Palestinians wait to receive the bodies of their relatives who were killed in an Israeli airstrike, at Al-Najjar Hospital in Rafah, southern Gaza Strip, October 24, 2023. (Abed Rahim Khatib:Flash90)

Palästinenser warten im Al-Najjar-Krankenhaus in Rafah im südlichen Gazastreifen auf die Leichen ihrer Angehörigen, die bei einem israelischen Luftangriff am 24. Oktober 2023 getötet wurden. © Abed Rahim Khatib:Flash90

Gaza: «Die Mär von Kriegsverbrechen ist perfid und abstossend»

Urs P. Gasche /  Ein langes Pamphlet in der NZZ war nur gezeichnet mit «Wolf J. Reuter, Rechtsanwalt in Berlin». Niemand hat bisher von ihm gelesen.

«Die israelische Armee begehe in Gaza einen ‹Völkermord›, ist sicher der perfideste und abstossendste aller Vorwürfe.»

Das schrieb Reuter in der NZZ vom 17. August. Es sei ein «globaler Feldzug gegen Israel» im Gang, der auf «fragwürdigen und verleumderischen Grundlagen» beruhe. Den «Aktivisten aller Couleur» gehe es darum, «durch permanente Verleumdungen die Idee und das Ethos Israels zu beschädigen und das Ansehen des jüdischen Staates in der Welt zu zerstören». 

Reuter ist ein Anwalt in Berlin, der auf Arbeitsrecht spezialisiert ist. Über die Anwendung der Uno-Charta oder des humanitären Völkerrechts hat er noch nie publiziert. Die NZZ erklärte gegenüber Infosperber, sie habe ihn als Gastautor direkt angefragt, «da er eine pointierte und wohlbegründete Meinung zum Thema vertritt». Die Kunden des Anwalts Reuter kennt die NZZ nicht. NZZ-Redaktor Andreas Breitenstein vom Ressort «Meinung & Debatte» erklärte gegenüber Infosperber, von Interessenkonflikten sei ihm nichts bekannt. 

Unter dem Zwischentitel «Die Mär von Kriegsverbrechen» begründet Reuter, weshalb er diesen Vorwurf als «perfid und abstossend» bezeichnet: Israels Bombardierung des Gazastreifens respektiere das Gebot der Verhältnismässigkeit. Die Genfer Konventionen würden militärische Schläge mit zivilen Opfern («Kollateralschäden») «anhand ihrer Verhältnismässigkeit zum angestrebten militärischen Ziel» beurteilen. Dazu Reuter: 

«In Afghanistan sahen die USA für den Tod eines hochrangigen Taliban 300 zivile Opfer als verhältnismässig an. Im Gazakrieg liegt das Verhältnis extrem viel niedriger, nach israelischen Angaben gar bei erstaunlichen 1:1.»

Wenn also das israelische Militär ein hochrangiges Hamasmitglied tötet, käme gleichzeitig lediglich eine einzige Frau, ein einziges Kind oder ein einziger ziviler Mann als «Kollateralschaden» ums Leben. Reuter zieht daraus den Schluss: 

«Behauptungen, Israel begehe ständig Kriegsverbrechen, sind juristisch schwerlich nachzuvollziehen.»

Ein «Tötungsverhältnis» von einem getöteten hochrangigen Hamasmitglied zu einer palästinensische Zivilperson: Die NZZ verbreitete diese Aussage unkommentiert. Infosperber fragte den Berliner Anwalt nach seinen Quellen: «Wir haben diese israelische Angabe im Netz nicht gefunden. Könnten Sie uns die Quelle angeben?»

Reuter machte darauf folgende Angaben:

«Netanyahu hat im Mai meines Erachtens erstmals offiziell die 1:1 in einem Interview genannt. Etwas genauer sind die Zahlen hier (‹Times of Israel›) aufbereitet […] Erstmals schätzten Experten («Twitter») die ‹Kill Ratio› sehr niedrig ein.» 

Zudem habe die «Times of Israel» schon im Dezember 2023 Angaben des israelischen Militärs veröffentlicht («IDF officials: 2 civilian deaths for every 1 Hamas fighter killed in Gaza»).

Diese Quellen stützen Reuters Aussage nicht

Keine dieser Quellen stützt Reuters Darstellung in der NZZ, wonach bei der Tötung eines hochrangigen Hamas-Mitglieds durchschnittlich nur eine einzige Zivilperson mit getötet werde. Denn alle aufgeführten Quellen beziehen sich auf die Zahl der Zivilisten, die gleichzeitig mit der Tötung eines normalen Hamas-Mitglieds oder -Kämpfers getötet würden – und nicht bei der Tötung eines hochrangigen Hamas-Mitglieds.

Aber selbst mit dieser angeblichen Tötungsrate von 1:1 oder 1:2 macht es sich Reuter viel zu einfach, weil er sich namentlich auf Angaben des israelischen Militärs oder der israelischen Regierung stützt. Quellen mit anderen Angaben zitiert er nicht.

Massive destruction is seen in Al-Rimal popular district of Gaza City after it was targeted by airstrikes carried out by Israeli forces, October 10, 2023. (Mohammed Zaanoun:Activestills)
Massive Zerstörung im beliebten Viertel Al-Rimal in Gaza-Stadt nach Luftangriffen der israelischen Streitkräfte am 10. Oktober 2023. Pro getöteter Hamas-Kämpfer nur eine oder zwei Frauen, Minderjährige oder zivile Männer getötet?

Töten auf Basis «künstlicher Intelligenz»

Reuter hätte unter anderem darüber informieren können, dass Israel auch Computerprogramme namens «Gospel» und «Lavender» einsetzte. Diese markieren möglichst alle mutmasslichen Aktivisten des militärischen Flügels der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ), einschliesslich derjenigen mit niedrigem Rang, als potenzielle Bombenziele. 

Sechs israelische Geheimdienstoffiziere erklärten gegenüber dem israelischen Magazin +972 und Local Call, dass sich die Armee in den ersten Wochen des Krieges fast vollständig auf «Lavender» verliess. Die «künstliche Intelligenz» registrierte gegen 37‘000 Palästinenser als «mutmassliche Kämpfer» und deren Häuser als Ziele für mögliche Luftangriffe.

Die anonym bleibenden Geheimdienstoffiziere hatten alle während des aktuellen Vergeltungskrieges gegen den Gazastreifen in der Armee gedient und mit dem Einsatz von KI zum Festlegen von Tötungszielen zu tun.

Am 3. April 2024 veröffentlichte das +972-Magazin Aussagen dieser Informanten:

«In einem beispiellosen Schritt – so zwei der israelischen Geheimdienstoffiziere – beschloss die Armee in den ersten Wochen des Krieges, dass für jeden von ‹Lavender› markierten Hamas-Aktivisten bis zu 15 oder 20 Zivilisten getötet werden durften. In der Vergangenheit hatte das Militär bei Attentaten auf niedrigrangige Kämpfer keine ‹Kollateralschäden› zugelassen. 

Die Geheimdienstoffiziere fügten hinzu, dass die Armee für den Fall, dass es für das Ermorden eines hochrangigen Hamas-Funktionärs im Rang eines Bataillons- oder Brigadekommandeurs die Tötung von mehr als 100 Zivilisten mehrmals genehmigte.

[…]

Geheimdienstoffizier B. sagte aus, dass die Zahl der Zivilisten, die sie in der ersten Woche des Krieges pro mutmasslichem, von der KI markiertem Nachwuchskämpfer töten durften, fünfzehn betrug. Diese Zahl sei im Laufe der Zeit ‹auf und ab gegangen›. Ein grösseres Verhältnis von getöteten Feinden zu getöteten Zivilpersonen half, die Ziele mit der ‹Lavender›-Maschine schneller zu definieren. Das sparte Zeit.

‹Am Anfang griffen wir fast ohne Rücksicht auf Kollateralschäden an›, sagte B. über die erste Woche nach dem 7. Oktober. ‹In der Praxis wurden die Menschen [in den bombardierten Häusern] nicht wirklich gezählt, weil man nicht sagen konnte, ob sie zu Hause sind oder nicht. Nach einer Woche begannen die Beschränkungen für Kollateralschäden. Die Zahl sank (von 15) auf fünf, was es für uns wirklich schwierig machte, anzugreifen. Denn wenn die ganze Familie zu Hause war, konnten wir sie nicht bombardieren. Danach wurde die Zahl wieder erhöht.›

‹Für mich war es nicht normal, dass wir gebeten wurden, ein ganzes Haus zu bombardieren, um einen Bodensoldaten zu töten, dessen Bedeutung in den Kämpfen gering war›, sagte ein anderer der Geheimdienstoffiziere über den Einsatz von KI zur Markierung mutmasslich rangniedriger Kämpfer. ‹Ich nannte diese Ziele ‹Müllziele›. Dennoch fand ich sie ethischer als die Ziele, die wir nur zur ‹Abschreckung‹ bombardierten – Hochhäuser, die evakuiert und umgestürzt wurden, nur um Zerstörung zu verursachen.›

‹Um 5 Uhr morgens kam [die Luftwaffe] und bombardierte alle Häuser, die wir markiert hatten›, erzählte Geheimdienstoffizier B. weiter. ‹Wir haben Tausende von Menschen ausgeschaltet. Wir überprüften diese Menschen nicht einzeln, sondern gaben sie in ein automatisches System ein. Sobald einer (der markierten Personen) zu Hause war, wurde er sofort zum Ziel. Dann bombardierten wir ihn und sein Haus.› 

[…]

Die Luftangriffe gegen hochrangige Hamas-Kommandeure dauern weiter an. Den Geheimdienstoffizieren zufolge genehmigt das Militär bei diesen Angriffen die Tötung von ‹Hunderten› von Zivilisten pro Ziel – eine offizielle Politik, für die es in Israel keinen historischen Präzedenzfall gibt.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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