Indiens holprige Anfänge in Richtung Bio-Landwirtschaft
Der indische Bundesstaat Sikkim ist nicht gerade ein Ort, an dem man eine Öko-Revolution vermutet. Der kleine Bergstaat liegt zwischen Nepal, Tibet, Bhutan und dem indischen Westbengalen in den Bergen im Nordosten Indiens. Die auf 1‘800 Metern Höhe gelegene Hauptstadt Gangtok ist ein beliebter Ausgangspunkt für Himalaya-Treks. Bilder der bunten Häuser zieren Internetportale wie Pinterest und Instagram. Wie auch immer sich Kolumnisten gelegentlich die Öko-Diktatur vorstellen, so jedenfalls nicht.
Der Strom in Sikkim stammt aus Wasser- und Solarenergie, Plastiktüten sind verboten, genauso wie Kunstdünger und Pestizide. Der indische Bundesstaat setzt seit 2015 zu 100 Prozent auf ökologische Landwirtschaft und ist damit der einzige zertifizierte Bio-(Bundes-)Staat der Welt. Ausgerechnet in Indien, das sonst eher durch vergiftete Flüsse, Industrieskandale und Pestizidexzesse auf sich aufmerksam macht. Die Regierung in Gangtok wurde mehrmals mit Nachhaltigkeitspreisen ausgezeichnet.
«Bio» per Parlamentsentscheid
Diese Verwandlung per Staatsräson war alles andere als blauäugig, und sie ging auch nicht schnell. Schon 2003 fasste das Parlament auf Betreiben des noch heute amtierenden Premierminister Pawan Kumar Chamling den Beschluss, in Sikkim die Öko-Landwirtschaft einzuführen. Die vollständige Umstellung dauerte in Sikkim bis Ende 2015.
Die Voraussetzungen dafür waren gut. Die Landwirtschaft Sikkims ist kleinteilig und produziert vor allem für den eigenen Bedarf. Exportiert werden vor allem Tee und Kardamom, für den Sikkim weltweit der wichtigste Produzent ist. Die meisten Bewohner des Gebirgsstaates sind Bauern und bewirtschaften nur ein bis zwei Hektaren Land, die oft terrassiert an einem Hang liegen. Schon deshalb gibt es kaum maschinelle Landwirtschaft. Bereits 2003 war im Vergleich mit China, Deutschland oder den USA sehr viel weniger Kunstdünger im Einsatz.
Ab 2005 verzichtete Sikkim auf den subventionierten Kunstdünger aus Delhi, liess die ersten 8‘000 Hektaren biozertifizieren und fing an, Schulungsprogramme für Biolandwirte aufzulegen. Wer seit 2016 Pestizide einführt oder benutzt, zahlt eine relativ hohe Strafe und muss sogar mit Gefängnis rechnen.
Verbot konventioneller Produkte wurde fallengelassen
Konventionell angebautes Gemüse und Getreide dürfen weiter importiert und verkauft werden. Ursprünglich wollte die Regierung den Import konventioneller Produkte ab April 2018 verbieten, zog das Vorhaben aber im Januar 2018 zurück und deckelte den Preis für die viel teurere Bioware.
Denn einige andere Voraussetzungen waren weniger gut. Sikkim hat 650‘000 Einwohner, dazu kommen fast eine Million Touristen. Die bergige Region setzt der Produktion jedoch enge Grenzen. Nur 11 bis 15 Prozent des Landes in Sikkim sind landwirtschaftlich nutzbar. Schon vor der Umstellung war es auf Lebensmittelimporte angewiesen. Einige Produkte wie Getreide, Kartoffeln und Zwiebeln kann das Land nicht in ausreichender Menge produzieren. Autark werde Sikkim bei allen Anstrengungen nie werden, sagt Laxuman Sharma, Experte für Gartenbau an der Sikkim Universität in Gangtok, im Magazin «Brand Eins».
Dazu kommt die rudimentäre Infrastruktur. Viele Felder sind abgelegen, Strassen unwegsam und manchmal vorrübergehend nicht passierbar. Biologische Pflanzenhilfsmittel, Saatgut und Kompost sind nicht immer in ausreichender Menge verfügbar oder kommen nicht rechtzeitig an, die Bauern kämpfen mit Schädlingen. Für Produktion und Export leicht verderblicher Produkte reicht die Infrastruktur vielerorts nicht aus.
Das meiste kosteten die Bio-Zertifizierungen
Und Sikkim ist arm. Von den Mitteln, die für die Umstellung bereitstanden, wurde der grösste Teil für Biozertifizierungen verwendet. Industriepartnerschaften wie bei Produkteinführungen der Agrarindustrie gibt es nicht. Die Bio-Umstellung verläuft holprig. Die Erträge sind gefallen, was die Bauern erwartet hatten. Die höheren Erlöse aus Bioprodukten, kalkulierte die Regierung, könnten den Rückgang ausgleichen. Zudem fallen für die Produzenten die Kosten für Dünger und Pestizide weg.
Die meisten Experten sind zuversichtlich, dass die Erträge längerfristig steigen. Und es gibt Lichtblicke. Durch die Umstellung auf Kompost, Mischkultur und Fruchtfolge hat sich der Gemüseanbau intensiviert. Das Programm hat die in Sikkim grassierende Landflucht gestoppt. Der biologische Landbau ist personalintensiver als der konventionelle, was in einer Gegend mit Arbeitslosigkeit von Vorteil ist. Das Experiment lockt auch zusätzliche Touristen an. Das «saubere» Sikkim sei wie «Indien ohne Müll» schreiben mehrere Blogger und Journalisten, die das Land besucht haben. Vor kurzem interessierten sich Japan und Südkorea sowie die Ukraine für Obst und Gemüse aus Sikkim, berichtete der «Telegraf of India».
Einige indische Bundesstaaten erwägen, Sikkihms Beispiel zu folgen. Karnataka, Tamil Nadu, Mizoram, Himachal Pradesh, Madhya Pradesh, Gujarat und Maharashtra haben bio-freundliche Gesetze. Andhra Pradesh will bis 2024 auf Pestizide verzichten. Kerala und Uttarakhand haben angekündigt, vollständig auf ökologischen Ackerbau umstellen zu wollen. (Wikimedia/Daniela Gschweng)
Das Importgemüse auf dem Markt in Gangtok kostet jedoch noch immer weniger als das heimische. Und die Käufer wählen nicht zuletzt nach dem Portemonnaie. Der Bauer Amrit Pradhan gibt gegenüber dem «Guardian» der Hoffnung Ausdruck, dass die Regierung mehr in die Aufklärung der Konsumenten investieren wird. Ein Argument, dass einem bekannt vorkommt. Womöglich ist es mit dem günstigen Importprodukten auch bald vorbei. Das benachbarte Königreich Bhutan hat angemeldet, ebenfalls auf «100% organic» umstellen zu wollen. Und im ebenfalls benachbarten indischen Staat Bengalen läge der Bio-Anteil bereits bei 30 Prozent, berichtete «Umweltinstitut München e.V.» vor einem Jahr.
Sikkim hat Vorbildfunktion für grössere indische Staaten
Mehrere andere indische Staaten wollen Sikkims Beispiel folgen, einige haben bereits bio-freundliche Gesetze oder Prozesse. Vor einem Jahr kündigte der Ministerpräsident von Andhra Pradesh an, bis 2024 auf Pestizide verzichten zu wollen. Kerala, das im Februar bereits die Nutzung von Glyphosat verboten hat, hat angekündigt vollständig ökologisch wirtschaften zu wollen. Was jetzt in einem Zwergenstaat wie Sikkim stattfindet, würde dadurch eine andere Dimension bekommen. Sowohl Andhra Pradesh wie Kerala sind Flächenstaaten mit ausgeprägter Landwirtschaft, von der Millionen Menschen leben.
Für die indischen Bundesstaaten ist das Vorhaben ein Risiko, aber auch eine Flucht nach vorne. Indien hat seit Jahren ein Agrarproblem. Während die Preise am Weltmarkt fallen, werden die Produktionsmittel teurer. Dass die konventionelle Intensivwirtschaft in Indien schon seit längerem nicht mehr funktioniert, sieht man nicht nur an den Schlagzeilen, wenn wieder eine Suizid-Welle durch Indien rollt, weil tausende Bauern ihre Schulden nicht mehr bedienen können.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Herzlichen Dank für den Mut machenden Artikel.
Die Schweiz könnte einen riesigen Schritt machen in Richtung einer Bio-Landwirtschaft durch Annahme der Trinkwasser-Initiative 2020.
Den Vorbild-Charakter eines innovativen Kleinstaates sollte sich auch die Schweiz immer wieder bewusst machen, z.B. bei der Klimadiskussion – wir könnten ruhig voran gehen!
Aus Indien kommt auch die erfolgreiche Gandhi-Nachfolge-Bewegung Ekta Parishad. Angeführt von Rajagopal P.V. startet sie am 2.10.2019 in Delhi einen einjährigen Friedensmarsch für Gerechtigkeit und zur gewaltlosen Völkerverständigung zum UNO-Hauptquartier in Genf:
https://www.jaijagat2020.org/
Jede Organisation und jeder Mensch ist dazu aufgerufen, bei dieser auf Dialog und Gewaltfreiheit aufbauenden Aktion mitzumachen. Alle sollen ihre Gedanken für eine bessere Welt einfliessen lassen, so dass dieser Marsch zu einem mächtigen Strom anschwellen kann, am Schluss – im September 2020 – durch die Schweiz.
Wir machen mit:
https://www.friedenskraft.ch/blog/es-braucht-achtsamkeit-damit-man-die-eigene-wut-erkennt
Und Sie?