CERN_Higgs_Tunnel

Die unterirdische Rennbahn des CERN kostete 6 Milliarden Franken © cern

Higgs-Jagd am CERN: PR-Show statt Revolution

Kurt Marti /  Newton und Einstein führten zu Revolutionen in der Physik und in der Philosophie. Ganz anders die Experimente am CERN.

Peter Higgs und François Englert haben den Nobelpreis für Physik erhalten. Auch Infosperber gratuliert. – Im Sommer 2012 hatte das CERN nach aufwendigen Experimenten das Higgs-Teilchen gefunden. So wurde es einer begeisterten Öffentlichkeit mit grossem PR-Aufwand mitgeteilt. Und auch heute versteht sich das CERN teilweise als Mit-Preisträger. Auch Bundesrat Schneider-Ammann zeigte sich hocherfreut, dass ein weiterer Nobelpreis wenigstens indirekt nach Genf komme.
Infosperber-Autor Kurt Marti hat bereits im Juni 2012 kritische Anmerkungen zur grossen PR-Feier im CERN gemacht und die wissenschaftliche Bedeutung der gefeierten Erkenntnisse relativiert. Infosperber bringt aus gegebenem Anlass heute noch einmal Kurt Martis stark beachtete und hilfreiche Einordnung der aktuell gefeierten Forschungsergebnisse. R.L.

***

Der CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer tigerte wie ein charismatischer Prediger im übervollen Hörsaal des Kernforschungszentrums CERN in Genf herum. Noch wollte der Funken nicht so richtig auf die Physikergemeinde überspringen. Pathetisch jubelte Heuer: «Ich glaube, wir haben es.» Gemeint war das Higgs-Teilchen. Doch im Hörsaal blieb es immer noch still. Dann wurde Heuer ungeduldig: «Stimmen Sie dem zu?» Wie auf Kommando erhoben sich dann die Anwesenden, klatschten frenetisch in die Hände, schwenkten die Arme, streckten die Faust in die Höhe, stiessen Jauchzer aus und jubelten als wäre soeben der Messias aus einem Raumschiff gestiegen. Die Rede ist vom Higgs-Teilchen, das letzte Woche die halbe Welt in Atem hielt.

Der Jubel in den Medien war grenzenlos. Ehrfürchtig bestaunte man die sechs Milliarden Franken teure Forschungsmaschine, welche nach mehreren peinlichen Pannen endlich ein Resultat ausgespuckt hatte. Gierig las man den Physikern die Superlative von den Lippen: Meilenstein der Forschung, Entdeckung des Jahrhunderts, Tor zu einer neuen Physik. Nur vereinzelt schimmerte scheuer Zweifel bei den Kommentatoren durch. Doch ernsthaft wagte den Gottesdienst der Wissenschaft niemand zu stören. Zu komplex sind die Experimente und die mathematischen Theorien. Zu brüchig das wissenschaftliche Eis. PR-Journalismus ist scheinbar der einzige Ausweg.

Unbescheidene Vergleiche

Erstaunlich ruhig blieb es in den Reihen der Philosophie, insbesondere der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Die Forschung am CERN scheint die Philosophen seit Jahren nicht sonderlich zu interessieren. Dabei müsste das philosophische Interesse doch besonders gross sein, wenn man den grossspurigen Ankündigungen glauben darf, welche CERN-Direktor Heuer immer wieder zum Besten gibt. Gegenüber dem deutschen «Handelsblatt» erklärte er im Jahr 2008: «Unser Weltbild wird sich verändern.» Und er zog ungeniert den Vergleich mit der Revolution der Physik vor hundert Jahren, als Albert Einstein mit der Relativitätstheorie und Max Planck mit der Quantentheorie eine neue Phase der Physik einläuteten. Laut Heuer stehen wir heute vielleicht «vor einer ähnlichen Revolution».

Lassen sich also die Forschungsergebnisse am CERN in eine Reihe mit den grossen Revolutionen in der Physik einreihen, wie CERN-Direktor Heuer ziemlich unbescheiden behauptet? Stehen die Beobachtungen in einer Reihe mit der Newtonschen Gravitationstheorie, der Einsteinschen Relativitätstheorie und der Planckschen Quantentheorie?

Newtons Gravitationstheorie

Isaac Newton veröffentlichte im Jahr 1687 die «Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie» (Principia Mathematica), worin er die Forschungen von Galileo Galilei über die Beschleunigung von Körpern auf der Erde mit den Erkenntnissen von Johannes Kepler über die Planetenbahnen in einer einzigen Theorie erfolgreich vereinigte. Die Naturgesetze auf der Erde galten auch für die Himmelskörper und sie lieferten Voraussagen, welche damals mit den Beobachtungen präzis übereinstimmten. Den Weg dafür hatte Nikolaus Kopernikus schon im Jahr 1543 geebnet, als er das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild ersetzte.

Die Wende zum kopernikanischen Weltbild und die newtonsche Gravitationstheorie befruchtete auch das philosophische Denken der nächsten Jahrhunderte. Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde mit dem Philosophen Immanuel Kant und seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk «Kritik der reinen Vernunft» (1781) erreicht, dessen Inhalt wiederum Ausgangspunkt für Generationen von Philosophen wurde. Aber die revolutionären Erkenntnissse von Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton führten nicht nur zur Veränderung des Weltbildes der Philosophen und Wissenschaftler, sondern auch der gewöhnlichen Leute.

Relativitäts- und Quantentheorie

Rund 200 Jahre nach Newtons «Principia Mathematica» förderten genauere Messinstrumente diverse Unstimmigkeiten in den bisherigen physikalischen Theorien zu Tage, so dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer weiteren Revolution in der Physik kam. Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie und Plancks Quantentheorie sorgten in den folgenden Jahrzehnten für eine aussergewöhnlich produktive Phase der Physik. Die neuen physikalischen Theorien stimmten verblüffend genau mit den Experimenten überein, sei es in der Atomphysik oder in der Astronomie.

Wie in der newtonschen Phase der Physik boten die revolutionären Theorien Einsteins und Plancks einen optimalen Nährboden für die Philosophie, insbesondere für die Wissenschaftstheorie und die Erkenntnistheorie. Das bisherige Verständnis von Raum, Zeit, Kausalität und Messung war auf der Ebene des Mikrokosmos (Atome und Elementarteilchen) und des Makrokosmos (Planeten, Sonnensysteme, Galaxien) grundlegend erschüttert worden und verlangte nach neuen philosophischen Interpretationen, deren Diskussion bis heute andauert. Auf der mesokosmischen Ebene hingegen, also auf der Ebene der menschlichen Sinnesorgane, änderte sich nichts. Die philosophischen Konsequenzen der Relativitäts- und Quantentheorie gingen mehrheitlich spurlos an den Laien vorüber.

Higgs-Teilchen und Standardmodell

Die Forschungen am CERN sind mit den beiden bisherigen Revolutionen der Physik weder wissenschaftlich noch philosophisch vergleichbar. Die von CERN-Direktor Heuer postulierte «Veränderung des Weltbildes» ist eine Wunschvorstellung, denn das philosophische Interesse der Teilchenphysiker ist gering, wie der Physiker Hans-Peter Dürr nüchtern feststellt. Dürr war Schüler von Werner Heisenberg, der wesentliche Beiträge zur Quantentheorie geliefert hat, insbesondere die sogenannte «Heisenbergsche Unschärferelation».

Dürr ist überzeugt, dass nur «ganz wenige» der Teilchenphysiker sich für philosophische Fragestellungen interessieren: «Philosophische Betrachtungen werden vielfach als Ideologie denunziert.» Dürr glaubt nicht, dass das philosophische Interesse bald in die Physik zurückkehren wird. Stattdessen gehe man vermehrt dazu über, «seine Ergebnisse über Internet, Radio und Fernsehen zu verbreiten.» Das sei zwar notwendig, weil die Öffentlichkeit sehr viel Geld in das CERN investiere. Ärgerlich werde dies dann, «wenn man nicht vornehmlich informieren, sondern durch Wahl spektakulärer Aufhänger vor allem Aufsehen erregen will und sich die geeigneten Methoden aus der Werbebranche abholt.»

«Völlig unsinnige Resultate»

Die mathematische Theorie hinter dem Higgs-Teilchen ist das sogenannte Standardmodell, welches laut dem Physiker Dürr «keine echte Erklärung liefert». Das Modell sei «viel zu barock, zu künstlich und mit vielen Stützparametern garniert». Albert Einstein brachte das Problem wie folgt auf den Punkt: «Es ist relativ einfach, Theorien zu machen, die alles, was man bisher weiss, erklären, aber das ist nicht das, was wir suchen. Wir suchen nach Theorien, die auch sagen, warum sie genau so sind und nicht anders».

Laut Dürr erfüllt Einsteins Relativitätstheorie diese Forderung: «Hier wurden nicht einfach verschiedene Stücke geeignet zusammengeschraubt, um den experimentellen Resultaten zu genügen». Wenn im Standardmodell etwas nicht so ganz zusammenpasse, werde «eine geeignete Korrektur» eingebaut, um sich besser «über kleine Unstimmigkeiten hinwegmogeln zu können».

Tatsächlich besteht zwischen dem Standardmodell und der messbaren Realität kein besonders inniges Liebesverhältnis. Es ist überhaupt die Frage, ob das Standardmodell den Kriterien einer nachprüfbaren, wissenschaftlichen Theorie überhaupt genügt. Das Standardmodell weist einen derart groben Webfehler auf, dass es schon längst auf dem Müllhaufen der schlechten Theorien hätte landen müssen. Laut Standardmodell haben nämlich die Elementarteilchen gar keine Masse, was natürlich der Realität krass widerspricht. Mehr noch, wenn man die empirisch gemessenen Teilchenmassen in die Gleichungen einsetzt, kommen «völlig unsinnige Resultate heraus», wie der CERN-Physiker Rolf Landua erklärt.

Ein Stochern im Nebel

Mangels alternativer Theorien pfropften die theoretischen Physiker dem Standardmodell eine künstliche Zusatztheorie auf, welche wie von Zauberhand den Teilchen plötzlich Masse einhaucht: Das Higgs-Teilchen war geboren. Doch damit war das Problem nur eine Stufe weiter verschoben, wo weiterhin die Frage lauert: Und wer gibt dem Higgs-Teilchen Masse bzw. Energie? Und so weiter und so fort.

Die Beobachtung des Higgs-Teilchen wurde von den CERN-Physikern als Präzisionsmessung verkauft. Damit wird unterstellt, die Masse des Higgs-Teilchens entspringe mit grosser Genauigkeit der Theorie des Standardmodells. Das ist aber nicht der Fall, denn das Standardmodell hat rund 20 Parameter, welche frei gewählt werden können. Das heisst, man kann am Modell so lange schrauben, bis es mit den gemessenen Werten schliesslich übereinstimmt. Keine gute Eigenschaft für eine wissenschaftliche Theorie. Tatsächlich wurde die Masse des Higgs-Teilchens keinesfalls genau dort gesucht, wo es jetzt gemessen wurde, nämlich bei 125 GeV (Giga-Elektronenvolt). Es war vielmehr von Anfang an ein Stochern im Nebel.

«Anything goes»

Bis am 11. August 2011 vermutete man die Masse des Higgs-Teilchen noch ganz anderswo, nämlich im Bereich von 145 bis 466 GeV. Messungen zeigten, dass das Higgs dort nicht anzutreffen war. Bereits früher hatte man durch Messungen den Bereich von unter 115 GeV ausgeschlossen. Schliesslich blieb noch das Intervall von 115 bis 145 GeV übrig. Jetzt ist zufällig ein Teilchen mit der Masse von 125 GeV herausgepurzelt und die CERN-Physiker tun so, als ob das Standardmodell genau diese Masse vorhergesagt hätte.

Ob es sich dabei um das Higgs-Teilchen des Standardmodells handelt, wissen die Physiker am CERN noch lange nicht. Zuerst muss das Higgs-Teilchen noch vermessen werden. Und schon öffnen sich dem Standardmodell mehrere Hintertürchen, falls das beobachtete Higgs-Teilchen nicht die gewünschten Eigenschaften hätte. Dann könnte es auch ein Higgs-Teilchen einer weiteren Ergänzungstheorie sein, nämlich der Supersymmetrie. Und auch die unzähligen String- und die Superstringtheorien stehen im mathematischen Arsenal zur Auswahl bereit. Die Teilchenphysiker haben sich offenbar das «Anything goes» (Alles ist erlaubt) des Philosophen Paul Feyerabend zum Leitspruch gemacht.

Immun gegen Widerlegung

Fazit: Eine Theorie wie das Standardmodell ist weitgehend immun gegen die empirische Widerlegung (Falsifikation), weil es nur äusserst vage Voraussagen macht und bei Problemen sofort mit Ersatz-Infusionen aufgepäppelt wird. Dabei ist die mögliche Falsifizierbarkeit ein wesentliches Kriterium einer wissenschaftlichen Theorie. Das Standardmodell, die Supersymmetrie und die Stringtheorien haben bei weitem nicht die Qualität der Relativitäts- und Quantentheorie, welche präzise Vorhersagen ermöglichen und konsistente Erklärungen liefern. Kein Wunder, dass sich die Philosophen kaum für die theoretischen Basteleien der CERN-Physiker erwärmen können. Geschweige denn die Laien, die höchstens von der imposanten Maschine und dem Showtalent der CERN-Physiker entzückt sind.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • am 15.07.2012 um 21:49 Uhr
    Permalink

    Wussten wir es doch: Auch das CERN hat mit den gleichen Problemen wie IPCC, EU, NASA, UNO und jede andere geschützte Werkstätte zu kämpfen. Die Forschung braucht zwischendurch ein bahnbrechendes Resultat, dann fliessen die Subventionen wieder.
    Der Bürger hat logischerweise keinen Dunst, wovon gesprochen wird. Dass ihn gar die Philosophie erreichen soll, ist ein frommer Wunsch.
    Auch der Wissenschafts-Journalist hat in der Regel sein bescheidenes Wissen aus Wikipedia und Google.

    Higgs viel zitierte Bescheidenheit hat möglicherweise damit zu tun, dass er selber am besten einschätzen kann, wieviel diese CERN-Entdeckung wirklich wert ist…

    Zum Glück gibt es auch immer wieder Stimmen, die gegen den Mainstream schwimmen. Vielen Dank für den interessanten Bericht. Es motiviert mich, weiterhin gegen den Strom zu schwimmen. Soll zur Quelle führen.

    Gruss aus Korea
    Renato Stiefenhofer

  • am 14.10.2013 um 12:23 Uhr
    Permalink

    "Dabei ist die mögliche Falsifizierbarkeit ein wesentliches Kriterien einer wissenschaftlichen Theorie."
    ODER
    "Dabei ist die mögliche Falsifizierbarkeit ein wesentliches Kriterium einer wissenschaftlichen Theorie."

  • Fotoktm4
    am 14.10.2013 um 12:40 Uhr
    Permalink

    Der Fehler ist korrigiert. Besten Dank für den Hinweis.

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