Jeder siebte US-Amerikaner lebt von Food Stamps
In der Schweiz, Deutschland oder in Skandinavien wäre dies undenkbar: Jeder siebte Amerikaner ist heute beim Einkauf von Lebensmitteln auf staatliche Unterstützung angewiesen. Es sind 46 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die laut offizieller Statistik «Food Stamps» beziehen – 70 Prozent mehr als vor Ausbruch der Finanzkrise. Sie bekommen keine Essensmarken aus Papier mehr, sondern Plastikkarten, die mit dem Monatswechsel automatisch aufgeladen werden. Jeweils am 1. des Monats kommt es zu einem Run in Billigketten wie Wal-Mart.
Dank diesen Essens-Zuschüssen, Leistungen sowie Krankenversicherung für Bedürftige (Medicaid) und weiteren staatlichen Zuschüssen können sich die meisten Armen in den USA heute materiell etwas mehr leisten als vor dreissig Jahren, zum Beispiel ein Air-Conditioner.
Republikaner wollen Lebensmittel-Hilfe kürzen
Doch das kostet den Staat eine Menge Geld. Allein die Kosten der Essenshilfe, des «Supplemental Nutrition Assistance Program» oder auch «Food Stamp Programm» genannt, stiegen seit 2007 in nur vier Jahren auf über das Doppelte, nämlich 78 Milliarden Dollar im Jahr 2011. Im laufenden Wahlkampf erklärten die Republikaner, dieses Programm und andere Hilfsprogramme stark reduzieren zu wollen. Viele der Hilfe-Empfänger seien übergewichtig, lautet eines ihrer Argumente.
Gegen dieses Ansinnen der Republikaner laufen die Demokraten und soziale Einrichtungen Sturm: «Die Republikaner wollen sehenden Auges Millionen Amerikaner hungern lassen», empört sich Joel Berg, Chef der «New Yorker Koalition gegen Hunger», die Suppenküchen und Ausgabestellen für Lebensmittel organisiert.
Hunderttausende mit weniger als 60 Franken pro Monat
Im «reichsten Land der Welt», den USA, gibt es auch extreme Armut: Menschen, die noch miserabler dran sind als früher. Wiederum laut offiziellen Einkommens-Statistiken sind es mehrere Hunderttausend Familien, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag oder 60 Franken pro Monat auskommen müssen – für Wohnen, Essen, Verkehrsmittel, Schulmaterial etc.
Von den 312 Millionen Einwohnern sind zwar nur wenige betroffen. Doch in den Südstaaten Louisiana, Mississippi, Alabama und einigen Countys in Texas machen die Ärmsten unter den Armen fast ein Fünftel der Bevölkerung aus. Die Einkommens- und Vermögensunterschiede sind in diesen Staaten extrem (Gini-Koeffizient nahe 1).
Nährboden für Tropenkrankheiten
In diesen Elends-Gebieten der USA breiten sich tropische Krankheiten aus wie in Latein- und Zentralamerika, Zentralafrika, Indien oder Südostasien: Dengue-Fieber, Zystizerkose (Einlagerungen von Bandwürmern in Unterhaut, Muskulatur, Leber, Bauchfell und Gehirn), endemisches Fleckfieber (wegen schlechter sanitärischer Verhältnissen und Kontakt mit Ratten).
Peter J. Hotez, Direktor des «Sabin Vaccine Institute and Texas Children’s Hospital Center for Vaccine Development», zählte in der New York Times weitere Tropenkrankheiten auf, die unter den Armen im Süden der USA verbreitet sind: Rund 2,8 Millionen Schwarze leiden an Toxokariasis, welche Wurmlarven verursachen, die sich über den Darm und den Kreislauf im Körper verbreiten. Und über 300’000 «Hispano-Americans» haben die Chagas-Krankheit, die das Nervensystem, den Verdauungstrakt und das Herz angreift. Übertragen wird diese Krankheit vor allem durch Blut saugende Insekten.
Die meisten Betroffenen leben in abbruchreifen Behausungen, können sich keine Air Condition leisten und schlafen ohne Insektenschutz, erläutert Hotez. Zudem fehle es an Abwassersystemen und an der Abfallbeseitigung.
Viele der Kranken könnten sich keinen Arzt leisten. Und in Gemeinden, wo es kostenlose Gesundheitszentren gibt, würden häufig die nötigen Mittel zur Diagnose fehlen und das Personal sei zu wenig ausgebildet.
«In der Armutsfalle gefangen»
Falls nichts unternommen werde, warnte der Spezialist für tropische Krankheiten, würden diese Teile der Bevölkerung in der Armutsfalle gefangen bleiben.
Vor fünfzig Jahren sei das Buch von Michael Harrington «The Other America: Poverty in the United States» ein nationaler Bestseller geworden. Heute würde die Armut wenig Schlagzeilen machen, obwohl in den USA «mehr Menschen denn je in grösster Armut leben», stellte Peter J. Hotez fest.
Eine Studie der Denkfabrik «Center for American Progress», die den Demokraten nahe steht, beziffert die landesweiten Kosten des Hungers auf umgerechnet rund 200 Milliarden Franken im Jahr. Ihr Fazit: «Der Preis, den unser Land für die Folgen zahlt, ist viel höher als der, den wir zahlen müssten, um dem Hunger ein Ende zu setzen.»
Doch die Ärmsten haben keine Lobby. Sie schreiben sich auch kaum in den Wahlregistern ein und zählen deshalb bei der Wahl des Präsidenten nicht zu den Stimmberechtigten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine