Griechische Tragödie trifft Alzheimer-Patienten
Mit dem Mauszeiger verbindet Pascalina Tsotsiou zwei in einem Raster angeordnete geometrische Figuren mit geraden Linien: Rechteck zu Rechteck, Quadrat zu Quadrat. Dann wechselt die 70-jährige zu ihrem Lieblingsspiel. Es gilt, verschiedene geometrische Formen wie bei einem Puzzle so zu ordnen, dass sie sich ineinanderfügen.
Am Nebentisch zählt der 75-jährige Georgios Tertopoulos virtuelles Wechselgeld am Bildschirm zusammen: Wie viel Rückgeld kommen bei 4.20 Euro zusammen, wenn man mit einem Fünf-Euro-Schein bezahlt? Ein Kinderspiel. Doch für die beiden Pensionäre ist es viel mehr. Sie trainieren ihr Gehirn, um eine Krankheit aufzuhalten – oder zumindest zu verzögern – die ihre geistigen Fähigkeiten und ihr Bewusstsein nach und nach zerstören wird: Alzheimer.
Die kleinen Fortschritte zählen
Tsotsiou kommt regelmässig in die Tagesklinik «Heiliger Johann», eine von vier auf Alzheimer-Patienten spezialisierten ambulanten Einrichtungen in Thessaloniki. Es sei besser geworden mit ihrer Vergesslichkeit, sagt sie, und auch ihr Tischnachbar, der 75-jährige Georgios Tertopolous, ist zufrieden. «Ich bin fast täglich hier. Und das Rechnen wird immer besser.»
Aber der Tag kommt, an dem beide nicht mehr in der Lage sein werden, ihr Leben alleine zu meistern. Diesen Tag so weit wie irgend möglich hinauszuzögern, bei gleichzeitigem Verzicht auf eine Medikamentation, ist das Ziel von Alzheimer Hellas, einer 1995 von Angehörigen und Fachleuten gegründeten Selbsthilfeorganisation.
Jahrelang hat die Gründerin der Organisation und Neuropsychologin, Magda Tsolaki, zusammen mit ihrer Mitstreiterin, der Psychologin Kunti Fotini, dafür gekämpft, an Alzheimer erkrankte Patienten in der frühest möglichen Phase der Krankheit so ganzheitlich und umfassend wie möglich zu betreuen und zu therapieren, ohne sie in Kliniken, Altersheime oder spezialisierte stationäre Einrichtungen stecken zu müssen; oder einfach den überforderten Angehörigen zu überlassen.
Mit Hilfe von EU-Geldern eröffnet
Mit EU-Gelder wurde 2007 in Thessaloniki die erste Tagesklinik für Alzheimer-Patienten eröffnet, ein in dieser Form einmaliges Pionierprojekt – europaweit. Das Behandlungs- und Betreuungsangebot ist kostenlos, einzig eine Jahresgebühr von 30 Euro für die Mitgliedschaft in der Alzheimer-Vereinigung wird fällig. 2008 kam ein zweites Haus dazu, kurz darauf wurden zwei für Patienten im späten Stadium der Krankheit eingerichtete Tageskliniken eröffnet. Die Finanzierung des Betriebes garantierte das griechische Gesundheitsministerium nach Auslaufen der EU-Förderung für zehn Jahre.
Parallel zur Behandlung der inzwischen 2000 Patientinnen und Patienten läuft ein wissenschaftliches Programm zur Erforschung der nicht-medikamentösen Behandlung von Alzheimer. Einer der Wissenschaftler ist Ioannis Tarnanas. Der 37-jährige ist Psychologe und Software-Ingenieur. Sein Spezialgebiet ist die virtuelle Realität. Zusammen mit Kollegen aus Italien und Kalifornien hat Tarnanas ein Programm entwickelt, das das archäologisches Museum in Aiani im Nordwesten Griechenlands komplett nachbildet.
Gedächtnistraining im Museum
Mit Patienten besucht er das echte Museum und begibt sich dann mit ihnen auf die virtuelle Reise, in der es gewisse Aufgaben zu lösen gilt. Wo befindet sich schon wieder diese Vase mit dem Doppelgesicht, auf der einen Seite eine griechische Frau aus der Oberschicht darstellend, auf der anderen eine schwarzäugige nubische Prinzessin? Durch welche Tür gelangt man in den zweiten Ausstellungsraum?
Gesteuert wird das Programm mit einem zweiknüppeligen, über Funk mit dem Computer verbundenen Joystick. Schon die beidhändige Bedienung mit Daumen und Zeigefinger sei eine Geschicklichkeitsübung, die im Gehirn messbare Spuren hinterlasse, sagt Tarnanas. «Die Orientierung im virtuellen Raum ist jener im realen Museum gleichwertig.»
Der Erfolg der auf neun bis zwölf Monate angelegten Therapien wird mit einem Testverfahren, das die Reaktionszeit des Hirns auf einen Ton-Impuls misst, überprüft. Nach eineinhalb Jahren zeigten von untersuchten 140 Patienten 40 eine Verbesserung, die Hälfte war stabil geblieben, und nur jedem Zehnten ging es schlechter.
Entscheidung noch keinen Tag bereut
Im Haus St. Johann neigt eine Gruppe Patientinnen und Patienten, auf Stühlen sitzend, die Köpfe, bewegt sie von links nach rechts, von oben nach unten, immer auf das Kommando von Christos Moyzakidis. Der 48-jährige Sportlehrer ist schon seit 17 Jahren bei Alzheimer Hellas dabei. Er habe sich damals von der Begeisterung von Magda Tsolakis anstecken lassen, und seine Entscheidung, mit älteren Menschen statt Teenagern in einem Gymnasium zu arbeiten, noch keinen Tag bereut.
Aber wie lange kann Moyzakidis hier noch arbeiten? Im letzten Sommer war in einer Zeitungsnotiz zu lesen, das griechische Gesundheitsministerium habe die Streichung von Subventionen für über 200 privatrechtlich organisierte Einrichtungen, von der Strassenküche über Krankenhäuser bis zu den Tageskliniken der griechischen Alzheimer-Gesellschaft beschlossen.
Jetzt vom griechischen Staat abhängig
Diese ist, von den geringen Einnahmen durch die Jahresbeiträge der 2500 Mitglieder abgesehen, vollständig von den Zahlungen aus der griechischen Staatsschatulle abhängig, um ihr Jahresbudget von 1,6 Millionen Euro zu finanzieren. Aus ihm werden wesentlich die Gehälter für die 55 Beschäftigten finanziert. Umgerechnet auf die Zahl der Patienten kommt man auf Kosten von 70 Euro pro Monat.
Für die ambulante medikamentöse Behandlung wird mit Kosten von minimal 100 Euro für die Alzheimer-Medikamente gerechnet, bei stationären Patienten sind es weit über 1000. Die geringen Kosten spiegeln aber auch die niedrigen Löhne. Ioannis Tarnanas erhält monatlich 900 Euro, Ersi Grammatikon, die als Verwaltungsdirektorin die administrativen Fäden zieht, 1100 – bei Lebenshaltungskosten, die mit einer deutschen Grossstadt durchaus vergleichbar sind.
Geld fliesst nur noch tröpfchenweise
Magda Tsolakis pendelte wochenlang zwischen Athen und Thessaloniki, verhandelte und erreichte schliesslich eine Zahlung, die zur Deckung der Gehälter bis vergangenen November ausreichte. Die Mieten für die vier Gebäude in der Stadt konnten hingegen noch nicht beglichen werden.
Seither trifft Geld nur noch tröpfchenweise aus Athen ein, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten Vollzeit für ein Teilzeit-Gehalt, und es könnte noch schlimmer kommen. Die Zentren sollen am 14. August definitiv geschlossen werden. Tsolakis, die als Universitätsprofessorin ehrenamtlich für das Alzheimer-Projekt arbeitet, kann sich keinen Reim machen: «Aber ich habe hart am Aufbau der Tageskliniken gearbeitet. Und ich werde nicht aufgeben. Wir müssen realistischerweise dennoch über kurz oder lang mit dem Schlimmsten, der Schliessung, oder mit dem Zweitschlimmsten, einer deutlichen Reduktion unserer Aktivitäten rechnen.»
Die Schliessung wäre nicht nur für die 2000 Patientinnen und Patienten, sondern auch für die Wissenschaftler und Fachleute eine Katastrophe – und für Griechenland, sagt Tsolakis. «Die Leute haben viel Erfahrung gesammelt und sind ausgewiesene Experten ihres Fachs. Sie leisten ausgezeichnete Arbeit. Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, als sich in einem anderen Land umzusehen. Ihr Fachwissen wird, daran zweifle ich keine Sekunde, wird überall auf der Welt sehr gefragt sein.»
In Thessaloniki beginnt der Exodus
Wer sich in Thessaloniki umhört, erlebt eine Bevölkerung, die resigniert. Gehalts- und Rentenkürzungen sind die Regel, die Arbeitslosigkeit liegt nach Angaben der Gewerkschaften bei über 30 Prozent. «Unsere Gesellschaft wird in Stücke gerissen», sagt der Psychologe Soutiris Lainas, der das städtische Büro für Selbsthilfe leitet. Das einzige, was noch spiele, sei die Solidarität in den Familien. Lainas Freundin packt gerade die Koffer. Sie will in Paris ihr berufliches Glück versuchen.
Auswandern war für Christos Moyzakidis nie eine Option. «Ich lebe hier mit meiner Frau und unserem elfjährigen Sohn, und ich liebe meinen Job. Aber was sein wird, wenn dieses Projekt einfach so aufgegeben wird?» Er habe Fühler ausgestreckt nach Amsterdam, wo er in einer ähnlichen Einrichtung gute Aussichten hätte, Arbeit zu finden. «Eine wunderbare Stadt», schwärmt er, und redet sich ein, sein Sohn sei noch jung genug für einen Neuanfang.
Ioannis Tsarnanas stellt sich diese Frage nicht mehr. Er hat sie schon beantwortet. «Ich werde Griechenland verlassen», sagt er, der noch vor wenigen Jahren Angebote aus Schweden und Kalifornien ausgeschlagen hatte, um in der Nähe seiner Familie zu bleiben, und weil er sich viel von der Arbeit in der Tagesklinik versprochen habe. «Doch jetzt: Wo bleibt die Perspektive? Wir haben diese viel versprechende Resultate und ein grosses Potenzial. Und das soll es nun gewesen sein?»
Das Pferd am Schwanz aufzäumen
Wenn sich schon die Vision einer Tagesklinik nicht dauerhaft realisieren lasse, dann müsse man dieses Pferd halt am Schwanz aufzäumen. Will heissen: Tsarnanas möchte die virtuelle Realität für Demente auf den heimischen PC bringen. Mit Partnern aus Italien, den USA und England sind die Weichen gestellt, seine künftige Basis soll in Liverpool sein: «Wir brauchen eine halbe Million Euro, um die Entwicklungsarbeit fortsetzen und unser Projekt definitiv starten zu können». Finanziert werden soll der Betrieb mit Beiträgen etwa von Krankenkassen, oder mit einem nach Finanzkraft abgestuften System, von den Patienten selbst.
Die Patienten an den Alzheimer-Tageskliniken jedenfalls wären wohl sofort zu gewinnen. Sie haben, als sie von der drohenden Schliessung erfuhren, spontan angeboten, zu zahlen für die Dienstleistung, die sie so schätzen gelernt haben. Da mag angesichts der stets schrumpfender Renten, der es einigen schon kaum mehr möglich macht, nur den Jahresbeitrag zu zahlen, der Wunsch Vater des Gedanken gewesen sein. Aber wo solch Wille ist, muss es auch einen Weg geben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine. Gekürzte Fassung einer Reportage von Urs Fitze. Sie erschien zuerst in der Zeitschrift "Enorm – Wirtschaft für den Menschen".
Was lernen wir daraus ? Wenn Menschen zu stark oder sogar ganz auf die Unterstützung des Staates setzen kommt früher oder später doch das Aus. Hier wurde keine Eigenverantwortung abverlangt, alles war und wurde von «oben» (Brüssel) bezahlt. Der Gedanke dahinter war (es wurde einem ja so vermittelt !), es geht ewig so weiter. Und nun ist der Geber – Topf (doch) leer und alle wundern sich, warum eigentlich? Wo ist die uns sonst angeborene „ Vernunft “ nur geblieben ?