istanbul

Die dynamische Megacity am Bosporus: Istanbul ist vielfältig und voller faszinierender Charaktere. © pintugupta565 (Pixabay)

Eine leuchtende Stadt, gespalten und doch voller Mut

Amalia van Gent /  Die Journalistin Christiane Schlötzer portraitiert das vielfältige Istanbul mittels 24 Begegnungen. Eine Buchbesprechung.

«Als ich einmal gegen Abend einschlief und mitten in der Nacht erwachte, funkelte genau über dem Gitterkäfig ein Mond, der fast den gesamten von meinem Lager aus sichtbaren Himmel einnahm. Beim Anblick dieses von dunkelblauen Wellenlinien durchzogenen, immer stärker werdenden silbrig glänzenden Lichtes durchfuhr mich ein Schrecken. Etwas so Schönes im Gefängnis zu erblicken ist angsteinflössend. Ich fürchtete mich vor der Schönheit des Mondes und seinem Licht».

Ahmet Altan

Mit diesen Worten zitiert Christiane Schlötzer in ihrem vor kurzem veröffentlichten Buch «Istanbul – ein Tag und eine Nacht: Ein Portrait der Stadt in 24 Begegnungen» den türkischen Schriftsteller Ahmet Altan. Altan und sein um drei Jahre jüngerer Bruder Mehmet, ein in der Türkei geschätzter Wirtschaftswissenschaftler, der der Autorin bei einer früheren  Begegnung den Charakter des von den Islamisten gepredigten Kapitalismus offenlegte, wurden nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 kurz vor 6 Uhr morgens von der Sonderpolizei abgeholt. «Die dunkelste Stunde ist die vor Sonnenaufgang», sagt ein türkisches Sprichwort. Und um die Uhrzeit wanderten ab 2016 unzählige Richter und Journalisten, Offiziere und Geschäftsleute, Professoren und Studierende  hinter Gitter. Manche bekannte Grössen sind dabei noch im mittlerweile berühmt-berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis «Silivri» am Rande Istanbuls eingesperrt.

Versuch, das Portrait einer Ur-Stadt zu skizzieren

Christiane Schlötzers Buch ist ein Versuch, das Portrait dieser «Ur-Stadt» am Bosporus zu skizzieren. «Die Stadt ist so alt, dass sie ihr eigenes Alter vergessen hat», schreibt sie und  lässt in 24 Begegnungen ihre Gesprächspartner über sich und über die Geschichte ihrer Stadt und somit ihres Landes erzählen. Ihre Geschichten heben sich dabei aufgrund einer erstaunlich scharfen Beobachtungsgabe hervor — und teils auch wegen ihrer betont poetischen Sprache. Da ist z.B. der Koch Cem Eksi, der in Deutschland als Kind mit Migrationshintergrund aufwächst, auf der «Suche nach den Ursprüngen des Geschmacks», aber nach Istanbul zurückkehrt und in der neuen Heimat erfolgreich kulinarisches Neuland schafft.

Zu Gespräch steht auch der kurdische Alewite Zaza Yurtsever aus der ostanatolischen Provinz Bingöl. Yurtsever, als ethnischer Kurde und Mitglied der religiösen Minderheit der Alewiten, trägt schon aufgrund seiner Geburt die Identität jener Minderheiten, die in Anatolien seit alters her von «Pogromen und Aufständen» geprägt sind. Als nach dem Militärputsch 1980 «Linke, die wir kannten, festgenommen, gefoltert, auch einige ermordet wurden», holt der Vater die Familie nach Deutschland nach. In Berlin lernt der studierte Psychoanalytiker seine Homosexualität akzeptieren und zieht später nach Istanbul um, wo er die Schönen und Reichen der Stadt auf seiner Couch behandelt.

Christiane Schlötzer porträtiert auch Ethel Rizo, die sich als Jüdin, Griechin und Türkin versteht und damit eine seltene Mischung der ehemals grossen Kulturen dieser Stadt darstellt. Istanbul hatte sich gegen Atatürks eisernes Diktat der sogenannten «einheitlichen Nation» tatsächlich am längsten gewehrt, stellten die christlichen Istanbul-Griechen und Armenier sowie die Juden noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Teil seiner ehemaligen Mischkultur. Die sogenannte Vermögenssteuer 1942 fiel für Istanbuls Minderheiten aber so hoch aus, dass sie die meisten Betroffenen gleich zugrunde richtete. Jene, die nicht zahlen konnten, wurden in Arbeitslager geschleppt. Viele verloren dort ihr Leben. Aus diesem Grund zog die jüdische Minderheit als erste weg aus Istanbul. 1955 folgte dann ein von der Regierung geplantes Pogrom gegen die Istanbul-Griechen. Als 1964 die Regierung die Ausweisung von 60’000 Personen befahl, die zwar über einen griechischen Passport verfügten, in Istanbul aber seit Generationen ansässig waren, war auch das Ende dieser Minderheit besiegelt. «Die Ausgewiesenen durften nur einen Koffer mit zwanzig Kilo Gepäck und türkisches Geld im Wert von zwanzig US-Dollar mitnehmen», sagt Ethel Rizo. Dabei bildeten ausgerechnet diese Ausgewiesenen die wohlhabende, höhere und mittlere Schicht Istanbuls. Ihr Eigentum wurde konfisziert. Weggehen kommt für Ethel Rizo allerdings nicht in Frage. «In ihrer Geschichte ging es oft ums Bleiben oder Gehen und um eine, wie sie es nennt, ‹verrückte› Liebe zu Istanbul, über Generationen hinweg. «Das ist bei uns schon genetisch». 

«Auch das gehört zu Istanbul: Immer wieder hat der türkische Staat Menschen aus dieser Stadt gejagt – während andere Zuflucht suchten». Mit der Vertreibung der Minderheiten setzte Mitte des 20. Jahrhunderts eine bis heute ungebrochene Binnenflucht ein. Istanbul, das über Jahrhunderte hinweg 1.5 Millionen Einwohner zählte, wuchs zu einer Megacity von heute über 16 Millionen. Die Binnenflüchtlinge waren zunächst bemüht, am Rande der Stadt ihre Dörfer aus der Provinz wieder aufzubauen: im Viertel, im mahalle.

Wunschvisionen oder bewusste Lügen?

Doch wie die eingangs erwähnte Verhaftung Ahmed Altans zeigt, steht diese ethnische und kulturelle Pluralität in einem starken Spannungsverhältnis zu den nationalistischen Kräften an der politischen Macht. Erdoğans gewaltsame Reaktion auf den Putschversuch von 2016 ist nicht das erste Mal, dass die Türkei ihre besten und klügsten Köpfe massenweise einsperrt. Dreimal (1960, 1971 und 1980) liessen die türkischen Generäle ihre Panzer rollen, das Parlament auflösen, die Verfassung ausser Kraft setzen und Abertausende Andersdenkende verhaften. 1997 zwangen sie für ein viertes Mal die gewählte Regierung zum Rücktritt. Jedes Mal begründeten sie ihre massiven Interventionen mit der vermeintlichen «Rettung der kemalistischen Prinzipien». General Kemal Atatürk hatte sich 1923 eine Republik ausgemalt, die  «westlich-orientiert sowie säkulär, also wenig gläubig, und Heimat einer einzigen einheitlichen Nation» sein sollte. Offensichtlich ein Wunsch-Gedanke – oder doch eher eine bewusste Lüge?

In Anatoliens geographischem Raum, wo die heutige Türkei steht, haben seit Jahrtausenden jedenfalls bunte Völkergemische gelebt und viele Religionen gediehen. Millionen von Alewiten sowie Kurden oder tief gläubige Sunniten hörten auch nach der Republikgründung nicht auf, ihrem Glauben oder ihrer ethnischen Identität nachzuhängen; dies wurde wiederum von der Staatsführung als Verstoss gegen die Prinzipien der Republik betrachtet und mit nackter Gewalt – sei es mit Staatsstreichs oder Repression — bekämpft. Im Laufe der Zeit entstanden so Parallelgesellschaften, die ihr eigenes Verständnis der Geschichte und ihre eigenen Narrative pflegten und dem Staat sowie jedem «Anderen» misstrauten. Bezeichnenderweise setzten die Binnenflüchtlinge Istanbuls ob im Viertel Gaziosmanpaşa der meist linken Alewiten, im streng sunnitischen Sultanbeyli oder in den kurdischen Armenviertel von Kücükçekmece diese Tradition der Parallelgesellschaften fort.

Der letzte Putsch der Armee fand im Juli 2016 statt und scheiterte zum ersten Mal innert weniger Stunden. Er hätte für die Türkei einen Neubeginn bedeuten können. Stattdessen nützte ihn Präsident Recep Tayyip Erdoğan, um seine eigenen Narrative in Umlauf zu bringen. Demnach hätten sich Tausende Menschen den Panzern gestellt und somit «die Demokratie in der Türkei gerettet». War auch dies eine bewusste Lüge?

«Erdoğans neue Türkei ist den alten Fehlern verfallen», schreibt Christiane Schlötzer. «Diese heissen: autoritärer Staat, Zentralismus, Nationalismus». Und wie nach jedem Putsch der Generäle liess Erdoğan nach 2016 Abertausende willkürlich verhaften und unzählige Durchsuchungen landesweit durchführen. Konfiskationen von Vermögen und der Verlust von Arbeit bedeuten auch jetzt für Abertausende von Familien den Verlust ihrer Lebensgrundlage sowie ihre soziale Erniedrigung. «Weil dieses Land sich in seiner Geschichte sehr langsam bewegt, kann die Zeit nicht vorankommen», kommentiert der Schriftsteller Ahmet Altan. «Sie dreht sich zurück und wiederholt ihre eigene Vergangenheit». 

Die Revolte von Gezi

Ende Mai  2013 trat am Istanbuler Taksim-Platz, «auf dem man früher den Herzschlag der Stadt spürte», eine Bewegung in Erscheinung, die in ihrer Kreativität, Kraft und ihrem Umfang Geschichte geschrieben und das ganze Land in seinen Fundamenten erschüttert hat: die Gezi-Revolution. «Über Twitter hat sie erfahren, dass ein paar junge Leute im Park Zelte aufgeschlagen haben, um das Fällen der Bäume zu verhindern», erzählt Tatli, eine Gezi-Aktivistin. Nach dem Wunsch der Regierung Erdogan sollte ausgerechnet in diesem kleinen Park noch ein weiteres klimatisiertes Einkaufszentrum entstehen. «Es ging alles so schnell, wahrscheinlich, weil es vorher schon Proteste gegen andere Umweltzerstörungen in Istanbul gab». Tatli kommt in den Park und bleibt. «In der ersten Woche war das wie auf einem Festivalplatz, es gab Musik, Menschen brachten Zelte, Schlafsäcke, gebrauchte Bücher und Lebensmittel».

In dieser Festivalatmosphäre fielen allmählich alte gesellschaftliche Tabus: Kemalistische Nationalisten schwenkten ihre rotweissen türkischen Flaggen neben den kurdischen Trommlern. Fussball-Hooligans in Machogehabe spazierten Seite an Seite mit Homosexuellen. Tiefgläubige, kopftuchtragende Frauen kochten in provisorisch eingerichteten Küchen neben Studentinnen in Miniröcken. Es war, als wäre die 2. und 3. Generation der Binnenflüchtigen gerade dabei, die hohen, seit der Gründung der Republik errichteten Mauern ihrer Parallelgesellschaften abzureissen; als sehnten sie sich nur noch danach, zu leben und leben zu lassen.

Aus einem lokalen Istanbuler Ereignis war plötzlich die grösste landesweite Protestwelle entstanden gegen einen Staat, der ihr Leben in all seinen Sphären eindringlich bestimmen wollte. «Das Gezi-Frühlingsmärchen wurde am 15. Juni 2013 mit einem Grosseinsatz der Polizei beendet. Wasserwerfer, Tränengas, Schlagstöcke, Lärmbomben, das ganze Arsenal». Und dennoch: «Nach offiziellen Angaben nahmen innerhalb von drei Monaten mehr als 3.5 Millionen Menschen an rund 5000 Protestaktionen teil, verteilt über das ganze Land. Die traurige Bilanz: mehrere Tote und Tausende Verletzte, die Angaben schwanken stark». Können aber Träume mittel- oder längerfristig niedergeknüppelt werden? Dass der Menschenrechtler und Mäzen Osman Kavala noch immer hinter Gitter sitzt, zeugt davon, dass die  Regierenden sich ihrer Sache nicht mehr sicher sind. Wie die Gezi-Revolte symbolisiert nämlich auch Osman Kavala eine Türkei, die in ihrem Wesen kreativ, weltoffen und tolerant ist. Er verkörpert ihr Gesicht.

Christiane Schlötzers Buch ist schliesslich ein Versuch, Abschied von dieser Ur-Stadt am Bosporus zu nehmen, die sie persönlich tief geprägt hat. Christiane Schlötzer hat zwischen 2001 bis 2021 fast zwölf Jahre in Istanbul als Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung und des Zürcher Tages-Anzeigers gelebt. «Istanbul – ein Tag und eine Nacht» mit den 24 spannenden Portraits ist jedenfalls für alle Türkei-Reisenden und/oder -Interessierten eine Bereicherung.

Die Autorin und das Buch

Christiane Schlötzer, geboren 1954 in München, lebte zwischen 2001 bis 2021 fast zwölf Jahre in Istanbul, als Korres­pondentin der Süddeutschen Zeitung und des Zürcher Tages-Anzeigers, und zuletzt als Stipendiatin der Kultur­akademie ­Tarabya. Sie ist Mitgründerin des ­Vereins Journalisten helfen Journalisten, der ­verfolgte Journalistinnen und Journalisten unterstützt. 2016 erschien ihre ­»Lese­reise Türkei. Jenseits von ­Galata, im Übermorgenland« (Picus).

Christiane Schlötzer: «Istanbul – ein Tag und eine Nacht: Ein Portrait der Stadt in 24 Begegnungen», Verlag Berenberg, 2021. ISBN 978-3-949203-11-4


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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