Demonstrierende fordern die Freilassung armenischer Kriegsgefangener vor dem Uno-Gebäude in Genf im April 2021. © cc-by-sa-4 Iskender Giragossian

Eine Klimakonferenz im Zwangsfrieden

Amalia van Gent /  Aserbaidschans Herrscher inszeniert sich vor der COP-29 als Friedensstifter. Doch er hält den Konflikt mit Armenien am Köcheln.

Die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen (COP-29) in diesem Jahr findet kommenden November in Aserbaidschan statt –paradoxerweise wie die COP 28 in Dubai also in einem Land, dessen Haupteinnahmenquelle die Förderung fossiler Energie ist.

Aserbaidschans Elite sieht darin keinen Widerspruch, sondern nur Grund für Begeisterung, für die kein Superlativ zu viel und kein Lob zu überschwänglich zu sein scheint: Aserbaidschan habe in den letzten Jahren den Internationalen Astronautenkongress, die ersten Olympischen Spiele in Europa, mehrere internationale Sportwettbewerbe und den Eurovision Song Contest beheimatet, kommentiert etwa Ayaz Museyibov vom regierungsnahen «Zentrum für Wirtschaftsreformen und Kommunikation». Damit habe das Land unter Beweis gestellt, dass es sich als Veranstaltungsort von Weltrang eigne.

«In Bezug auf Umfang und Bedeutung stellt die nächste COP-29-Klimakonferenz jedoch alle früheren Zusammenkünfte in den Schatten». Denn in Baku würden die Weichen gegen den globalen Klimawandel gestellt werden, so Ayaz Museyibov.

Politische Würdigung

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew misst der Dringlichkeit des Klimawandels weniger Bedeutung bei. Er strebt auch nicht eine Reduktion der fossilen Energie an. Ganz im Gegenteil: Er lässt mehr Erdgas aus dem Kaspischen Meer vor Bakus Ufern fördern oder aus Zentralasien und Russland weiterverkaufen. Denn es ist sein erklärtes Ziel, in absehbarer Zeit Aserbaidschan zu einer Energie-Drehscheibe zwischen Zentralasien und Europa zu verwandeln.

Von der COP-29 erhofft sich Alijew in erster Linie Gewinne politischer Natur. Seit Beginn der 1990er Jahre wird Aserbaidschan eisern von seiner Familie regiert. Wahlen sind wie in jeder Autokratie voraussehbar: Vergangenen Februar wurde Ilham Alijew etwa mit über 92 Prozent der Stimmen für fünf weitere Jahre im Amt bestätigt. Justiz, Parteien und Presse unterstehen seiner strikten Kontrolle; Opposition sowie die Zivilgesellschaft werden unterdrückt. Der Europarat prangert das Regime in Baku der ungezügelten Korruption an. Laut Forschern der Menschenrechtsorganisation Freedom House übertrifft Aserbaidschan jetzt Weissrussland als Europas repressivster Staat.

Dass die COP-29 dennoch in Baku stattfindet, dürfte Ilham Alijew als persönlichen Triumph empfinden. Nächsten November wird er als Gastgeber nämlich führende Politiker aus aller Welt auf Augenhöhe begrüssen und sein Land nicht als Paria, sondern als respektables Mitglied der Weltgemeinschaft präsentieren können.

COP-29 gegen Kriegsgefangene

Ausgerechnet Armenien ermöglichte die COP-29 in Baku: Am 7. Dezember 2023 willigte die armenische Regierung ein, ihr Veto gegen Aserbaidschan als Gastgeber der UN-Klimakonferenz fallen zu lassen. Als Gegenleistung wurden 32 armenische Soldaten, die seit 2020 in Aserbaidschan gefangen gehalten wurden, freigelassen. Den Deal bezeichnete Ilham Alijew umgehend als «Geste seines guten Willens» und nannte die bevorstehende COP-29 eine «COP des Friedens».

Der Deal offenbarte vor allem die Ohnmacht Armeniens: Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland, Aserbaidschan und Armenien, das am 9. November 2020 in Moskau unterzeichnet wurde, sah bereits die Freilassung aller Kriegsgefangenen vor. Auch die Genfer Konvention, die nach 1864 das Kriegsrecht regelt, gebietet die Freilassung aller Geiseln und Kriegsgefangenen nach dem Ende eines bewaffneten Konflikts.

Das Regime in Baku glaubt allerdings, wie andere Kriegsherren unserer Zeit auch, sich über jedes internationale Recht hinwegsetzen zu können. So kann heute wohl niemand genau sagen, wie viele armenische Kriegsgefangene in Aserbaidschans Gefängnissen noch in Haft sind. Laut Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) sollen 303 armenische Familien ihre Söhne, Töchter und Väter vermissen. Wie viele von ihnen noch wo leben, bleibt unklar.

Die politische Führung Bergkarabachs eingesperrt

Unumstritten ist, dass Armenien seit letztem Oktober um das Schicksal von 23 weiteren Gefangenen bangen muss. Darunter befinden sich acht hochrangige und demokratisch gewählte Politiker, wie die ehemaligen Präsidenten Arkadi Ghukasyan, Bako Sahakyan und Arayik Harutyunyan; der Sprecher des Nationalen Parlaments David Ishkhanyan, oder der ehemalige Aussenminister David Babayan.

Sie wurden aus dem Flüchtlingstreck aus Bergkarabach herausgeholt in dem Moment, als das offizielle Baku öffentlich deklarierte, alle Armenier gehen zu lassen, die gehen wollten. Seither sind sie in Baku eingesperrt und werden als «Terroristen» und als Mitglieder einer illegalen Miliz vor Gericht in Ketten vorgeführt. Als Ruben Vardanyan, ein armenisch-russischer Milliardär, aus Protest gegen ihre Haftbedingungen vor kurzem einen Hungerstreik begann, soll er laut seinem Sohn gefoltert worden sein.

In der strafrechtlichen Verfolgung der 23 möchte das Regime in Baku offensichtlich ein Exempel gegen etwaige Dissidenten setzen. Es möchte ferner an Jerewan und den entsprechenden internationalen Institutionen die Botschaft vermitteln, dass Aserbaidschan den Bergkarabach-Konflikt als reine innenpolitische Angelegenheit betrachtet, in der Dritte nicht geduldet würden.

Während des Kriegs 2023 sprach Baku auch nie von einem «Krieg», sondern lediglich von einer «Operation» gegen eine Sezessionsbewegung. Das Beispiel des russischen Präsidenten Putin in der Ukraine hat im Südkaukasus augenscheinlich treue Nachahmer gefunden.

Mehr Geld für die Rüstung – weniger Geld für die bewährte Aussenpolitik

Die enthemmte Gewalt auf den Schlachtfeldern der Ukraine und Gaza, beide inzwischen Kriege ohne Aussichten auf ein baldiges Ende, haben die Politiker in Europa überfordert und überfordern auch die Politiker in Bern. Die Forderung nach einem Armeeausbau gewinnt in Bern wie in Brüssel stark an Zugkraft. Dies setzt das Budget der Regierungen unter Druck. Der Bundesrat fordert etwa eine Erhöhung des Militärbudgets von 21,7 auf 25,8 Milliarden, der Ständerat gar auf 29,8 Milliarden – woher soll das Geld kommen?

Kürzungen bei der humanitären Hilfe (in Brüssel) und bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) in Bern werden bereits geplant. Die bewährte globale Aussenpolitik der Schweiz zugunsten einer militärischen Sicherheitspolitik aufzugeben, käme einem Eigentor des Parlaments gleich, sagt Werner Thut, bis vergangenen Sommer stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer EZA-Programms im Südkaukasus, im Gespräch. Zahlreiche, konfliktpräventive Projekte müssten in Armenien, Georgien, Moldawien und im Balkan gestrichen werden – mit fatalen Konsequenzen für die EZA generell und absehbar für den Frieden.

Immer wieder neue Forderungen von Seiten Aserbaidschans

Der Südkaukasus ist auch nach zwei vernichtenden Kriegen von einem wirklichen Frieden weit entfernt. Aserbaidschan stellt als Siegerpartei dem Besiegten immer wieder neue Forderungen als Vorbedingung für ein Friedensabkommen in Bezug auf die Grenzziehung, auf den Wortlaut der armenischen Verfassung oder auf den sogenannten Sangezur-Korridor. Es handelt sich im Grunde um Zwangsfrieden – um einen «Frieden» also, wie ihn der Westen in der Ukraine mit jedem Mittel verhindern will.

Ilham Alijew möchte die bevorstehende COP 29 als ein «Gipfeltreffen des Friedens» verstanden wissen. Gibt es überhaupt Aussichten für eine friedlichere Zeit im Südkaukasus?

Bringt die 23 Geiseln zurück, fordern namhafte Persönlichkeiten aus Armenien. Wie ein Frieden im Konflikt des Nahen Ostens ohne eine Freilassung israelischer Geisel undenkbar ist, so sei jede Normalisierung der Beziehungen zwischen Jerewan und Baku «ohne die unverzügliche, bedingungslose Freilassung der 23 Geiseln aus Bergkarabach unvorstellbar», schreibt etwa Hrair Balian, der seit 35 Jahren in Führungspositionen bei den Vereinten Nationen und der OSZE zuständig für Konfliktlösungen im Nahen Osten, in Afrika, auf dem Balkan, in Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien tätig war.

Ähnlich wie Balian appelliert die Mehrheit der armenischen Politiker, Intellektuellen und Wissenschaftler an die Weltgemeinschaft, eine Freilassung der 23 noch vor der COP-29 zu erwirken. Weil Bakus Elite so grossen Wert auf die problemlose Durchführung der COP-29 lege, könnte das UN-Gipfeltreffen eine Chance sein.  

Mit je einer Botschaft in den drei Ländern vertreten und seit mehr als 20 Jahren mit einem regionalen Kooperationsprogramm engagiert, ist die Schweiz im Südkaukasus sehr gut vernetzt und wird als glaubwürdiger Akteur ohne geopolitische Agenda wahrgenommen. Bern könnte daher mit einer proaktiven Politik und konkreten Vorschlägen versuchen, auch diesen gefährlichen Konflikt zu deeskalieren, statt sich ausschliesslich auf die Ukraine zu konzentrieren. Einen neuen Krieg im Südkaukasus zu verhindern, würde schliesslich im ureigenen Interesse der Weltgemeinschaft und auch der Schweiz sein. Denn nach der Sprengung der Nordstream-Pipelines läuft die Energieversorgung Europas und der Schweiz über den Südkaukasus.

Eine vorprogrammierte Tragödie

Armenien und Aserbaidschan haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei grosse Kriege um die Region Berg-Karabach gefochten. Im ersten Krieg Anfang der 1990er Jahre errangen die Armenier einen entscheidenden Sieg. Sie beriefen sich auf das Recht auf Selbstbestimmung, das das Völkerrecht garantiert. Noch wähnten sie sich im Recht: Armenier machten historisch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Bergkarabachs aus. Baku behandelte sie zudem stiefmütterlich. Anfang der 1990er Jahre gründeten sie in dieser isolierten Region des Südkaukasus ihre Republik «Artsakh» und hofften bis zuletzt, ähnlich wie Kosovo, auf eine Anerkennung. Artsakh wurde von keinem Staat anerkannt. Seine 120’000 Einwohnerinnen und Einwohner konnten sich aber demokratisch selbst verwalten.

Im Juli 2020 schlug Aserbaidschan zurück. Baku berief sich dabei auf sein Recht auf territoriale Souveränität, was wie das Recht auf Selbstbestimmung ebenso vom internationalen Völkerrecht garantiert wird. Bergkarabach war nämlich von Josef Stalin Aserbaidschan zugesprochen worden. Aserbaidschan setzte gegen seinen Gegner massiv israelische und türkische Killerdrohnen ein. Diese neue Kriegsführung veränderte die Machtverhältnisse fundamental: Armenien erlitt eine vernichtende Niederlage, während Aserbaidschan nach und nach einen Grossteil seiner in den 1990er Jahren verlorenen Territorien zurückerobern konnte. Vom ehemaligen Artsakh blieb ein minimales Territorium erhalten, auf dem die Zivilbevölkerung ab Anfang 2023 von aserbaidschanischen Truppen belagert und ungeachtet des Urteils des Internationalen Gerichtshofs oder der wiederholten Appelle von Regierungen und internationalen Menschenrechtsorganisationen monatelang ausgehungert wurde. Eine Blitzoperation der Aserbaidschaner im September 2023 gipfelte schliesslich in der Vertreibung faktisch der gesamten armenischen Bevölkerung aus ihrem historischen Siedlungsgebiet.

Aserbaidschans Regime ist davon überzeugt, den Konflikt von Bergkarabach mit der Gewalt der Waffen ein für alle Mal gelöst zu haben. Da könnte es sich allerdings irren. Denn auf dem Parkett der internationalen Diplomatie wird bereits die Frage nach einer Rückkehr der Karabach-Armenier in ihre Heimat behandelt.


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Eine Meinung zu

  • am 13.09.2024 um 11:17 Uhr
    Permalink

    Wer hat beschlossen, wann, und warum, dass Aserbaidschan zu Europa gehört ?

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