Kommentar
Europas Demokratie liegt im Koma
Es ist nicht weniger als eine historische Zäsur, die Europa derzeit erlebt: Bereits in zwei EU-Staaten regieren nicht mehr die Volksvertreter, sondern ein Interessenverband aus IWF, Weltbank und EZB. In Portugal, Griechenland (und mit Abstrichen auch in Irland) wurde die jeweilige Regierung unter Kuratel gestellt, die Demokratie in künstlichen Tiefschlaf versetzt.
Kein Aufschrei quer durch Europa, nicht einmal Besorgnis ist zu bemerken. Statt dessen Erleichterung und Freude über die Weisheit der griechischen Abgeordneten, die das Schweiß- und-Tränen-Sparpaket verantwortungsvoll abnickten. Finanzminister Evangelos Venizelos machte kein Geheimnis daraus, dass Athen alles tue, um weitere Kredite zu bekommen. De facto sei die Regierung entmündigt: «Wir machen, was angeordnet wird und was man uns erlaubt.» Abgeordnete fragen sich, was sie im Parlament zu suchen hätten, da ohnehin alles von den Herren aus Washington, Frankfurt und Brüssel bestimmt werde. Tatsächlich entscheiden Fremde über das ehemals hoheitliche Budget, greifen damit tief ins Leben der Griechen ein, dirigieren Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Pensionsausgaben.
Es handle sich um eine massive Einschränkung der griechischen Souveränität, sagt Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker, beklagt damit aber nicht etwa das demokratische Knockout. Es klingt viel eher nach einer harten, doch gerechten Strafe, die Athen widerfährt. Demokratie übrigens ist ein griechisches Wort.
Ähnlich wie Griechenland ergeht es Portugal, wobei die Ausschaltung der Demokratie hier noch ungenierter, weil detailreicher ausfiel, mussten sich doch nicht nur die regierenden Sozialisten auf ein detailliertes Sparpaket festnageln lassen, um Kreditzusagen zu erhalten, sondern darüber hinaus die konservative Opposition – für den Fall, dass diese die nächste Wahl gewinnt. So unverblümt wurde in Europa noch keinem Volk gesagt, dass es völlig einerlei ist, welche Partei es wählt.
Bisher gab es derartig selbstverständliches Unter-Kuratel-Stellen nur nach einem verlorenen Krieg. Diesmal ist der Kriegsgewinner nicht ein feindlicher Staat, sondern vermeintlich wohlmeinende Finanzorganisationen. Deren Vorgehensweise im Falle Portugals erwies sich im Übrigen als durchaus weitsichtig, gewann doch die Opposition die Wahl und so waren es eben nicht die Sozialisten, sondern die Konservativen, die unter anderem die Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen, Kürzungen im Sozialbereich und etliche Privatisierungen.
In Europa wird diskutiert, ob es im Zuge der Euro- bzw. Schuldenkrise zu einer wirtschaftspolitischen Zentralregierung kommen könnte. Es ist bereits so weit: Europa hat eine Zentralregierung. Aktuell schaltet und waltet sie in Portugal und Griechenland. Arbeitet sich sozusagen ein für mehr.
Freilich ist sie nicht demokratisch legitimiert – weder von den europäischen Bürgern noch von deren Regierungen. Nicht das Europäische Parlament und nicht der EU-Rat aus gewählten Staats- und Regierungschefs bilden das oberste Gremium. Nicht einmal das so gern kritisierte Brüssel, die EU-Kommission. Geleitet wird Europa in seinen wichtigsten Entscheidungen derzeit von einer Oligarchie aus wenigen EU-Staaten (Frankreich, Deutschland), sowie dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Europäischen Zentralbank.
Europa, das Europa der Freiheit und der Demokratie, ist dabei, sich abzuschaffen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Thomas Sautner, 1970, Journalist, Schriftsteller und Essayist, lebt in Wien. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Fremdes Land" im Berliner Aufbau-Verlag. Dieser Artikel erschien zuerst im «Der Standard» vom 9.7.2011.