Harris Fahne rarrarorro

«Harris for President.» © rarrarorro/Depositphotos

Harris als Präsidentin: «America first – jetzt aber richtig!»

Red. /  Weg von der Konfrontationspolitik hin zu den existenziellen Problemen. Das empfiehlt Stephen Wertheim, Spezialist für Geopolitik.

upg. Stephen Wertheim ist Senior Fellow im American Statecraft Program des Think Tanks Carnegie Endowment for International Peace und Gastdozent an der Yale Law School. Er ist Autor des Buches «Tomorrow, the World: The Birth of U.S. Global Supremacy».


«America first» sei schon richtig, sagt Wertheim. Aber sie müsse dies richtig machen, falls Sie Präsidentin wird, also nicht so, wie Donald Trump es wolle. Die USA sollten nicht die Welt beherrschen wollen, sondern sich darauf konzentrieren, die eigene Bevölkerung vor militärischen Bedrohungen zu schützen sowie auch vor nicht-militärischen Bedrohungen wie Epidemien, heisseren Temperaturen und Armut. Die USA sollten ihre Aussenpolitik neu ausrichten.

Eine gescheiterte Politik

Der Krieg der USA gegen Irak sei aus der «pathologischen Einstellung» entstanden, dass die USA die Welt kontrollieren müssten. Diese Einstellung habe die Aussenpolitik der USA bis heute geprägt. Auf der ganzen Welt hätten die USA Truppen stationiert, um durch Stärke einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Die Vormachtstellung der USA sollte auch zu Erfolgen in anderen Bereichen führen wie der globalen Zusammenarbeit zum Schutz der Umwelt oder dem Durchsetzen der Menschenrechte. Sie sollte auch dafür sorgen, dass der internationale Handel den Wohlstand in den USA erhöht.

Doch die Politik der Vormachtstellung habe diese Ziele nicht erreicht, sagt Wertheim: «Anstatt den Amerikanern globalen Frieden und Vorteile zu bringen, hat die Vormachtstellung die USA in eine Welt voller Konflikte verwickelt. Sie hat China nicht davon abgehalten, aufzusteigen. Und sie hat Russland nicht davon abgehalten, um sich zu schlagen.»

In der «New York Times» vom 21. Oktober unter dem Titel «Wie Kamala Harris die USA tatsächlich an die Spitze führen kann» skizzierte Stephen Wertheim «eine Aussenpolitik, die ins 21. Jahrhundert passt». 

«America first» – aber richtig

Wenn Kamala Harris die Bedürfnisse der amerikanischen Bevölkerung stets in den Mittelpunkt stelle, werde sie dem Trumpismus seinen Reiz nehmen und eine globale Führungsrolle übernehmen, nach der sich das Land sehnt: «Nennen wir es ‹America first›, aber richtig.»

Anstatt zuzulassen, dass Trump und seinesgleichen berechtigte Sorgen über einen dritten Weltkrieg für sich beanspruchen, «sollte sie den Amerikanern erklären, dass die Gefahr real ist und nur durch eine selbstbewusste Diplomatie reduziert werden kann.» Denn keine militärische Aufrüstung werde je ausreichen, um den Rest der Welt in Angst und Schrecken zu versetzen und zum Stillhalten zu zwingen. Es genüge, wenn die USA «jeden blockieren, der versucht, die Welt zu dominieren, ohne selbst eine Vorherrschaft anzustreben».

Vorschläge für ein Ende des Kriegs in der Ukraine

Sollte es der Ukraine gelingen, ihr gesamtes Territorium zurückzuerobern, «könnte ein verzweifelter Kreml durchaus auf Atomwaffen zurückgreifen, um eine totale Niederlage abzuwenden», erklärt Wertheim. Für einige Ukrainer könne dies ein vertretbares Risiko sein. «Doch nicht für die USA. Es ist die Pflicht des Präsidenten, die Amerikaner zu schützen.» Jeder Tag des eskalierenden Krieges berge das Risiko einer Eskalation zu einem direkten Konflikt zwischen den USA und Russland.

Wertheim schlägt eine Politik von «Zuckerbrot und Peitsche» vor, um beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen. Die USA sollten der Ukraine drohen, ihre Hilfe zu kürzen, wenn sie ein gutes Angebot ausschlägt. Falls Russland ein gutes Friedensangebot für die Ukraine akzeptiert, sollten die USA anbieten, einige Sanktionen aufzuheben.

An der «Ein-China-Politik» sollte Harris festhalten

Beijing habe die Selbstverwaltung von Taiwan seit Jahrzehnten toleriert und werde dies weiterhin tun, solange Taiwan nicht seine Unabhängigkeit erklärt und die USA die Position anerkennen, dass Taiwan zu China gehört: «Amerikas ‹Ein-China-Politik› ist das wichtigste Mittel, das Washington zur Verhinderung von Konflikten besitzt. Harris sollte die gefährliche Erosion beenden, die unter Trump begann und sich unter Biden beschleunigte. Biden erklärte mehrmals, dass Taiwan selber entscheiden könne, ob es die Unabhängigkeit erkären wolle, und schwor, diese Unabhängigkeit militärisch zu verteidigen.» Harris solle sich darauf beschränken, dass Taiwan seine eigene Verteidigung verbessern kann, und der Insel Hilfe für den Konfliktfall anbieten, solange Taiwan nicht seine Unabhängigkeit verkündet.

Siehe dazu:

Infosperber vom 31.5.2022: 
Bewährte Fiktion der Ein-China-Politik: Biden zünselt daran. Mit kleinen Schritten ändert die Biden-Administration ihre Politik zu Taiwan, provoziert China und riskiert einen neuen Konflikt.

Infosperber vom 3.8.2022: 
Politologie-Professor Peter Beinart warnt: «Die Taiwan-Politik der USA erhöht das Risiko eines Weltkriegs.»

Die Achse der Autokraten aufweichen

Nach Ansicht Wertheims sollte Harris möglichst verhindern, dass die unterschiedlichen Gegner der USA zusammenspannen. Es sei kein Naturgesetz, dass China, Russland, Nordkorea und Iran immer stärker zusammenarbeiten: «Anstatt die sogenannte Achse der Autokratien heraufzubeschwören, sollte Harris die Risse zwischen ihnen vergrössern. Ein Frieden in der Ukraine würde erheblich dazu beitragen.» Auch eine Lockerung der Sanktionen gegen Iran und Nordkorea im Gegenzug für Einschränkungen ihrer Atomwaffenprogramme oder ihrer Waffengeschäfte mit Moskau wäre nach Ansicht Wertheims einen Versuch wert.

Truppen im Nahen Osten abziehen

Die Zahl der US-Tuppen im Nahen Osten ist im letzten Jahrzehnt recht stabil geblieben. Die USA hätten sich nie wirklich zurückgezogen: «Harris sollte den Grossteil dieser Truppen abziehen, beginnend im Irak, in Syrien und im Nordosten Jordaniens. Die dortigen US-Truppen dienen hauptsächlich als Zielscheiben für Milizen, die von Iran unterstützt werden.»

Harris solle sich auf zwei eng umrissene Ziele konzentrieren: die Sicherung der Seehandelsrouten und die Verhinderung von Terroranschlägen auf dem Territorium der USA. Keines der beiden Ziele erfordere enge Partnerschaften mit Golfmonarchien wie Saudi-Arabien. Frau Harris sollte Bidens angestrebten Vertrag, der die US-Streitkräfte verpflichten würde, Saudi-Arabien zu verteidigen, ad acta legen und zu ihrem eigenen Versprechen von 2020 zurückkehren, «unsere Beziehung zu dem Königreich grundlegend neu zu bewerten».

Israel: Recht auf Selbstverteidigung, aber nicht darüber hinaus

Harris sage, sie werde «Israel immer die Möglichkeit geben, sich selbst zu verteidigen». Doch dieses Versprechen soll nach Ansicht Wertheims nicht gelten, wenn Israel eindeutig über eine angemessene Selbstverteidigung hinausschiesse. Für zukünftige israelische «Operationen» in Gaza solle Harris keine Waffen mehr schicken und bereit sein, die Sanktionen gegen gewalttätige Siedler im Westjordanland zu verschärfen. Wenn Harris an Bidens Hörigkeit vor der israelischen Regierung festhalte, werde sie zusehen, wie Israel seine Angriffe in der Region eskaliere und die USA möglicherweise in einen grossen Krieg mit dem Iran verwickle: «Die Unterstützung für Israel streng zu begrenzen, wäre politisch riskant, aber die Alternative wäre noch schlimmer.»

Massives Aufrüsten wäre selbstzerstörerisch

Der militärisch-industrielle Komplex dränge auf eine drastische Erhöhung der Militärausgaben, um es der US-Streitmacht zu ermöglichen, gleichzeitig im Nahen Osten, in Europa und in Asien zu kämpfen. Dazu Wertheim: «Das würde Kürzungen bei der Sozialversicherung und Medicare sowie Steuererhöhungen erfordern, wie die vom Kongress eingesetzte Kommission für die nationale Verteidigungsstrategie vorsichtig zugibt.» Als Präsidentin solle Harris sagen: «Schluss damit.» Stattdessen sollte sie von den Verbündeten der USA mehr verlangen – mehr als Trump und entschiedener als Biden.

Klima, künstliche Intelligenz und andere Herausforderungen

Im Fokus einer Präsidentin Kamala Harris soll die Frage stehen, wie sich unsere heutigen Entscheide in fünf, zehn oder zwanzig Jahren auf die USA und die Welt auswirken werden: «Die dringendsten dieser Herausforderungen sind grenzüberschreitend: Klimawandel, Infektionskrankheiten und technologische Risiken. Das alles auf einem vernetzten Planeten.»

In den USA hätten Klima und Wetter allein im vergangenen Jahr eine Rekordzahl von 28 «Milliarden-Dollar-Katastrophen» verursacht. Covid-19 habe 1,2 Millionen amerikanische Todesopfer gefordert und damit die Zahl der amerikanischen Todesopfer durch jeden Krieg in der Geschichte übertroffen. Mit ziemlicher Sicherheit werde es noch weitere Pandemien geben. 

Die Welt wisse noch nicht, wie künstliche Intelligenz menschliches Fehlverhalten fördern und der menschlichen Kontrolle entgehen werde: «Vor uns liegen Massenvernichtung und massive Störungen, es sei denn, diese Bedrohungen werden ebenso dringlich behandelt wie eine vergleichbare militärischen Bedrohung.»

Fazit von Stephen Wertheim:

«Das Streben nach globaler militärischer Dominanz hat schon in besseren Zeiten nicht funktioniert. In Zukunft wird dieses Streben noch schneller und dramatischer scheitern. Das Herunterspielen nichtmilitärischer Bedrohungen hat dazu geführt, dass diese ungelöst blieben. Die USA brauchen einen echten Wandel in ihrer Aussenpolitik.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Wertheim ist Senior Fellow im American Statecraft Program des Think Tanks Carnegie Endowment for International Peace und Gastdozent an der Yale Law School. Er ist Autor des Buches «Tomorrow, the World: The Birth of U.S. Global Supremacy». Über Geopolitik schreibt Wertheim regelmässig für «Foreign Affairs», die «New York Times» und die «Washington Post».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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