Ghasa_Prison_PressTV

Die Forderungen: Bewegungsfreiheit für die Einwohner von Ghaza – Sicherheit für Israel © PressTV

Erich Gysling: Israel herausgefordert (4. Teil)

Erich Gysling /  Dank dem Einfluss der USA konnte sich Israel mit den arabischen Despoten arrangieren. Jetzt droht Ungemach von Agypten bis Syrien.

Die Regierung und die Öffentlichkeit Israels wurden durch die «Arabellion» vor eine neue Herausforderung gestellt. Mit den alten Autokraten hatte man sich, vor allem aufgrund der Absprache mit den USA, recht gut arrangiert. Mit Mubaraks Ägypten gab es einen aus dem Jahr 1979 datierenden Friedensvertrag, und der beinhaltete u.a., dass die Führung in Kairo gegen die israelische Besiedlung des besetzten Westjordanlands nicht protestierte. Auch, dass Ägypten die im Gazastreifen herrschende Hamas-Führung isolierte und den Grenzübergang zum Gazastreifen dicht machte.
Nach dem Sturz Mubaraks erschien vieles offen: Würde die neue Führung die bilateralen Vereinbarungen einhalten oder nicht? Die Übergangsregierung in Kairo öffnete die Grenze zum Gazastreifen für einzelne Personengruppen. Sie kontrollierte die Grenze im Sinai nur ungenügend – so dass eine Gruppe von palästinensischen Extremisten im August via Ägypten ein schwerwiegendes Attentat im israelischen Eilat verüben konnte.
Israel musste erkennen, dass die Bevölkerung Ägyptens vehement gegen die «weiche» Israel-Politik des alten Mubarak-Regimes eingestellt war. Im August kam es in Kairo zur Erstürmung der israelischen Botschaft.
Auch mit dem alten Regime Tunesiens hatte Israel relativ entspannte Beziehungen aufbauen können.
Nie ein Schuss über die Grenze zu Syrien
Und mit Assad in Syrien gab es eine Art von kaltem Einverständnis: Bashar al-Assad – das galt auch schon für dessen Vater, Hafez al-Assad – hatte dafür gesorgt, dass nie ein Schuss über die gemeinsame Grenze an dem von Israel besetzten Golan-Gebiet fiel. Assad signalisierte, bei allen Differenzen, jahrelang dafür, dass es keinen offenen Konflikt zwischen den beiden Ländern geben konnte. Auch mit Jordanien hatte Israel tragbare Beziehungen, ja sogar einen papierenen Friedensvertrag.

Israels Angst vor arabischer Solidarität

Würde diese Situation (Assad = geliebter Feind) noch bestehen, falls eine volksnahe Regierung in Damaskus eingesetzt wäre? Im Verlauf des Jahres 2011 gab es Forderungen von Seiten der Bevölkerung, grundlegende Reformen durchzuführen und die Haltung zu Israel zu ändern.
Die Palästinenser ihrerseits unternahmen einen Versuch zur Beilegung der Differenzen zwischen der kompromissbereiten Führung durch Präsident Mahmud Abbas im Westjordanland und der in Gaza herrschenden, islamistischen Hamas. Sie wollten, in Harmonie mit den Volksbewegungen in den anderen arabischen Ländern, eine Einheitsregierung bilden.
Ein positives Signal? Gewiss, sofern man die palästinensische Realität losgetrennt von deren Umfeld betrachtet. Gewiss nicht, sieht man die nahöstliche Welt aus der israelischen Perspektive: Hamas und Fatah von Mahmud Abbas zusammen, das könnte ja Israel nötigen, mit einer prinzipiell gegen die Anerkennung Israels eingestellten Regierung verhandeln zu müssen.

Recht auf Sicherheit und Recht auf menschenwürdiges Leben

Also entschied der israelische Premier Netanyahu: eine gemeinsame Palästinenserregierung wird nicht als Gesprächspartner anerkannt. Die USA blieben an Netanyahus Seite – und Barack Obama liess Netanyahu auch gewähren, als dessen Regierung Pläne zu immer noch mehr israelischen Siedlungen im schon schwer zerstückelten palästinensischen Westjordanland bekannt gab. Obama erklärte auch noch im November 2012, beim Beginn des vorläufig) letzten Kriegs zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen, Israel habe ein Recht auf Sicherheit. Dem kann man nichts entgegen halten – ausser der Frage, ob denn die Palästinenser im Gazastreifen nicht wenigstens ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben hätten, oder ob es ihr Schicksal sein soll, auf ewig in einem «offenen Gefängnis» zu verbleiben. Mit mehr als 50 Prozent Arbeitslosen, mit zwei Dritteln unterstützungsbedürftig durch internationale Organisationen. Ohne eigene Kontrolle des Luftraums und über das angrenzende Meer.

Europa mit Migration und Masseneinwanderung konfrontiert

Als die autoritären Regime zu wanken begannen, Tunesien machte den Anfang, gab es in Europa grosse Hoffnungen: Jetzt sollten wohl keine Nordafrikaner mehr motiviert sein, ihr Land über’s Mittelmeer zu verlassen! Weit gefehlt: immer mehr Flüchtlingsboote aus Tunesien, dann vor allem aus Libyen landeten auf der italienischen Insel Lampedusa, immer mehr Menschen ersuchten um Asyl. Weshalb? Viele Migranten kamen aus wirtschaftlicher Not. Der Umbruch führte zumindest vorläufig dazu, dass sich die wirtschaftliche Krise verschärfte. Die Tourismusbranche brach zusammen – Hunderttausende Tunesier und Ägypter wurden arbeitslos. Auch nach Marokko und Jordanien reisten vorerst fast keine Europäer mehr – aus Furcht vor Unruhen. Dann kamen auch politische Flüchtlinge: Menschen, die sich aus irgendeinem Grund mit den alten Regimen arrangiert hatten, und die sich jetzt diskriminiert fühlten. Und bisweilen mischten sich Kleinkriminelle unter die Migranten – Leute, die wegen irgendwelcher Vergehen straffällig geworden waren und in der neuen Ordnung, die mehrheitlich noch Unordnung war, keine Chancen erkannten.
Italien, am direktesten exponiert gegenüber der neuen Welle, wollte die Migranten innerhalb des europäischen Schengen-Raums weiter «kanalisieren», geriet dabei aber auf Widerstand in Frankreich. Mühsam konnten provisorische Lösungen ausgehandelt werden. Und anderseits musste man zur Kenntnis nehmen, dass auch immer mehr Menschen via Griechenland in die zentralen Gebiete Europas wanderten.
Ein Einkommen in Europa finden
Ist dies das Resultat des «arabischen Frühlings» für Europa? Europäische Regierungen versprachen den Ländern im Umbruch finanzielle und logistische Hilfe. Aber vorerst änderte sich dadurch wenig: Wirtschaftlich blieben die «Arabellion»-Länder in tiefer Krise. Die Arbeitslosigkeit wuchs weiter an, die Touristen aus Europa blieben weitgehend aus, die in den Unruhen beschädigten Ölleitungen, Strassen etc. blieben defekt. Und weil daher viele Menschen in diesen Ländern keine rasche Besserung ihrer Lage sahen, versuchten und versuchen sie weiterhin ihr Glück durch die Ausreise.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Erich Gysling, früherer Chefredaktor von TV DRS und Leiter von Rundschau und Tagesschau, jetzt Chefredaktor des in sechs Sprachen erscheinenden Buchs "Weltrundschau", spezialisierte sich als Journalist auf den Nahen Osten. Nach einem Arabisch-Studium publizierte er drei Bücher über die Beziehungen zwischen der mittelöstlichen und der westlichen Welt. Er bereist die Region (inklusive Iran) weiterhin regelmässig.

Zum Infosperber-Dossier:

Arabellion

Arabellion: So geht es weiter

Von Tunesien, Ägypten bis nach Syrien sprach man vom «arabischen Frühling». Wer gewinnt den Poker um die Macht?

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.