«Ich hoffe auf Koalitionsregierung ohne Erdoğan»
Red. Hakki Keskin war zwei Jahre lang Planungsberater im Stab des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. 1982 wurde er Professor für Politik und Migrationspolitik in Hamburg. Von 2005-2009 gehörte er der Linksfraktion im Deutschen Bundestag an.
Bemerkenswertes Wahlresultat
Die AKP, die Partei Erdoğans, verdankt ihre 13 Jahre lange Regierungszeit vor allem der weltweit einmaligen Hürde von 10 Prozent bei den Parlamentswahlen sowie der ständigen Propaganda, eine Koalitionsregierung führe das Land in die Instabilität. Doch am 7. Juni haben sich die Wähler für neue Mehrheiten im Parlament der Türkei entschieden. Erdoğan und seine Partei haben eine klare Niederlage erlitten und die absolute Mehrheit im Parlament verloren.
Damit ist der Zug Erdoğans, der immer schneller in Richtung Diktatur führte, gestoppt. Der Entscheid der türkischen Wählerinnen und Wähler verdient Respekt. In einer Situation der ernsthaften Bedrohung hat sich das türkische Volk für die Demokratie entschieden. Es hat bewiesen, dass kein Grund für Hoffnungslosigkeit besteht, die viele Menschen erfasst hatte.
Das Wahlresultat ist umso bemerkenswerter, als die Wahlen unter völlig ungleichen Bedingungen zu Lasten der Oppositionsparteien durchgeführt wurden. Erdoğan hatte entgegen seines im Parlament geleisteten Eids, sein Amt parteiübergreifend zu führen, bei mehr als 40 Veranstaltungen für die AKP und gegen die Oppositionsparteien massiv Partei ergriffen.
Für Stabilität braucht es keine Einpartei-Regierung
Wenige Stunden nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse brachte die AKP Neuwahlen ins Spiel. Doch über Neuwahlen sollte erst gesprochen werden, wenn verschiedene Möglichkeiten für die Bildung einer Regierung zu keinem Ergebnis führen. Dazu braucht es nicht die Mehrheit einer einzigen Partei, wie die seit Jahren andauernde Propaganda der AKP weismacht. Diese Behauptung zeigt eine Respektlosigkeit gegenüber der Wählerentscheidung.
Die ständige Behauptung, dass nur eine von einer einzigen Partei getragene Regierung für die politische und ökonomische Stabilität sorgen könne, wird von den Ergebnissen der 13-jährigen Einpartei-Regierung klar widerlegt. Sie führte die Türkei sowohl innen- als auch aussenpolitisch in eine Sackgasse. Sie trat Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Justiz, Laizismus, Achtung der Verfassung und Gesetze, Presse- und Meinungsfreiheit, Menschenrechte und gesellschaftlicher Frieden rücksichtslos mit Füssen.
Noch nie so viele Korruptionsskandale
Die Türkei erlebte in ihrer Geschichte noch nie derart viele Bestechungen, Korruptionsskandale und Bereicherungen der Regierenden. Die nach Konsumwachstum orientierte Wirtschaftspolitik hat zu einer grossen Auslandsverschuldung geführt und steht vor grossen Herausforderungen.
Beinahe mit allen Nachbarstaaten sind die Beziehungen schlecht oder gar abgebrochen. Mit Syrien könnte jeder Zeit ein provozierter Krieg ausbrechen. Aussen- und innerpolitisch hat das Ansehen der Türkei erheblich Schaden genommen.
Diese besorgniserregende und zunehmend bedrohliche Lage des Landes wurde von einer grossen Mehrzahl der Medien, die der Regierung AKP nahe stehen, sowie von zahlreichen öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, die zu Regierungshelfern degradiert wurden, Tag für Tag schöngeredet. Kritische Medien mussten unter vielseitigen Repressalien leiden. Nun hat ein grosser Teil der Bevölkerung die ernste Lage erkannt und ihr Einhalt geboten.
Die Türkei braucht eine Koalitionsregierung
Seit dem zweiten Weltkrieg wurden alle Regierungen in Deutschland als Koalitionsregierungen gebildet. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind auch in den westeuropäischen Staaten Koalitionsregierungen üblich und erzielten in ihren Ländern beachtliche Erfolge. Deshalb ist die Behauptung Erdoğans und seiner Partei AKP, Koalitionsregierungen können nicht erfolgreich sein und führten zur politischen Instabilität, unbegründet. Die Türkei sollte daher ihre Erfahrungen mit Koalitionsregierungen und die politische Kultur der Konsensfindung erproben und daraus lernen.
Die drei Oppositionsparteien sollten zusammen finden
Selbstverständlich machen Koalitionsregierungen einen Konsensfindungsprozess erforderlich. Die Wahlergebnisse vom 7. Juni in der Türkei ermöglichen verschiedene Zusammensetzungen einer Koalitionsregierung. Nach meinem Dafürhalten sollten vorerst die drei Oppositionsparteien, nämlich
- die sozialdemokratische «Republikanische Volkpartei» (CHP), 132 Sitze;
- die konservative «Nationale Bewegungspartei» (MHP), 80 Sitze, und
- die kurdenorientierte «Demokratische Partei der Völker» (HDP), 80 Sitze
zusammen die Regierung bilden und die AKP damit vom Regieren ausschliessen.
Die MHP, aber auch Teile der CHP hegen erhebliche Vorbehalte gegenüber den Forderungen der Kurdenpartei HDP, die zu einer Teilung des Landes führen könnten. Dies erschwert die Bildung einer solchen Koalitionsregierung. Gerade eine solche Regierungsmehrheit jedoch könnte Erdoğan und seine Partei AKP hinsichtlich ihrer Demontage der Demokratie, des Rechtsstaates, des Laizismus, der Verstösse gegen Verfassung und Gesetze sowie für eine nachhaltige Untersuchung der Korruptionsskandale gründlich zur Rechenschaft ziehen.
Kurdenpartei mit der AKP von Erdoğan
Wenn die Bildung einer solchen Dreier-Oppositionsparteienregierung nicht möglich sein sollte, kann die Kurdenpartei HDP (80 Sitze) mit der AKP (258 Sitze) eine Koalitionsregierung eingehen. Die Beiden Parteien arbeiten seit Jahren zusammen, um die Kurdenfrage zu lösen. Während des Wahlkampfs kam es zwischen diesen Parteien allerdings zu heftigen gegenseitigen Attacken und Beschuldigungen. Dennoch wäre eine solche Koalition machbar.
Weitere Koalitionsregierungen sind zwischen AKP/CHP oder AKP/MHP möglich. Die Parteibasis vor allem der CHP aber auch der MHP wird die Bildung einer solchen Koalitionsregierung, was ich hoffe, nur akzeptieren, wenn folgende Forderungen, die von CHP und MHP im Wahlkampf den Wählenden versprochen wurden, in einem Koalitionsvertrag vereinbart sind:
- Unter Beibehaltung der unveränderlichen ersten drei Artikel der Verfassung der Türkei, sollten alle Gesetze und Verstosse der AKP, darunter das neue Geheimdienstgesetz, dahingehend überprüft werden, in wieweit sie vor allem mit dem Grundsatz der Verfassung des «demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaates» zu vereinbaren sind. Vor allem die ganz erheblich beschädigte Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz sollten wieder hergestellt werde.
- Das Bildungswesen sollte nach zeitgenössischen Grundlagen neu reformiert, die Unabhängigkeit der Hochschulen und der öffentlich-rechtlichen Medien gesetzlich verankert werden.
- Bei den Parlamentswahlen sollte nunmehr eine deutlich niedrige, etwa 3 Prozent Hürde gelten und die bislang reichlich angewandten Manipulationen und Fälschungen bei den Wahlen durch Gesetzesänderungen in Zukunft verhindert werden.
- Die Verantwortlichen der Korruptionsskandale, bei denen es um über 130 Milliarden Euro geht und die das Land tief erschüttert hatten, sollten konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Die Politik darf nicht mehr, wie dies weit verbreitet ist, ein Mittel zur Bereicherung sein. Korruptionen und Bereicherungen sollten mit härteren Gesetzen bestraft und für Politiker zu einem Ausschluss aus der Politik führen.
- In der Wirtschaftspolitik sollte anstelle der bisherigen Konsumorientierung, die Erhöhung der Produktion bei Industrie und Landwirtschaft Priorität haben.
- Die Aussenpolitik sollte sich erneut nach dem Grundsatz von Atatürk «Frieden im Lande, Frieden in der Welt» orientieren. Mit den Nachbarstaaten sind gutnachbarliche Beziehungen anzustreben. Die Türkei darf sich nicht in die innerpolitischen Angelegenheiten anderer Länder einmischen, wie dies vor allem in der Syrien der Fall war. Gegen alle Terror-Organisationen sollte die Türkei in enger Kooperation mit Syrien, Irak und Iran gemeinsam vorgehen. Die Vereinbarung der AKP mit den USA, die gegen Staatspräsident Assad kämpfenden Personen, meistens Mitglieder von Terrororganisationen, im Rahmen des sogenannten Programms «Bilden und Bewaffnen» in der Türkei für den Krieg zu trainieren, muss sofort gekündigt werden.
- Ohne die Einheit des Landes zu gefährden, sollte die PKK zum Aufgeben des bewaffneten Kampfes gedrängt und mit der etablierten Kurdenpartei HDP im Parlament eine Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden. Die MHP lehnt jedoch kategorisch eine Beteiligung über diesen letzten Punkt ab.
Die oppositionellen türkischen Medien berichten in diesen Tagen darüber, dass die AKP die fehlenden 18 Stimmen für ihre Mehrheit im Parlament durch Transfer von Abgeordneten aus den Reihen der Oppositionsparteien erreichen will. Die hierfür notwendige 30 bis 40 Millionen US-Dollar stünden in Katar bereit, so die Behauptung. Für AKP gehört diese Versuchung zu ihrer praktizierten Politik. Dennoch scheint es höchst schwierig zu sein, so viele bestechungsbereite Abgeordnete zu finden. Gelingt dies nicht, so kann die AKP für eine kurze Zeit auch eine Minderheitsregierung bilden, mit dem Ziel dann Neuwahlen auszuschreiben.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Nach abgeschlossenem Politologie-Studium in Deutschland kehrte Hakki Keskin in die Türkei zurück. Er war als Planungsberater im Stab des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit 1979 tätig. 1982 wurde er Professor für Politik und Migrationspolitik in Hamburg. Von 1995 bis 2005 war Keskin Gründungsvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. 2005 trat er aus Protest gegen die Regierungspolitik aus der SPD. Von 2005-2009 gehörte er der Linksfraktion im Deutschen Bundestag an.