EU: Volles Risiko auf dem Westbalkan
Wenn Serbien nicht so dringend der EU beitreten möchte, sässe Ratko Mladic wohl kaum in einem Gefängnis im niederländischen Scheveningen. Es ist zweifellos ein weiterer Erfolg für die internationale Strafjustiz, dass sich der mutmassliche serbische Kriegsverbrecher seit Ende Mai in den Händen des Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag befindet. Es ist aber auch das Resultat massiven Drucks der EU auf Belgrad. Wenige Tage vor der Festnahme Mladics war EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Serbien zu Gast und intonierte einmal mehr das alte Lied, ohne «vollständige Kooperation» mit dem Haager Uno-Tribunal gebe es keine weiteren Fortschritte bei der Annäherung Serbiens an die EU. Und Serbiens Präsident Boris Tadic wiederholte erneut, der EU-Beitritt sei die wichtigste aussenpolitische Aufgabe seines Landes.
Fünf Beitrittskandidaten
Serbien hat also einen weiteren grossen Schritt hin zum begehrten Status des EU-Beitrittskandidaten gemacht. Doch wie realistisch sind die Beitrittsperspektiven Serbiens und weiterer Staaten des Westbalkans überhaupt? Einmal ganz abgesehen von den derzeitigen internen Problemen der Union in verschiedenen Bereichen stellt sich die grundsätzliche Frage: Sind die EU und ihre Mitgliedstaaten institutionell überhaupt noch in der Lage, neue Mitglieder aufzunehmen? Derzeit laufen formell mit drei Staaten Beitrittsverhandlungen, mit völlig unterschiedlichen Fortschritten und Erfolgsaussichten: Island, Kroatien und Türkei. Mazedonien und Montenegro haben zwar formell den Kandidatenstatus erhalten, doch werden noch keine eigentlichen Beitrittsverhandlungen geführt.
Die EU im Dilemma
Die Beitrittsperspektive hat in ganz Südosteuropa ohne Zweifel eine stabilisierende Wirkung. Das Fernziel der EU-Mitgliedschaft wirkte in den vergangenen Jahren als kräftiger Reformmotor. Insofern muss Brüssel ein Interesse an weiteren Integrationsschritten in der politisch noch wenig gefestigten Region haben. Doch es gibt auch gute Gründe, die zur Vorsicht mahnen. Die Bedrohung durch die organisierte Kriminalität hat in den Ländern des Westbalkans in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Dies geht aus dem jüngsten Bericht der europäischen Polizeibehörde Europol vom Mai 2011 hervor. Brüssel fordert denn auch seit Jahren massive institutionelle Reformen, gerade bei Justiz und Polizei, und grössere Anstrengungen bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität. Doch der Europol-Bericht dämpft die Erwartungen an einen diesbezüglichen Erfolg gewaltig.
Westbalkan als Kriminalitätsdrehscheibe
Der Westbalkan ist nach Auffassung der Europol-Ermittler das aufstrebende Gebiet für organisierte Kriminalität. Er gilt als Hauptquelle für die Einführung illegaler Waffen in die EU. Dabei handelt es sich um «grosse Mengen an Waffen und Munition» aus den Jugoslawienkriegen in den Neunzigerjahren. In Serbien und Bosnien-Herzegowina finden sich die besten Adressen für Waffenhändler und kriminelle Banden in der EU. Gemäss Europol bleibt «der Westbalkan voraussichtlich eine Hauptbezugsquelle für schwere Waffen, die in die EU geschleust werden. Das liegt an den grossen Vorräten in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Kosovo, Montenegro und Serbien».
Montenegro als Drogendrehscheibe
Der Westbalkan spielt gemäss Europol-Bericht auch eine zentrale Rolle beim Drogenhandel: «Heroin aus der Türkei und Kokain aus Lateinamerika werden vor dem Transport in die EU in dieser Region zwischengelagert. Cannabis wird hier speziell für die Konsumierenden in der EU angepflanzt.» Die grosse Bedeutung des Drogenhandels im Westbalkan sei nur dank einer «substanziellen kriminellen Infrastruktur» möglich. Ein Beispiel: In montenegrinischen Häfen werden laut Europol ganze Containerschiffe mit Kokain umgeladen und für die Feinverteilung im EU-Markt bereitgestellt. Zur Erinnerung: Montenegro besitzt seit Dezember 2010 offiziell den Status eines EU-Beitrittskandidaten.
Visa-Liberalisierung hat zu Missbrauch geführt
«Albanischsprachige Verbrecherbanden, ebenso wie türkische und solche aus der ehemaligen Sowjetunion, versuchen ihre Aktivitäten in die EU auszudehnen und könnten die Möglichkeiten einer Schengen-Erweiterung um Bulgarien und Rumänien ausnutzen. Das Gleiche gilt für die jüngsten Visabefreiungen und anstehende Visaerleichterungen für die Staaten des Westbalkans, die Ukraine und Moldawien», heisst es im Europol-Bericht. Und weiter: «Die Ausweitung der Visa-Liberalisierung für Bosnien-Herzegowina und Albanien könnte zu umfassendem Missbrauch führen, so wie es geschah, als die Visa-Beschränkungen für Serben, Montenegriner und Mazedonier aufgehoben wurden.»
Die Gefahr erhöht sich insofern, als das enorme kriminelle Potenzial einem völlig überforderten Justiz- und Sicherheitsapparat gegenübersteht und diesen teilweise auch infiltriert. Zudem sorgt die hohe Arbeitslosigkeit dafür, dass Verbrecherorganisationen nie unter Rekrutierungsproblemen leiden.
Kosovo-Frage bleibt heikel
Nicht zu unterschätzen bei der Annäherung Serbiens an die EU ist auch die Kosovo-Frage auch wenn das bisher gewichtigste aussenpolitische Problem etwas in den Hintergrund gerückt ist. Offensichtlich beharrt die EU nicht mehr auf der vollständigen Anerkennung der abtrünnigen südserbischen Provinz als eigenständigen Staat. «Ich bestätige, dass weder der Prozess der Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina noch die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos von Belgrad als Bedingung gestellt werden», erklärte Barroso bei seinem Besuch in Belgrad.
Der nachlassende Druck Brüssels auf Serbien in der Kosovo-Frage hat auch damit zu tun, dass sich die EU in diesem Punkt selbst nicht einig ist. Noch immer anerkennen fünf EU-Staaten Kosovo nicht als unabhängigen Staat, nämlich Spanien, Griechenland, Zypern, Rumänien und die Slowakei. Die ersten vier haben selbst mit Autonomiebewegungen und alten politischen Ansprüchen zu kämpfen.
Der Fall Zypern als Warnung
Doch ohne eine wie auch immer geartete Lösung der Kosovo-Frage vor ernsthaften Beitrittsverhandlungen mit Serbien läuft die EU Gefahr, ein ungeklärtes Territorialproblem zu importieren. Es wäre nicht das erste Mal: Zypern sollte der Union als Warnung dienen. Die Aufnahme Zyperns in die Europäische Union war seit 2002 beschlossene Sache, als eine Woche vor dem feierlichen Aufnahmetermin vom 1. Mai 2004 die Wiedervereinigung der Insel platzte. Vorgesehen war die Aufnahme der wiedervereinigten Gesamtinsel. Die griechischen Zyprer lehnten – im Gegensatz zum Ja der türkischen Zyprer in einer Volksabstimmung den von Uno-Generalsekretär Kofi Annan ausgehandelten Plan zur Wiedervereinigung ab, der eine lockere Föderation des türkischen und des griechischen Teils der Insel vorsah. So wurde die Republik Zypern faktisch als geteiltes Land Mitglied der EU – mit dem gesamten Konfliktpotenzial.
Es gibt also gute Gründe für die EU, sich mit der Integration des Westbalkans genügend Zeit zu lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine