«In liberalen Demokratien sind Juden sicherer als in Israel»
«Nur Menschen verfügen über Grundrechte, Staaten nicht»: Unter diesem Titel stellte Peter Beinart fest, dass das Existenzrecht Israels anders betrachtet werde als das Existenzrecht anderer Staaten. Der liberal-orthodoxe Jude und Professor für Journalismus und Politikwissenschaften an der City University of New York trat in einem Gastbeitrag der «New York Times» für einen anderen jüdischen Staat ein. Über diese Sicht informieren grosse Medien selten, weshalb wir sie hier dokumentieren.
Die entscheidendere Frage sei nicht das Existenzrecht eines Staates, sondern ob ein Staat die Rechte aller Menschen unter seiner Herrschaft schütze («States don’t have a right to exist. People do»).
Bei Staaten wie Iran, China oder auch Georgien würden westliche Regierungen häufig fordern, dass die individuellen Rechte der Menschen respektiert werden. Wenn die individuellen Rechte schwer verletzt werden, würden sie Sanktionen verhängen und strebten einen Regimewechsel an.
Im Jahr 2017 argumentierte John Bolton, später nationaler Sicherheitsberater in der ersten Trump-Regierung, dass «die erklärte Politik der Vereinigten Staaten der Sturz des Mullah-Regimes in Teheran sein sollte». Im Jahr 2020 bezeichnete Aussenminister Mike Pompeo die Volksrepublik China als «marxistisch-leninistisches Regime» mit einer «bankrotten totalitären Ideologie». Bolton, Pompeo und andere hätten diese Länder nicht nur dazu gedrängt, einen bestimmten Machthaber zu ersetzen, sondern ihr politisches System zu ändern – und damit im Wesentlichen den Staat neu zu konstituieren.
Im Jahr 2020 erklärte Aussenminister Pompeo, dass die Gründer der USA der Ansicht waren, dass «die Regierung nicht dazu da sei, die Rechte des Einzelnen nach Belieben der Machthaber zu beschneiden oder aufzuheben, sondern sie zu sichern». Er stellte die rhetorische Frage, ob Staaten, welche individuelle Rechte verweigern, ein «Existenzrecht» in ihrer jetzigen Form hätten.
Im Januar 2025 versprach US-Aussenminister Blinken, dass die USA den Syrern beim Aufbau eines «inklusiven, nicht-sektiererischen» Staates helfen würden. Das Kriterium «inklusiver, nicht sektiererischer Staat» wendet er beim Staat Israel, wie er heute existiert, offensichtlich nicht an.
Der Staat Israel werde nicht danach beurteilt, obwohl er die Palästinenser unter ihrer Kontrolle systematisch benachteilige, sagte Beinart. Doch laut Beinart sollten alle Staaten gleich beurteilt werden: Wahren sie die Rechte und Würde aller Menschen, die unter ihrer Kontrolle stehen?
Im Westjordanland und in Gaza seien die Araber entrechtet, obwohl sie unter Israels Herrschaft lebten. Israel kontrolliere den Luftraum, die Küste, das Bevölkerungsregister und die Landübergänge des Gazastreifens. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch würden Gaza als «Freiluftgefängnis» bezeichnen.
Selbst die Palästinenserinnen und Palästinenser, die in Israel leben und «israelische Araber» genannt würden, seien rechtlich benachteiligt. Beispielsweise dienten Institutionen wie der Jüdische Nationalfonds nach eigenen Angaben primär jüdischen Interessen. Der Nationalfonds besetzt fast die Hälfte der Sitze in der staatlichen Behörde, die den Grossteil des Grund und Bodens Israelis kontrolliert und verwaltet.
Ami Ayalon, der ehemalige Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, habe bereits vor dem aktuellen Krieg im Gazastreifen gewarnt: «Wenn wir weiterhin Demütigung und Verzweiflung verbreiten, wird die Hamas an Popularität gewinnen. Und wenn wir es schaffen, die Hamas von der Macht zu verdrängen, bekommen wir Al-Kaida. Und nach Al-Kaida kommt Isis, und nach Isis, weiss Gott, was kommt.»
Am 7. Oktober töteten Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad etwa 1200 Menschen in Israel und entführten etwa 240 weitere. Auf dieses Massaker reagierte Israel mit einem Angriff auf Gaza, bei dem nach Schätzungen des britischen Medizinjournals «The Lancet» mehr als 60’000 Menschen getötet und die meisten Krankenhäuser, Schulen und landwirtschaftlichen Betriebe des Gazastreifens zerstört wurden. Beinart hält die Zerstörung des Gazastreifens für ein erschreckendes Beispiel dafür, dass es Israel nicht gelingt, das Leben und die Würde aller Menschen zu schützen, die seiner Autorität unterstehen.
«Ein jüdischer Staat kann nicht demokratisch sein»
Laut Beinart gibt es einen fundamentalen Konflikt zwischen der rechtlichen Vorrangstellung der ethno-religiösen Gruppe der Juden und dem demokratischen Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Er kritisiert, dass führende Juden in den USA an der Idee eines rein jüdischen Staates festhielten, selbst wenn die Rechte anderer Bevölkerungsgruppen dadurch verletzt würden.
Nach jüdischer Tradition seien Staaten lediglich Instrumente, um Leben zu schützen. Auch der orthodoxe israelische Denker Yeshayahu Leibowitz verlange, dass Staaten danach beurteilt werden sollen, wie sie ihre Menschen behandeln.
Doch die israelische Regierung und manche Juden im Westen würden eine Gleichstellung von Juden und Palästinensern ablehnen, weil sie am Konzept eines jüdischen Staates festhalten wollen.
Jüdische Führer und amerikanische Politiker seien gegen eine Gleichstellung von Palästinensern und Juden – «denn das würde das Existenzrecht Israels als jüdischen Staates in Frage stellen».
«Die Entrechtung der Palästinenser gefährdet letztlich auch die Juden»
Die Diskriminierung und Entrechtung der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und auch in Israel trage zur Radikalisierung der Palästinenser wesentlich bei und fördere Gewalt. Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober habe gezeigt, dass der Staat Israel nicht in der Lage sei, das Leben aller Menschen unter seiner Kontrolle zu schützen.
Das stets vorgebrachte Argument der Sicherheit der Juden in Israel sei zweifelhaft: Tatsächlich seien Juden in liberalen Demokratien, wo sie rechtliche Gleichstellung geniessen, sicherer als in Israel, wo sie ständig bedroht seien.
Anstatt Israel bedingungslos zu unterstützen, sollten sich US-Politiker und jüdische Organisationen für einen jüdischen Staat einsetzen, der die Rechte aller Menschen unter seiner Kontrolle schützt: «Eine inklusivere und gerechtere Regierungsform gewährleistet Frieden und Sicherheit langfristig besser.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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