«Herr Erdoğan, Sie wollen eine Diktatur!»
upg. Der emiritierte, türkischstämmige Politologie-Professor Hakki Keskin hat sich jahrzehntelang für mehr Demokratie, Rechtsstaat und den Erhalt der laizistischen Republik in der Türkei eingesetzt. In den ersten vier Jahren sah er auch die positiven Impulse von Ministerpräsident Erdoğan, doch wirft er ihm heute vor, schleichend eine Diktatur einführen zu wollen. Und er zählt viele konkrete Gründe dafür auf.
OFFENER BRIEF AN HERRN MINISTERPRÄSIDENT RECEP TAYYIP ERDOGAN
Die Türkei hat sich zunehmend von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten entfernt und geht gegen Oppositionelle mit verschiedensten Mitteln massiver Unterdrückung, Einschüchterung und Verunsicherung vor. Viele Hunderte oppositioneller Journalisten, Wissenschaftler, Studierende und Offiziere wurden inhaftiert. Die Türkei des 21. Jahrhunderts ist dieses Zustands nicht würdig, sie ist in ihrem sozialen und politischen Frieden beschädigt und das Land wird in tiefe gewaltbereite Fronten gespalten.
«Sie sollen aufpassen, sonst werden sie zermalmt»
Am 11. März 2011 habe ich mit 12 andern europäischen Politikern türkischer Herkunft in einem Aufruf unsere tiefe Beunruhigung über die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei kundgetan. In einer Fraktionssitzung nahmen Sie Bezug auf unseren Aufruf und sagten wörtlich «Die türkischstämmigen Abgeordneten im Ausland sollten aufpassen, sonst werden sie zermalmt».
Somit haben Sie auch uns gegenüber bewiesen, dass Sie selbst sachliche Kritik nicht erdulden können und diese mit Repressalien verhindern wollen. Sie sollten wissen, dass meine Interventionen nicht parteipolitisch motiviert sind. Selbst als Linker habe ich manche Ihrer Reformen in ökonomischen und sozialen Bereichen in den Jahren nach 2002 in meinen Schriften sogar unterstützt. Auch heute beurteile ich manche der Projekte der Minister für Verkehr und Gesundheit durchaus positiv.
Seit 1968 setze ich mich konsequent sowohl in der Türkei, aber auch in Deutschland, wo ich seit rund 50 Jahren lebe, für eine echte Demokratie, für den Rechts- und Sozialstaat, für die Menschenrechte sowie für die rechtliche und politische Gleichstellung und Gleichbehandlung der Deutschlandtürken ein. Die Entwicklung in meinem Herkunftsland Türkei verfolge ich mit grossem Interesse. Aus diesem Grunde sehe ich es auch als Wissenschaftler als meine Verantwortung an, in meinen Artikeln in der Zeitung Cumhuriyet und in meinen an Sie gerichteten Briefen Stellung zu nehmen zu der zunehmend beunruhigenden Lage in der Türkei.
Gegen Gewaltentrennung
Jeder, der die Entwicklung in der Türkei durchschauen kann und die Zivilcourage hat, die Missstände auszusprechen, weiss, was Sie kürzlich offen gestanden haben. Sie haben sich gegen die Fundamente einer parlamentarischen Demokratie, nämlich gegen die «Gewaltenteilung» ausgesprochen. Auf Ihrem Parteikongress haben Sie den Präsidenten Ägyptens, Mursi, der als neuer Pharao Ägyptens bezeichnet wird, ganz herzlich umarmt. Auch er will, wie Sie, die Exekutive, Legislative und Judikative unter eigener Kontrolle haben. Jedoch ist eine Staatsform, in der die Exekutive und Legislative nicht von einer unabhängigen Justiz kontrolliert werden, keine Demokratie, sondern eine Diktatur. Sie beklagen in diesem Zusammenhang, dass die Justiz und Opposition gegen manche Ihrer Regierungsbeschlüsse und Projekte Widerstand leistet. Sie sagen implizit, Sie, als Ministerpräsident einer im Parlament über die absolute Mehrheit verfügende Partei, möchten alle Entscheidungen ohne irgendeine Hinderung in die Praxis umsetzen können.
- Mit unglaublichen Behauptungen und Verboten versuchen Sie, die Fundamente der Republik Türkei, die nicht-religiösen Festtage als Symbole der nationalen Unabhängigkeit und Mustafa Kemal Atatürk als Befreier und Gründer der zeitgenössischen Republik Türkei, aus dem Geschichtsgedächtnis zu löschen.
- Intellektuelle, Kemalisten, Journalisten, Wissenschaftler, sogar gewählte Abgeordnete, hochrangige Offiziere und Studierende, die sich für den Erhalt des Staatseigentums einsetzen und Ihre Regierung kritisieren, werden mit dem Vorwurf des «Terrorismus» seit Jahren in Silivre inhaftiert. Staatseigene Unternehmen, die für das Land enorme strategische Bedeutung haben und auch rentabel arbeiten, werden weit unter ihrem realen Wert privatisiert.
- Während reichlich vorhandene Energiequellen des Landes wie Sonne und Wind weitgehend ungenutzt bleiben, wird sogar in Erdbebengebieten der Bau von Atomkraftwerken geplant, obwohl viele Länder dabei sind, diese aus dem Betrieb zu nehmen. Noch dazu soll ein AKW von Russland gebaut werden, obwohl die Türkei bereits heute in einer zu hohen Energieabhängigkeit von Russland steht.
- In der Schwarzmeer-Region werden Flüsse und Bäche, die die natürlichen Lebensgrundlagen vieler Dörfer und kleiner Städte sind, trotz grosser Widerstände der Einwohner, verkauft.
- Im Idagebirge, dem zweit-sauerstoffreichsten Gebiet der Welt, werden mit Zyanid Gold und andere Metalle ausgegraben und somit die Trinkwasserquellen, Wälder und die Landschaft vergiftet.
- Städtische Seeverkehr-Firmen werden ohne Ausschreibung und weit unter ihrem realen Wert verkauft und danach werden die Transportpreise nahezu verdoppelt. Seeverkehr-Firmen sind Schifftransport- Firmen, die Personen oder Fahrzeuge von Istanbul in umliegende Städte transportieren
- Die Brücken von Istanbul und die Autobahnen werden verkauft, ohne Preisschutz-Vorkehrungen für die Bürger.
- Der Widerstand und die Proteste der Bürger, der Dorfbewohner, Arbeiter und Studenten für den Erhalt ihrer Flüsse, Bäche, Böden, Wälder sowie für die gewerkschaftlichen Rechte, zeitgenössische Bildung und Erziehung werden fast immer mit Einsatz von Wasserwerfen, Pfefferspray und Schlagstöcken der Polizei gewaltsam unterdrückt.
- Trotz unendlicher Ermahnungen seitens der Gewerkschaften und von Fachkräften blieben Sicherheitsvorkehrungen aus, so dass in den letzten zehn Jahren 11’475 Arbeiter bei Arbeitsunfällen ums Leben kamen.
- Die Gedenkveranstaltungen zu den für die Regierung der Türkei beschämenden Ereignissen in Maraş und Sivas, bei denen Dutzende Menschen alevitischen Glaubens getötet wurden, werden untersagt.
- Ohne einen berechtigten Grund für die Türkei, nur weil die USA es wollte, wurde der Präsident Syriens, Assad, zum Feind des Landes erklärt, obwohl Sie, Herr Ministerpräsident, bis 2011 mit Assad gemeinsam sogar Ihren Familienurlaub verbrachten und gemeinsame Kabinettssitzungen abhielten.
- So wird möglicherweise eine PKK-nahe syrische Organisation die Grenzkontrolle in syrisch-türkischem Gebiet übernehmen.
Alle sollen sich «ihrer» Partei unterwerfen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, implizit sagen Sie wohl, nicht nur meine Partei, und die Abgeordneten meiner Partei, sondern selbst die Grundvoraussetzung einer Demokratie, nämlich die unabhängige Justiz, freie Presse, die Opposition und die Andersdenkenden müssen sich meiner Position unterwerfen, wie dies von Ihrem stellvertretenden Ministerpräsidenten, Bülent Arinç, persönlich bestätigt wurde. Einige wenige Beispiele belegen eindeutig, wie sehr sich die Türkei von den Fundamenten einer Demokratie und eines Rechtsstaates entfernt hat.
Die unabhängige Justiz, Grundlage einer Demokratie, wird mit Hilfe von Sondergerichten, deren ernannten Sonder-Richtern und Sonder-Staatsanwälten, sowie je nach Wunsch willkürlich versetzten Richtern und Staatsanwälten, in ihrer Entscheidung stark beeinträchtigt.
- Wie im Prozess »Deniz Feneri” (Leuchtturm) wurden die Staasanwälte nicht nur abgesetzt, sondern es wurde gegen sie ermittelt, weil Sie die als verdächtig geltenden Personen verhaften liessen.
- Studierende, die bei einer Ihrer Veranstaltungen ein Plakat mit der Aufschrift «Wir wollen gebührenfreies Studium» entfalteten, wurden verhaftet. Der Staatsanwalt, der für Freispruch plädierte, weil die Studenten «von ihrem Verfassungsrecht Gebrauch gemacht hätten», wurde abgesetzt. Die Studierenden erhielten je 8,5 Jahre Gefängnisstrafe, weil sie angeblich «terrorverdächtig» wären. In allen demokratischen Ländern ist es ein Recht der Studierenden, an gewaltfreien Protestaktionen teilzunehmen. In der Türkei wurden Hunderte aus diesem Grund inhaftiert und Tausende exmatrikuliert, obwohl sie sich unter grossen Schwierigkeiten und nach bestandenen Prüfungen in den Universitäten einen Studienplatz haben erkämpfen können.
- Eine freie Presse gehört zu den Grundelementen einer Demokratie. Viele kritische Journalisten wurden auf mittelbaren und ummittelbaren Druck Ihrer Regierung inhaftiert, entlassen oder Ihre TV Sendungen abgesetzt.
- In Ihren wöchentlichen und von den Medien stark beachteten Fraktionsitzungen verlangen Sie von den Eigentümern der Medien Erklärungen, weshalb sie Journalisten beschäftigen, die Ihre Regierung kritisieren. So wurden unter anderen die namhaften Kolumnisten und TV-Programminhaber Emin Çolaşan, Bekir Coşkun, Uğur Dündar, Oktay Ekşi, Ruhat Mengi, Nuray Mert, Banu Güven, Cüneyt Ülsever, Can Dündar, Ruşen Çakır entlassen.
- Manche Zeitungen und TV-Anstalten wurden von Firmen, die Ihrer Regierung nahe stehen, gekauft, so dass ein sehr grosser Teil der Medien Ihnen wohl gesonnen ist. Jede Ihrer Reden wird von diesen mit Wiederholungen der Bevölkerung serviert. Zu einer Demokratie gehört auch die freie Wissenschaft und Kunst. Selbst die Kunst wollen Sie nach Ihrem Geschmack gestalten lassen.
- Der Stadtrat der Stadt Kars liess nach einer demokratischen Entscheidung eine Skulptur als Geste der Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien errichten. Sie bezeichneten diese als »ucube” (Monster) und verlangten dessen Abriss, was auch geschah. In keinem demokratischen Land hat es je so etwas gegeben.
- Auf einem Privatsender läuft seit längerem eine beim Publikum sehr beliebte Fernsehserie unter dem Namen «Muhteşem Yüzyıl», dessen Absetzung sie neuerdings verlangen, weil da die Herrschaft des Sultans Suleyman nach Ihrer Meinung nicht sachlich dargestellt wird.
- Selbst die Karikaturen, die Ihnen nicht genehm sind, sollen von Stadtbediensteten nicht gesehen werden.
Kemalisten und Patrioten willkürlich inhaftiert
Die parlamentarische und ausserparlamentarische Opposition, die für eine Demokratie unerlässlich ist, wird unterdrückt. Hunderte Journalisten, Wissenschaftler, hochrangige Offiziere und Studierende befinden sich seit Jahren ausschliesslich aus politischen Gründen und weil sie Kemalisten und Patrioten sind mit dem «Terrorismus»-Vorwurf in Haft. Ähnlich wie bis ins Jahr 1991 viele Menschen nach den Paragrafen 141 und 142 des Strafgesetzbuches der Türkei inhaftiert wurden, mit dem Vorwurf «sie verbreiteten in ihren Schriften kommunistische Propaganda».
- In den EU-Staaten, mit denen die Türkei die Verhandlungen über die volle Mitgliedschaft führt, beträgt die Zeit der Inhaftierung maximal 16 Monate. In der Türkei befinden sich viele Hunderte lediglich unter Tatverdacht und sogar nur aufgrund zweifelhafter Behauptungen seit rund 4 Jahren in Haft. Bei den 47 Mitgliedstaaten des Europarates steht die Türkei nach Zahl und Prozent der Inhaftierungen am schlechtesten da.
- Studierende der «Middle East Technical University» (ODTU) Ankara haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht und gegen Ihre Politik sowie gegen Ihren Besuch unter dem Schutz von 3500 Polizeibeamten und 20 gepanzerten Wagen demonstriert. Diese Protestaktion wurde gewaltsam verhindert.
- Manche der Protestierenden wurden in der Nacht in ihren Häusern, wie immer mit der Anschuldigung des «Terrorverdachts», inhaftiert. Sie, Herr Ministerpräsident, haben über die Presse tagelang den Präsidenten dieser Universität dahingehend kritisiert, «weshalb diese Studierenden nicht exmatrikuliert werden». Noch dazu riefen Sie Rektoren anderer Universitäten auf, die ja inzwischen zu Befehlsempfängern degradiert worden sind, gegen die ODTU zu protestieren.
Fatva an Universität
Die Hochschulen müssen jedoch als Zentren der Wissenschaft und Forschung frei von jeglicher Bevormundung zu Problemen und Fragen des Landes und der Welt nach Lösungen suchen, diskutieren und die Regierung und Öffentlichkeit informieren und aufklären. Dies gehört zu ihren zentralen Aufgaben, und diese nicht wahrzunehmen, wie dies heute bei den meisten der Hochschulen der Fall ist, ist verantwortungslos. Die Rektoren der Hochschulen müssten frei und unabhängig arbeiten können, sie werden jedoch zumeist entgegen den erzielten Wahlergebnissen nach ihrer politischen Gesinnung ausgewählt, selbst wenn sie die wenigsten Stimmen erhalten haben und nehmen ihre Tätigkeit daher als Befehlsempfänger wahr.
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der Rektor der «18. Mart Universität», Herr Laçiner, anstelle einer wissenschftlichen Betrachtung mit der Mentalität des Mittelalters eine Fatva erteilt: «Die Schiiten und Aleviten werden nicht ins Paradies kommen».
Sie, Herr Ministerpräsident, sind aufgrund Ihrer absoluten Mehrheit im Parlament eigentlich in der Lage, jedes Gesetz zu verabschieden. Dennoch wollen Sie die Opposition, die Justiz, die gesammten Medien und die zivilen Organisationen, die sich gegen diese beunruhigende, mit Demokratie und Rechtsstaat nicht zu vereinbarende Politik einsetzen, zum Schweigen bringen. Die Geschehnisse im Lande sollen tatenlos hingenommen werden. Genau deshalb beklagen Sie die «Gewaltenteilung». Sie wollen unter allen Umständen verhindern und sind höchst beunruhigt, dass die Bevölkerung diese Tatsachen erfährt. Dies verunsichert Sie.
Aus diesem Grunde wollen Sie, Herr Ministerpräsident, eine Staats-Regierungsform, in der es keine Gewaltenteilung gibt. Und, Sie, Herr Ministerpräsident, nennen eine solche Regierungsform Demokratie, ja sogar eine «gereifte Demokratie».
Es müsste jedoch bekannt sein, dass ohne Kontrolle der Legislative und Exekutive durch eine unabhängige Justiz, ohne eine wirksame Opposition und ohne eine freie Presse, von einer Demokratie nicht die Rede sein kann.
Als Politikwissenschaftler, der 30 Jahre lang in Deutschland lehrte und 8 Jahre als Abgeordneter tätig war, muss ich Ihnen in aller Klarheit sagen: die Staats- und Regierungsform, die Sie wollen, ist faktisch nichts anderes als eine verschleierte Diktatur.
Hochachtungsvoll
Professor Hakkı Keskin
—
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Nach abgeschlossenem Politologie-Studium in Deutschland kehrte Hakki Keskin für zwei Jahre als Planungsberater in den Stab des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit in die Türkei zurück. Von 1980 bis 1982 war Keskin wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin. 1982 wechselte er als Professor für Politik und Migrationspolitik nach Hamburg. Von 1995 bis 2005 war Keskin Gründungsvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. 2005 trat er aus Protest gegen die Regierungspolitik aus der SPD. Von 2005-2009 gehörte er der Linksfraktion im Deutschen Bundestag an.