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Gegen Korruption, Vetternwirtschaft und IWF: Junge Kenianer protestieren in Nairobi. © cc-by Katie G. Nelson / Getty Images

«Erstmals werden in Kenia Politiker zur Rechenschaft gezogen»

Philippe Stalder /  Seit Wochen demonstriert Kenias Jugend gegen die Korruption und Sparpolitik der Regierung. Was haben die Proteste bewirkt?

Protus Onyango ist politischer Reporter bei «The Standard», der ältesten und zweitgrössten Zeitung Kenias. Onyango hat die Proteste von Beginn an beobachtet. Im Interview spricht er über die Menschen hinter den Protesten, ihre Forderungen und darüber, was sie bisher bewirkt haben.

Seit Wochen erreichen uns aus Kenia Bilder von jungen Menschen, die gegen die Regierung auf die Strasse gehen. Was genau geht da vor sich?

Die aktuellen Proteste sind für Kenia historisch. Was diese junge Generation erreicht hat, hat vor ihnen noch niemand erreicht. Bisher fanden Demonstrationen der Opposition meist nur an einem Ort statt. Aber diese jungen Demonstranten waren in der Lage, gleichzeitig in allen mittleren und grossen Städten Kenias mehrere Millionen Menschen zu mobilisieren. 

Sie hatten sich sogar Zugang zum Parlament verschafft, wo einige von ihnen randaliert hatten. Die Sicherheitskräfte wurden komplett überrumpelt, weswegen diese angefangen hatten, auf Leute zu schiessen. Doch die Demonstrierenden halten an ihren Forderungen fest, sie wollen dass Präsident Ruto zurücktritt und seine Regierung auflöst.

Was war der Auslöser dieser Proteste?

Auslöser für die landesweiten Proteste war das neue Finanzgesetz, das Ruto Mitte Juni dem Parlament vorlegte. Dieser Gesetzesentwurf schlägt Änderungen am kenianischen Steuersystem vor, die zahlreiche Steuererhöhungen mit sich bringen. Kenias Landeswährung, der Schilling, verfällt seit 2023 rapide, die Lebenshaltungskosten steigen ins Unerträgliche. 

Präsident Ruto gewann die Wahlen 2022 knapp mit dem Versprechen, den Armen das Leben zu erleichtern. Nun wollte er gegen die drohende Schuldenkrise mit höheren Steuern vorgehen, unter denen die Ärmsten am meisten gelitten hätten. So sollte etwa die Spritsteuer von acht auf 16 Prozent erhöht werden, was direkte Auswirkungen auf öffentliche Transportkosten hat. Auch auf den Datenverkehr im Internet sollte neu eine Steuer erhoben werden. Darüber war insbesondere die junge Generation Z besonders empört. Es sind vor allem Vertreter dieser jungen Generation, die die Proteste organisieren. 80 Prozent der Bevölkerung sind unter 35.

Welche weiteren Ursachen gibt es neben dem Finanzgesetz?

Es gibt eine breite Unzufriedenheit über die hohe Arbeitslosigkeit und die Korruption bei der Jobvergabe. Insbesondere Vetternwirtschaft und Stammesdenken machen es Arbeitssuchenden ohne Beziehungen schwer, einen guten Job zu finden. Viele junge Studienabgänger finden jahrelang keine Anstellung in ihrem Fach. Die Jungen sind beruflich desillusioniert und wollen ihren Eltern nicht weiter finanziell zur Last fallen. Ausserdem wirft die Opposition Ruto Wahlbetrug vor, da dieser 2022 mit nur einem knappen Vorsprung von 200’000 Stimmen gewählt wurde. Viele fragen sich, ob Ruto rechtmässig im Präsidentensitz gelandet ist. Und auch seine Reaktion auf die Proteste wird heftig kritisiert, über 70 Menschen wurden in den letzten Wochen durch Sicherheitskräfte getötet oder sind spurlos verschwunden. 

Welche Rolle spielen soziale Medien bei den Protesten?

Soziale Medien spielen eine zentrale Rolle. Nicht nur bei der Mobilisierung und Organisation der Proteste, die übrigens nicht nur in Nairobi sondern in sämtlichen grösseren Städten stattfanden. Auch beim Verbreiten regierungskritischer Informationen. Früher wäre es den meisten Leuten gar nicht aufgefallen, wenn z.B. der Landwirtschaftsminister sämtliche führenden Mitarbeiter im Ministerium aus seinem Umfeld rekrutierte, obwohl dies gegen die Verfassung verstösst. Heute verbreiten sich solche Informationen auf Tiktok und Instagram wie ein Lauffeuer. 

Unterstützen auch die älteren Generationen die Proteste?

Auch viele ältere Menschen sind schon seit längerer Zeit unzufrieden mit der Korruption und sagen den Jungen, sie sollen sich jetzt nicht zurücklehnen. Denn sie hatten bei früheren Protesten die Erfahrung gemacht, dass die Regierung nicht auf ihre Forderungen einging. Deswegen sind viele stolz auf ihre Kinder, da die politische Elite nun erstmals zur Verantwortung gezogen wurde.

Stehen die Oppositionsparteien hinter den Protesten?

Viele Oppositionspolitiker, die gegen das Finanzgesetz gestimmt hatten, haben sich mit den Protestierenden solidarisiert, wobei sich die meisten Protestierenden selbst keiner Partei zuordnen würden. Auch sind viele von ihnen den Oppositionspolitikern gegenüber skeptisch, da auch diese vom politischen System profitieren. Sie wollen nicht, dass nun ein Oppositionspolitiker kommt und diesen Prozess an sich reisst, um sich selbst in den Vordergrund zu stellen.

Wer hat die Proteste denn organisiert?

Es handelt sich tatsächlich um eine Graswurzel-Bewegung, ohne zentrale Führungsperson. Ein Aktivist, der zu einem Gesicht der Bewegung wurde, ist Boniface Mwangi. Über seinen X-Account wurden zahlreiche Aufrufe zu Demonstrationen geteilt. Er wurde deswegen auch schon mehrmals verhaftet, ist aktuell aber auf freiem Fuss.

Was haben die Protestierenden erreicht?

Ruto ist unter so viel Druck geraten, dass er das Finanzgesetz Ende Juni zurückgezogen hat. Wobei noch unklar ist, was das genau bedeutet. Denn an das Finanzgesetz gebunden ist eine Haushaltsvorlage (appropriation bill), die Jahresbudgets für die einzelnen Ministerien festlegt. Und diese Vorlage wurde noch nicht zurückgezogen. Das heisst, Ruto muss die Steuern trotzdem erhöhen, wenn er die bereits festgelegten Budgets auszahlen will. Ansonsten könnte ein Shutdown der Regierung drohen. Deswegen sagen einige Kommentatoren, Ruto spiele bloss auf Zeit.

Es ist auch das erste Mal in der Geschichte Kenias, dass Abgeordnete tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. Protestierende versammelten sich vor den Häusern der Abgeordneten, die für das Finanzgesetz gestimmt hatten, und stellten sie zur Rede: «Sagt uns, was ihr mit unserem Geld gemacht habt, zeigt uns die Projekte, die ihr finanziert habt. Falls nicht, werden wir euch nicht wiederwählen.»

Hatten die Proteste auch personelle Konsequenzen?

Ja, Ruto hatte sein Kabinett aufgelöst und alle 22 Mitglieder nach Hause geschickt. Er setzte seither das Kabinett neu zusammen und nahm vier führende Vertreter der Partei Orange Democratic Movement (ODM) von Oppositionsführer Raila Odinga in seine Kabinettsliste auf. Dies hat jedoch andere Politiker verärgert, die unter Railas Führung die Azimio-Koalition gebildet hatten. Sie haben nun damit gedroht, Raila fallenzulassen, wenn seine Mitglieder in Rutos Regierung aufgenommen werden.

In seinem neuen Kabinett hat Ruto elf Minister entlassen, die während ihrer zweijährigen Amtszeit überwiegend in korrupte Geschäfte verwickelt waren. Ruto hat auch den Polizeiinspektor Japhet Koome zum Rücktritt gezwungen und die oberste Polizeiführung umstrukturiert. Koome wurde beschuldigt, der Polizei den Befehl gegeben zu haben, auf Demonstranten zu schiessen und sie zu töten. Einen weiteren Rückschlag musste Ruto hinnehmen, als das Gericht sein Finanzgesetz für 2023 wegen zu hoher Steuern für verfassungswidrig erklärte. Die Anwälte hatten argumentiert, dass er nach der Rücknahme des Finanzgesetzes 2024 das letztjährige verwenden könne, um seine Regierung weiter zu führen. 

Viele sehen das Finanzgesetz als direkte Folge eines IWF-Kredits in Milliardenhöhe, den Rutos Vorgänger Kenyatta 2021 aufgenommen hatte. Die Bedingungen für den Kredit waren Steuererhöhungen, Subventionsabbau und Privatisierungen, die Massnahmen, wogegen das Volk nun aufbegehrt. Hat Ruto seine Probleme von seinem Vorgänger geerbt?

Ruto versucht das teilweise so darzustellen, aber lasst uns nicht vergessen, dass Ruto zehn Jahre lang Vizepräsident war, auch zum Zeitpunkt als dieser Kredit aufgenommen wurde. Er war also an all diesen Verhandlungen mit dem IWF dabei. Und auch seit seiner Wahl zum Präsidenten war er weiterhin oft im Westen unterwegs, kürzlich erst traf er Präsident Biden, dem er kenianische Soldaten für einen Einsatz in Haiti bereitstellte. Viele werfen Ruto vor, dass er sich beim Westen anbiedert, um künftig noch mehr Kredite zu erhalten. Das Problem dabei ist, dass damit nur alte Schulden zurückgezahlt werden, oder das Geld in den Taschen von Leuten verschwindet, denen er noch einen Gefallen schuldet. In die Infrastruktur des Landes fliesst das Geld jedoch nicht. Viele kritisieren deswegen den IWF, dass er Kenia den Kredit überhaupt gewährt hatte. 

Hatte sich im Land denn nichts zum Positiven geändert, seit Kenia den IWF-Kredit erhalten hat?

Leider nicht. Eines der Hauptprobleme der Ruto-Regierung ist tatsächlich die Korruption. Trotz der Milliarden von Schillingen, die durch den IWF nach Kenia flossen, ist vor Ort nichts Konkretes passiert. Man hörte lediglich, dass einer seiner Kumpel in Dubai mit 280 Millionen Kenia-Schillingen verhaftet worden sei. Einige seiner engsten Verbündeten haben sich Hubschrauber gekauft, mit denen sie über das Land fliegen. Es ist aber nichts passiert, was der Öffentlichkeit zugute gekommen wäre. Im Gegenteil: Es wurden Ernährungsprogramme für Schulkinder gestrichen, die in den Trockengebieten Kenias leben, wo es immer wieder Dürren gibt. Auch wurden die Studiengebühren von 50’000 auf 200’000 Kenia-Schilling erhöht. Die Leute verstehen nicht, weshalb alles teurer wird, wenn Kenia doch Geld vom IWF erhält.

Hätte der IWF die Kreditanfrage denn ablehnen sollen?

Nein, aber sie hätten erst sicherstellen sollen, dass der Kredit auch bei denen ankommt, die auf die Hilfe angewiesen sind. Wie kann man einem Land, das bereits verschuldet ist, und dessen Grossteil der Bevölkerung nur knapp über die Runden kommt, einen Kredit mit der Auflage geben, das Leben für die Leute noch teurer zu machen? Ohne gleichzeitig zu überprüfen, ob das Geld überhaupt für die Projekte verwendet wird, die bei der Anfrage angegeben wurden?

Der IWF sollte also in der Lage sein, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. Ich habe kürzlich mit einem Wirtschafts-Professor der Universität Nairobi gesprochen, der mir sagte, dass die kenianische Wirtschaft nicht mehr als zwei Milliarden Schilling pro Jahr absorbieren kann. Dennoch hatte Ruto vier Milliarden beantragt – ein Grossteil davon kam als Kredit vom IWF. Jeder kann sich selber fragen, wohin die überschüssigen Milliarden wohl fliessen werden.

Was denken Sie, wie werden diese Proteste Kenia prägen?

Ich denke, es hat bereits jetzt ein Wandel in den Köpfen der Politiker stattgefunden. Die Proteste werden die Art und Weise, wie unsere Regierung arbeitet, grundlegend verändern. Und das ist nicht nur meine Meinung. Viele Dozenten, Politiker und Ärzte, mit denen ich spreche, denken ähnlich. Viele von uns hätten es vor Kurzem als unmöglich erachtet, dass normale Bürger vor der Haustüre eines Abgeordneten aufkreuzen und ihn direkt zur Verantwortung ziehen. Erst gestern versammelten sich junge Menschen vor dem Haus des Gouverneurs von Nandi, einem Bezirk, der etwa 400 Kilometer von Nairobi entfernt ist. Sie stellten ihn zur Rede und wollten von ihm wissen, wofür er sein Budget ausgegeben hat, und welche Leute er angestellt hatte. Ein anderes Beispiel ist der öffentliche Brief, den Aktivisten an den Sportminister geschrieben haben. Er solle doch offenlegen, wer alles mit an die olympischen Spiele nach Paris fährt, und wie teuer der ganze Spass wird. Früher hätte der Minister seiner ganzen Familie und Entourage eine staatlich finanzierte Europareise ermöglicht. Heute kann er das nicht mehr tun, der besagte Minister hat bereits seinen Job verloren.

Die Folge davon ist, dass heute Abgeordnete damit beginnen, ihre Einnahmen proaktiv offenzulegen. Viele Politiker haben Angst, dass ihre Korruption offengelegt wird. Ich denke aber, es wird noch ein paar Jahre dauern, bis diese junge Generation ihren Platz im politischen System einnimmt. Wir hoffen, dass sie auf dem Weg dorthin nicht selbst korrumpiert.

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