Kommentar
«Gorbatschow war nicht die starke Hand, die viele nötig fanden»
Red. Michael Derrer arbeitet als selbständiger Unternehmensberater und als Dolmetscher für die Bundesanwaltschaft. Er doziert Soziologie und osteuropäische Wirtschaft an der Hochschule Luzern. Aktuell schliesst er seine Doktorarbeit in Wirtschaftssoziologie zum Thema «Korruption, Erpressung und Macht in Russland und der Ukraine» ab.
Als Student der Politikwissenschaft war ich Ende der 1980er auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Welt. Gorbatschow bot eine solche Alternative: das Bild eines humanen und demokratischen Kommunismus – anstelle der früheren roten Gefahr aus dem Osten. Dies war, noch bevor ich die Länder der ehemaligen Sowjetunion bereiste und die tristen Überreste der bankrotten sozialistischen Planwirtschaft beobachten konnte. In den westlichen Medien wurde er als Held dargestellt, der sich nach dem «Gang durch die Institutionen» alleine gegen das System stellte, um es zu transformieren. Wegen Gorbatschow begann ich, Russisch zu lernen, und seither bin ich mit den Ländern der Ex-UdSSR beruflich eng verbunden.
1992, kurz nach der Auflösung der UdSSR, reiste ich erstmals nach Moskau. Mit Überraschung stellte ich fest, dass man Gorbatschow dort nicht liebte. Er war ein Symbol der Hoffnung gewesen – einer Hoffnung, die enttäuscht wurde. Die guten Absichten sprach ihm niemand ab. Doch war er für die Russen und andere Sowjetbürger zu wenig zielsicher und verfolgte keine klare Strategie. Für die Menschen folgten harte Jahre des Verlusts von Ordnung, Sicherheit und Wohlstand. Es war eine Zeit des Chaos. Banditismus und Abzockertum machten sich breit, anstelle von Recht und produktivem Unternehmertum. Was Freiheit bedeutet, und dass sie nicht mit Regellosigkeit gleichgesetzt werden darf, musste die breite Bevölkerung erst allmählich lernen. Für die Hardliner war Gorbatschow zu schwach, für die Reformer hingegen zu wenig radikal, da er an den Idealen des Kommunismus und an Lenin als Symbolfigur festhielt. In den letzten Jahren wurde er gar zum Schuldigen für Moskaus geopolitische Rückstufung von einer Supermacht zu einer Grossmacht gestempelt, für die «geopolitische Katastrophe», wie sich Putin ausdrückte, und die es ihm gemäss zu kompensieren gelte. Gorbatschow mag viele Fehler begangen haben. Zum Beispiel war sein Versuch, den Alkohol zu verbieten, zum Scheitern verurteilt – Wodka verwandelte sich rasch zu einer begehrten Tauschwährung.
Durch meine Forschungsarbeit lernte ich, dass die Vorgänge in der späten UdSSR viel komplizierter waren als der Übergang von kommunistischer Diktatur und staatlichem Plan hin zu Demokratie und Marktwirtschaft. Denn neben der offiziellen Wirtschaft florierten überall Schwarzmärkte, die das System zu etwas anderem machten als offiziell deklariert. Beziehungsnetze, über die man sich Mangelwaren beschaffen konnte, durchdrangen die Gesellschaft. Die ungeschriebenen Regeln, welche das Leben der späten Sowjetunion bestimmten, liessen sich nicht einfach per Dekret und Gesetz reformieren. Direktoren staatlicher Fabriken verhielten sich wie Eigentümer und strebten danach, daraus echtes Privateigentum zu machen. Sprösslinge der kommunistischen Nomenklatura bereiteten sich vor, zu den späteren Oligarchen zu werden. Im Gegensatz zum Wirtschaftswunder China hat Gorbatschow in seiner Perestroika wohl nicht die richtigen Schalthebel für den Wandel betätigt. Als er den Deckel der Repression vom Kochtopf nahm, flog das sowjetische Reich auseinander. Nach dem Sowjetmenschen, der sich als winziger Teil eines mächtigen Räderwerks gefühlt hatte, begann die Suche nach Identität in längst vergessenen Traditionen.
Einmal habe ich das Idol meiner Studentenzeit in Bern getroffen, als er im Bundeshaus eine Pressekonferenz hielt. Schnellen Schrittes begab er sich zum Saal, und seine Augen suchten aktiv danach, erkannt zu werden. Mein neugieriger Blick wurde mit einem Blick zurück belohnt.
Es scheint symbolisch, dass er 2022 stirbt, dem Jahr, in dem die Illusion eines friedlichen Auseinandergehens der UdSSR nachträglich endgültig gescheitert ist. Bereits vorher waren Gorbatschows Errungenschaften in Russland während der vergangenen 25 Jahren graduell rückgängig gemacht worden. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Politiker, der die Macht nicht als Selbstzweck sah, und der sie schliesslich friedlich abgab. Der ein Blutvergiessen während eines so umwälzenden Ereignisses wie dem Ende der Sowjetunion weitgehend vermeiden konnte. Der mit seinem Verhalten die Unterteilung in Machthabende und Untertanen brach, an der Russland heute erneut krankt.
Mein Gorbatschow wird das Bild eines guten, aufgeschlossenen Russen bleiben. Der auch nachgeben kann. Und der das Wohl des einfachen Menschen im Fokus behält.
Vielleicht war er nicht gemacht für sein Land – ein Idealist mit Menschenliebe, und nicht die starke Hand, die viele Russen als notwendig erachten. Eine starke Hand muss nota bene nicht eine harte oder brutale Hand bedeuten – diesen Unterschied nicht zu erkennen, hat Russland und seinen Nachbarn seit Gorbatschows Abtritt viel Leid eingebracht.
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Dieser Artikel ist in «Le Temps» und im «Corriere del Ticino» erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für diese Einblicke.
«Eine starke Hand»
Was ist eine starke Hand und was eine Schwache ?
Eine CH-Konsumgenossenschaft schenkt Herrn Benko 200 Millionen.
Eine 2. kaufte den europäischen Grosshandel bis nach Weissrussland,um den Umsatz auf 30 Milliarden aufzublähen !
War der Regierungsrat aus dem Buchiberg,die starke kontrollierende Hand,als Alpig in Osteuropa Milliarden in Kohlekraftwerken versenkte.
Von starken Händen halte ich nichts.
Von klatschenden Delegierten,halte ich noch weniger.
Valentin Falin hat sich später recht eindeutig über Gorbatschow ausgelassen: mit zunehmender Machtfülle wollte er immer weniger auf Ratschläge hören, habe Kritik nur mit Unwillen vernommen und oft Alleingänge gewagt, obwohl ihm die Sachkenntnis fehlte, bei der Aufklärung vergangener stalinistischer Verbrechen sei er oft zu zögerlich gewesen, einen richtigen Plan, wie die Sowjetunion zu reformieren sei, habe G. nie gehabt, zu sprunghaft, zu spontan und planlos sei sein Denken gewesen. Davon kann man halten was man will. Angeblich hat Jelzin später bemerkt, dass er an G.’s Stelle mit Gewalt das Auseinanderfallen der UdSSR verhindert hätte. Aber wie hätte das passieren sollen? Blutige Bürgerkriege im Baltikum und Fernost wären nicht zu verhindern gewesen. Zur Verbesserung des Lebenstandards und der katastrophalen Versorgungslage hätte es nichts beigetragen.
Ich habe vor Jahren das Buch über Glasnost und Perestroika gelesen und damals über die fast unglaubliche Naivität Gorbatschows gestaunt. Er war tatsächlich überzeugt, dass die Menschen in Russland allein auf Grund seines ehrlich gemeinten Angebots den wahren Kommunismus begreifen und entsprechend handeln würden.
Im Westen wurde er von der breiten Bevölkerung bewundert, aber die Politiker haben ihn genau so betrogen wie die russischen Oligarchen.
Ein ganz Grosser Unverstandener ist gegangen. Ehre seinem Andenken.