung agiert wie eine Schattenregierung. Jeder in der Türkei weiss, dass Avci nicht Teil von Devrimci Karargah sein kann.»
Überraschung nach Mitternacht
Es ist nach Mitternacht, als die drei Richter den Saal räumen lassen und sich zur Beratung zurückziehen. Man versammelt sich draussen vor den Absperrgittern, hinter denen die Gefängnisbusse mit laufenden Motoren stehen. Einige der Polizisten haben ihre weissen Helme aufgesetzt, die Schutzmasken baumeln an ihrer Seite, sie formieren sich hinter ihren Plexischilder zur Linie, um die Menschen zur Seite drücken zu können, die darauf warten, einen letzten Blick auf die angeklagten Genossen zu werfen und Parolen zu rufen. Die Stimmung unter den Gerichtsbesuchern ist nach zwei anstrengenden Tagen im Gerichtssaal gedrückt, niemand erwartet eine glückliche Wendung, die Angeklagten durften sich zwar immerhin verteidigen, auf ihre Argumente gingen die Richter aber nicht ein.
Plötzlich trifft die Meldung ein, mit der niemand gerechnet hat: Acht der Angeklagten STP- und TÖP-Politiker werden aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie bleiben zwar angeklagt, aber offenbar waren die Beweise für die Richter nicht stichhaltig genug, um sie weiter in Haft zu behalten. Auch jene drei SDP-Aktivisten, über die Avcis Verbindung mit der DK in hergestellt wird, kommen frei. Vorher werden aber alle wieder ins Gefängnis gefahren, die meisten ins knapp 150 Kilometer entfernte Gefängnis Tekirdag. Einer der Freigelassenen, Oguzhan Kayserilioglu, Sprecher der TÖP, erzählt am nächsten Tag: «Wir haben es den Gendarmen nicht geglaubt, dass einige von uns freigelassen werden sollen, wir haben die drei Stunden im Bus bis zum Gefängnis geschlafen. Erst als sie mir im Gefängnis sagten, ich solle meine Sachen aus der Zelle holen, habe ich gemerkt, dass es stimmt.»
Avci bleibt in Haft. Mehrere Beobachter glauben, dass er im Zusammenhang mit dem DK-Verfahren nicht mehr lange wird festgehalten werden können. Für den Fall , dass die Beweiskette zwischen dem Polizeioffizier und den Linksterroristen weiter bröckeln sollte, ist vorgesorgt. Während Avci in Untersuchungshaft sass, wurde gegen ihn Anklage in einem Ergenekon-Fall erhoben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine