EU- und Nato-Staat lobt Vorbild Russland
«Die jüngste Rede von Ministerpräsident Viktor Orbán muss den Westen auf den Plan rufen», fordert – bisher vergeblich – Charles Gati, Professor für European and Eurasian Studies an der Johns Hopkins University in Baltimore (US-Bundesstaat Maryland). Gati ist ein gebürtiger Ungar.
Viktor Orbán, Ministerpräsident eines EU- und Nato-Staates, hielt am 26. Juli 2014 eine Rede über den «Abstieg liberaler Demokratien». Die Zukunft gehöre Systemen wie in Singapur, China, Indien, der Türkei und Russland. Sie seien die «Stars» unter den Ländern, die für die Zukunft gerüstet seien.
Ungarn wolle kein liberaler, sondern ein «illiberaler Staat» werden und müsse die «in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien fallen lassen und sich von ihnen unabhängig machen». Denn «die nach dem staatlichen Organisationsprinzip der liberalen Demokratie aufgebauten Gesellschaften werden in den kommenden Jahrzehnten höchstwahrscheinlich nicht imstande sein, ihre globale Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten». Ungarn wolle sich vielmehr von «nationalen Fundamenten» leiten lassen.
«Vielleicht keine Demokratie, aber Erfolg»
Der Westen habe Ungarn 1956 im Stich gelassen, klagte Orbán. Heute wollten die EU und westliche Finanzinstitutionen Ungarn «um seine Souveränität bringen». Nach der Ablösung des kommunistischen Regimes 1990 hätten in Ungarn die «Liberalen» das Sagen gehabt und das Land dem Ausland verkauft. Mit dem Rückkauf einer damals privatisierten Bank seien wieder mehr als die Hälfte der Banken in ungarischem Besitz.
Für das Verteilen der EU-Milliarden habe die EU mehrere Hundert Beamte ins Land geschickt, die von der EU bezahlt sind und ein Mehrfaches vergleichbarer Beamter in Ungarn verdienen. 35 Prozent der EU-Gelder seien für Vorbereitungen, Analysen, Gutachten und Ähnliches verschleudert worden.
Jetzt widersetze sich seine Regierung der EU, nehme diese Beamte selber auf die Lohnliste und sorge dafür, dass 85 Prozent der EU-Gelder in die Realisierung von Projekten fliessen.
In seiner Rede verspach Orbán, die Erniedrigung und Opferrolle Ungarns zu beenden. Um dies zu erreichen müsse Ungarn neue politische und wirtschaftliche Wege gehen, «die nicht westlich sind, nicht liberal, keine liberale Demokratie, vielleicht gar keine Demokratie, aber dafür zum Erfolg führen.»
Orbán sieht die Länder nicht nur in einem Wettbewerb der Wirtschaft und der Standorte, sondern in erster Linie in einem Wettbewerb der Staatsformen. Man müsse diejenigen Systeme verstehen lernen, «die nicht westlich, nicht liberal, und keine liberalen Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind, und trotzdem Nationen erfolgreich machen.»
Gewaltentrennung, Pressefreiheit und Minderheitenrechte erwähnte Orbán in seiner Rede nicht.
Ausgerechnet vor ethnischen Ungarn in Rumänien
Orban hielt seine Rede (Link zur vollständigen Rede siehe unten) nicht etwa in Ungarn, sondern an einer Veranstaltung seiner Partei Fidesz im rumänischen Baile Tusnad in Siebenbürgen, einem Gebiet, in dem ethnische Ungarn leben. In Rumänien an der Grenze zu Ungarn leben insgesamt etwa 200’000 ethnische Ungarn, die ungarisch sprechen.
Der Ort ist gut gewählt, denn, so findet Orban, der Staat sei nichts anderes «als die Organisationsform der Gemeinschaft, die in unserem Fall mit den Staatsgrenzen nicht unbedingt deckungsgleich ist». Dass Orbans Staatsverständnis auf einem ethnischen Nationenverständnis beruht, ist nicht neu.
Professor Gati zitiert westliche Gewährsleute, die nicht glauben, dass Ungarn sich dieser Grenzgebiete bemächtigen will oder kann. Ungarn verfüge nicht über entsprechendes Militärmaterial. Doch falls es Russland gelinge, in der Ostukraine Fuss zu fassen, sei es «möglich, dass Orbán daraus Kapital schlagen will».
Zuvor müsste Orbán die ungarische Verfassung ändern lassen, damit das Land zu einer Präsidialrepublik nach Putins Vorbild würde. Ungarn hängt zum grössten Teil von russischen Energielieferung ab. Seine Aussenpolitik soll wohl auch helfen, Russland günstig zu stimmen, vermutet Gati.
Auf totalen Konfrontationskurs mit der EU werde Orbán aus eigenem Interesse jedoch nicht gehen: Ungarn brauche die fast 23 Milliarden Euro, welche die EU für Infrastrukturprojekte in Ungarn bereitgestellt hat. Deshalb lehne Orbán die Forderung von Joobik, der extremen Rechten im Land, ab, aus der EU auszutreten.
Die «arbeitsbasierte Gesellschaft»
Bisher sei man immer davon ausgegangen, «dass wir drei Formen von Staatsorganisation kannten: den Nationalstaat, den liberalen Staat und den Wohlfahrtsstaat. Und die Frage ist, was kommt jetzt? Die ungarische Antwort ist, dass die Epoche eines auf Arbeit basierten Staates anbrechen kann, wir wollen eine auf Arbeit basierte Gesellschaft organisieren, die das Odium auf sich nimmt, klar auszusprechen, dass sie nicht liberaler Natur ist», doziert der ungarische Ministerpräsident. Was genau er unter «arbeitsbasierter Gesellschaft» versteht, und ob hier ständestaatliche Vorstellungen herumgeistern, führt er nicht aus. Vielleicht hilft ein Blick in die «Wochenzeitung» (WOZ) vom 4. September 2014 (Link siehe unten), was es mit dem Begriff auf sich hat: Das ungarische System gemeinnütziger Arbeit sei beispiellos in Europa, es herrsche faktisch «Zwangsarbeit fürs nationale Interesse», schreibt die WOZ. Betroffen sind zum Beispiel Langzeitarbeitslose, die von den Gemeinden anstelle regulärer Arbeitskräfte und zur Hälfte des Lohns zwangsverpflichtet werden. Langzeitarbeitslos ist man in Ungarn rasch: Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wurde 2011 auf lediglich drei Monate eingeschränkt, wer danach keine Stelle hat, gilt als Langzeitarbeitloser.
Wie in Putins Russland: NGO’s im Visier
Wer grosse Ziele vor sich hat, der muss auf dem Weg mit Hindernissen rechnen. Das weiss auch Viktor Orban. Ein besonderer Dorn im Auge sind ihm die zivilen Organisationen, «die immer am Rande des Staatslebens erscheinen». Wer nämlich die NGO-Szene, also die regierungsunabhängigen Organisationen, in Ungarn genau betrachte, stelle fest, dass man es mit bezahlten politischen Aktivisten zu tun habe. Diese würden zudem vom Ausland unterstützt und versuchten, «in Ungarn ausländische Interessen durchzusetzen». Es sei deshalb richtig, dass das Parlament eine Kommission mit der Aufgabe eingesetzt habe, diese ausländische Einflussnahme scharf zu beobachten. Orban erweist sich als gelehriger Schüler Wladimir Putins.
EU und Nato reagieren kaum
Viktor Orban sitzt zusammen mit seiner Partei Fidesz nach den klaren Wahlsiegen von 2010 und vom April 2014 fest im Sattel. Er amtiert auch als Vizepräsident der Europäischen Volkspartei und der Christlich-Demokratischen Internationalen.
Doch obwohl sich Viktor Orbán von den europäischen Grundwerten verabschiedet, bleiben EU und Nato auffällig passiv. «Der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, ist kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat.» Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass Orbán keine demokratisch funktionierende Gesellschaft freier und selbstbestimmter Staatsbürger anstrebt, sondern eine ethnisch geprägte Volksgemeinschaft.
Professor Charles Gati erinnert die EU an ihre diplomatischen Schritte, als sich die Haider-FPÖ an der Regierung in Wien beteiligte und fragt, warum Orbán bei der EU heute nicht auf der Agenda sei.
—
Redaktionelle Mitarbeit: Jürg Müller-Muralt
—
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Der Wohlfahrtstaat ist weitherum bankrott. Den liberalen Staat gibt es in Europa – seien wir ehrlich – nicht mehr wirklich. Die USA entwickelt sich unter Präsident Obama vom ursprünglich echt liberalen Staat zum Wohlfahrtsstaat; dies notabene in einer Wirtschaftskrise, während die Wirtschaft die Wertschöpfung dafür nicht mehr er ringt. Deshalb werden die USA durch diese politische und utopische Zwängerei zum Wohlfahrtsstaat geschwächt und neigt zu aussenpolitischen Fehlentscheiden.
Die illiberalen Staaten entwickeln sich unterschiedlich: In Asien haben Sie die Wirtschaftskrise bisher sehr gut überstanden und halten die Verschuldung in Grenzen. In Afrika kommen sie wegen des fehlenden Bildungssystems und der mit den Entwicklungshilfegeldern alimentierten Korruption und geschützten Diktatoren nicht vom Fleck und werden durch den Islamismus zersetzt. In Südamerika ähnelt die Situation jener in Afrika. Eine Ausnahme ist Chile, wo jedoch Massen auf der Strasse den Wohlfahrtsstaat fordern und den liberalen Staat gefährden.
Auch wenn V. Orban teils extreme und ausgrenzende Aussagen macht, scheint es mir anhand des Zustand der Wohlfahrtsstaaten (= faktische Sozialdemokratien oder Verwaltungsdiktaturen) überlegenswert, wie sich die Staatsform entwickeln sollte, damit ein Staat auch für nächsten Generationen die notwendige Wertschöpfung für Wohlstand und Wohlergehen aller erbringen kann. Orbans Denkanstösse auszugrenzen scheint mir angesichts der katastrophalen Zustände totalitär.
PS: auch Grenzen und Staatsgebiete dürfen sich verändern. Das war sogar in der Schweiz möglich (Kanton Jura). Die Politik sollte dafür einen reifen Prozess bereit legen. Welche Staatsgrenzen in Europa wurden nach den vergangenen Kriegen denn schon mit einem Plebiszit gezogen ? Daher die offenen Rechnungen und instabilen Gebiete; dies hat nichts mit braunem Gedankengut zu tun, sondern realen Identitäten von Bevölkerungsgruppen.
Anstatt sich den aufsteigenden Imperien Russland und China zuzuwenden, begeht Europa die Dummheit, sich mit einem untergehenden Imperium, dem die Rohstoffe ausgehen, zu verbünden.
zu viele Schreibfehler- und Baltimore ist kein Bundesstaat…
@Leemann. Sie haben recht und wir haben das korrigiert. Danke für den Hinweis.