Erich Gysling: Verlogener Ruf nach Demokratie (3)
An vorderster Front fordern Repräsentanten der USA in den arabischen Ländern mehr Demokratie. Am markantesten war der grosse Appell von US-Präsident Obama in seiner als historisch bezeichneten Rede in Kairo am 2. Juni 2009. Die gleichen Regierungen aber hatten nie gezögert, mit den Autokraten der arabischen Welt freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Mubarak, Ben Ali, Bouteflika, der König von Marokko, der Monarch von Jordanien, die Herrscher in Saudiarabien und am Golf, auch der jemenitische Präsident Saleh – sie alle wurden vom Westen jahrzehntelang hofiert und militärisch unterstützt, obwohl man um die Verletzung der Menschenrechte und die Förderung oligarchischer Strukturen wusste.
Ölquellen und Terroristen im Vordergrund
Selbst Libyens Ghaddafi stand seit 2003 in der Gunst westlicher Regierungen, nachdem Ghaddafi erklärt hatte, er verzichte auf sein Atomprogramm. Warum all das? Erstens wollte man sich den Zugang zu den Ölquellen sichern. Zweitens wollte man – das galt besonders für die USA – gute Beziehungen mit den Herrschenden, um Israel zu privilegieren. Und drittens suchte man die Kooperation mit autoritären Regimen im Rahmen des so genannten Kriegs gegen den Terror. Wer bereit war, Leute mit angeblichen al-Qaida-Sympathien zu verfolgen, konnte im Übrigen tun, was er wollte – die Gunst von Seiten Washingtons und teils auch westeuropäischer Regierungen war garantiert.
Russland und China nahmen andere Positionen ein: sie pochten im Wesentlichen auf die Pflicht zu Nicht-Einmischung, liessen, mit anderen Worten, die im arabischen Raum Herrschenden genau so gewähren wie die Westmächte. Auch sie waren darauf bedacht, sich die Energieressourcen und die Absatzmärkte zu sichern. Aber die Regime in Moskau und Peking waren auch aus anderen Gründen skeptisch, defensiv, zurückhaltend: Sie befürchteten einen Übersprung des Funkens der Volksrebellionen auf ihre eigenen Länder. China war ja nicht weniger autoritär als die arabischen Regime – Moskau praktizierte eine gelenkte Demokratie, in der die hohe Obrigkeit sich gegenüber der Bevölkerung immer selbstherrlicher gebärden konnte.
USA hatten Gerichtshof diskreditiert
Und die übrige Welt? Aufstrebende Länder wie Indien, Brasilien, Südafrika blieben auf Distanz zu dem, was der Westen anstrebte. Die Afrikanische Union zeigte sich besonders skeptisch gegenüber juristischen Prinzipien Europas: Als der Chefankläger des Internationalen Tribunals in Den Haag den libyschen Herrscher Ghaddafi zum Kriegsverbrecher erklärte und ihn vor das Gericht ziehen wollte, verweigerten sich die Afrikaner. Sie würden den Haftbefehl ignorieren, sagten die Staatschefs der afrikanischen Länder. Sie wiesen gleichzeitig und nicht zu unrecht darauf hin, dass die USA, beispielsweise, die Autorität dieses Gerichts schon vor Jahren nicht nur in Frage gestellt, sondern sogar per Gesetz dekretiert hätten, dass jeder Amerikaner, der da angeklagt würde, mit militärischer Gewalt befreit werden müsse. Wo bliebe da die Gerechtigkeit?
Zögerliche Unterstützung des Westens
Der Westen hatte Mühe, sich auf die neuen Realitäten einzustellen. Französische Spitzenpolitiker versprachen beim Ausbruch der Revolte dem tunesischen Herrscher Ben Ali noch jede denkbare Unterstützung – dann musste man erkennen, wie weit man sich von den Realitäten entfernt hatte. Die USA hatten Schwierigkeiten, sich von Mubarak zu trennen – treu hatte er jahrzehntelang die amerikanischen Richtlinien befolgt. Italien versuchte zu Beginn des Aufstands in Libyen noch, sich neutral zu verhalten – aufgrund der intensiven Beziehungen mit dem Ghaddafi-Regime: Oellieferungen einerseits, Abkommen über die Kontrolle der illegalen Migration übers Mittelmeer anderseits.
Dann kam die Wende: Frankreich stellte sich, zusammen mit Grossbritannien, an die Spitze der Nato-Strategie gegen Ghaddafi in Libyen. Von italienischem Terrain aus wurden die Bombardemente gegen die Ghaddafi-Kräfte koordiniert. Die USA wollten im Hintergrund bleiben – sie wollten nicht eine weitere Kalamität wie in Afghanistan erleben, nicht noch einmal einen Langzeitkonflikt wie in Irak riskieren, nicht ihr ohnehin strapaziertes Kriegs-budget noch zusätzlich belasten.
Rechtzeitige Kehrtwende
Als die libyschen Rebellen Ende August in Tripolis einzogen und der Übergangsrat dabei war, eine provisorische Führung für das ganze Land zu bilden, kam die Stunde der Wahrheit: Länder, deren Regierungen sich aktiv für die Rebellen und gegen Ghaddafi engagiert hatten, sollten bei der Beteiligung an den Erdöl- und Erdgasverträgen bevorzugt werden, mit den anderen müsste man noch «Verhandlungen» führen, sagte ein Mitglied des Rates.
Frankreich, Grossbritannien, die USA konnten also getrost in die Zukunft blicken: Konzerne aus ihren Ländern standen vorn bei der Beteiligung an den libyschen Rohstoffen, im Gegensatz zu Russland, China und Deutschland, deren Regierungen die Uno-Resolution vom 17. März nicht unterstützt hatten. Italiens Premier Berlusconi anderseits gewann sich die Gunst der Nach-Ghaddafi-Führung durch eine finanzielle Weichenstellung: 350 Millionen Dollar Bankeinlagen in Italien, getätigt noch durch das Ghaddafi-Regime, sollten sogleich für Soforthilfe für das durch den Krieg schwerwiegend zerstörte Libyen freigegeben werden, versprach Berlusconi.
Unterschiedliche gesellschaftliche Machtstrukturen
In einigen Ländern der arabischen Welt spielen Stammesstrukturen eine wesentliche Rolle, in anderen nicht. Libyen ist, obgleich die Mehrheit der etwa 6,5 Millionen Einwohner in Städten lebt, noch immer stark von Stammes- und Clan-Loyalitäten geprägt.
Dagegen spielen die Stämme in Ägypten, Syrien und Tunesien keine wesentliche Rolle. Aber der Funke der Rebellion sprang von Ländern ohne Stammesstrukturen auf Länder über, in denen die Stämme noch immer wesentlich sind. Im Verlauf der Umwälzungen zeichneten sich dann aber doch wieder die Unterschiede ab. Der Konflikt in Libyen verlief teilweise entlang der Stammes-Loyalitäten – und auch der regionalen Differenzen.
Christliche und andere Minderheiten lebten unter Diktaturen zum Teil besser
In Bahrain war die religiöse Komponente wesentlich: Die Bevölkerung, mehrheitlich schiitisch, rebellierte gegen die sunnitische Herrschaftsschicht – und diese holte die ebenfalls sunnitischen Saudis, um die Proteste zu unterdrücken.
In Syrien spielten und spielen religiöse Zugehörigkeiten eine andere Rolle: Einzelne Minderheiten (die Christen mit etwa zehn Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung) fühlten und fühlen sich von der ebenfalls minoritären Herrschaftsgruppe der Alawiten (zu denen die Assad-Familie gehörte) geschützt, auch wenn sie politisch skeptisch gegenüber der Staatsführung eingestellt waren. Viele ihrer Angehörigen wünschten sich zwar einen Wandel, aber sie befürchteten gleichzeitig, nach einem Umbruch diskriminiert zu werden.
In diesem Zusammenhang wiesen viele von ihnen, besonders Christen, auf die Erfahrungen in Irak hin: dort hatte die christliche Minderheit sich unter der Diktatur von Saddam Hussein als nicht diskriminiert empfunden (sofern ihre Mitglieder sich nicht politisch exponierten!), jetzt aber, unter dem neuen Regime (von Schiiten dominiert) wurden viele ihrer Gemeinden verfolgt. Resultat: Bis 2011 emigrierten etwa 900’000 der ursprünglich 1,5 Millionen Christen aus Irak, die meisten von ihnen zunächst nach Syrien. Unsicherheit auch bei den koptischen Christen in Ägypten nach dem Sturz Mubaraks: Im Oktober kamen 24 Menschen durch Gewalt in Kairo ums Leben.
Neue Situation für Frauen in den Städten
Generell stellte man einen allmählichen Autoritätsverlust in den verschiedenen arabischen Gesellschaften fest. Fast unbeschränkte Autorität hatte bis vor wenigen Jahrzehnten noch der Vorsteher einer Grossfamilie. Je nach Land und Stamm umfasste sie zwischen einigen hun-dert oder eintausend Mitglieder. Das begann sich im Zuge der Urbanisierung und dem Einfluss der Massenmedien zu ändern.
Zog oder zieht beispielsweise ein Teil der Familie vom Land nach Kairo um, muss dort oft auch die Frau berufstätig werden, um die Gemeinschaft zu erhalten. Sie entgeht so der vorher üblichen Total-Kontrolle durch den Patriarchen.
Die Töchter gehen in höhere Schulen und dann eventuell auch in die Universität. Über 50 Prozent der Studierenden in Kairo sind derzeit Frauen. In der iranischen Hauptstadt Teheran sind es sogar 70 Prozent. Sie kommen in Kontakt mit der männlichen Gesellschaft, die nach wie vor sehr macho-orientiert ist. Das führt anderseits zu Unsicherheiten im Verhalten, und diese Situation machen sich fundamentalistische Gruppen gerne zu Nutzen. Sie halten die jungen Frauen an, sich durch die Befolgung islamischer Grundregeln gegenüber der Männer-Gesellschaft abzugrenzen und die Ideologie der Fundamentalisten auch in ihrer eigenen Familie zu vertreten.
Die Moslembrüder in Ägypten konnten dank Aktivitäten in den Universitäten besonders bei Studentinnen ihre Basis deutlich erweitern. Die Loyalität, mit anderen Worten, wandte und wendet sich bis zu einem gewissen Grad von der alten Familienautorität ab – ohne dass die Wertvorstellungen deswegen liberaler werden müssen. Oft geht der Trend eher in die gegenteilige Richtung. Aber die Familienautorität wird abgebaut, und diese «anti-autoritäre» Haltung reichte jetzt, in der so genannten Arabellion, auch schon weiter nach oben: Staatschefs, deren Autorität früher akzeptiert worden war, waren nun nicht mehr sankrosankt – man konnte, kann sie sogar vor Gericht ziehen.
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Es folgt Teil 4: «Israel vor neuen Herausforderungen»
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Erich Gysling, früherer Chefredaktor von TV DRS und Leiter von Rundschau und Tagesschau, jetzt Chefredaktor des in sechs Sprachen erscheinenden Buchs "Weltrundschau", spezialisierte sich als Journalist auf den Nahen Osten. Nach einem Arabisch-Studium publizierte er drei Bücher über die Beziehungen zwischen der mittelöstlichen und der westlichen Welt. Er bereist die Region (inklusive Iran) weiterhin regelmässig.
Ja, Herr Gysling, sie haben, wie so oft, den Durchblick. Ist es tatsächlich zu viel verlangt, dass ein durchschnittlicher Schweizer Journalist Ihren Kenntnisstand hat? Offenbar schon.
Das Problem im verlogenen Ruf nach Demokratie ist nicht nur der feige Politiker. Das Problem ist paradoxerweise zugleich auch die Lösung: nämlich das Öl.
Ein Blick in die Glaskugel… : Seit die USA ihre Öl-Import-Häfen auf Export umbauen, beschleicht die Juden, Russen, Chinesen und vor allem die Saudis ein gewisses Unbehagen. Speziell Israel fürchtet sich vor dem Tag, an dem die USA mehr Öl produzieren werden, als die Saudis/OPEC etc. Für sie ist der Iran dann plötzlich gar kein Problem mehr. War es auch gar nie, denn wenn die Amis wieder genug Erdöl fördern, werden sie Israel wie eine heisse Kartoffel fallen lassen. Durch den Nahen Osten wird wieder ein kurzes Frühlingslüftchen wehen und der Ölpreis wird sich wieder bei etwa 50 Dollar stabilisieren. Gerade so viel, dass die Araber noch genug daran verdienen, um damit die US-Militärtechnologie zu bezahlen. Mit Barack Obama am Ruder wird dieser Übergang in kleinen Schritten vollzogen. Zum Glück, denn Mitt Romney wäre dafür bestimmt ungeeignet gewesen.
In Zukunft wird die USA den Ölpreis dirigieren. Der Dollar wird wieder stark und die Chinesen (mit ihren Schuldscheinen in den USA) werden die Kröte schlucken.
Nur Europas Eliten verdrängen diese Veränderung im Global Monopoly, um noch schnell die Kassen zu leeren. Der letzte löscht das Licht. Es ist unerheblich, ob es Angela oder Manuel sein wird. Unsere rührigen Schweizer Politiker sind ja auch vorwiegend mit sich selber beschäftigt. Also hängt wieder alles an den Diplomaten. Sie werden es schon richten, wenn sie denn dürfen.
Dass gerade Schweizer Politiker Demokratie in der grossen, weiten Welt einfordern, zeugt von deren Unfähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen. Wenn das Despoten und Berlusconis tun, weiss man dies zu werten. Aber unser Aussenminister, Didier?
Man darf ruhig erkennen, dass nicht jedes Land mit Demokratie umgehen kann. Sowas kann lange dauern. Generationen. Somit werden auch die Rechte der Minderheiten weiterhin mit Füssen getreten. Von den Rechten der Frau spricht dort sowieso keiner. Was man machen kann ist, diese Führer nicht mehr in die Schweiz einzuladen. Sie nicht mehr zu hofieren. Ihre Privatjets nicht mehr in die Schweiz kommen lassen. Dazu genügt es, die Lizenzen ihrer Privatpiloten zu überprüfen.
Ihre Abhandlungen, Herr Gysling, sollten in Schweizer Schulen gelehrt werden. Wird aber schwierig, mit unserem Lehrpersonal. Die Hoffnung stirbt zuletzt; aber sie stirbt.
Gruss aus Neuseeland