Eine bewaffnete Ukraine ohne Nato macht das Land sicherer
Red. Stephen Wertheim ist Senior Fellow im American Statecraft Program des Think Tanks Carnegie Endowment for International Peace und Gastdozent an der Yale Law School. Er ist Autor des Buches «Tomorrow, the World: The Birth of U.S. Global Supremacy». Im Folgenden eine leicht gekürzte Version seines Gastbeitrags in der «New York Times».
«Dieser Krieg hat mit der Nato-Osterweiterung nichts zu tun»
Seit der unentschuldbare Aggression Russlands gegen die Ukraine behauptet ein Chor aus ehemaligen und gegenwärtigen US-Regierungsvertretern, wie dem früheren Botschafter in Russland, Michael McFaul: «Dieser Krieg hat mit der Nato-Osterweiterung nichts zu tun.» Der Grund für die Invasion seien ausschliesslich innerrussische Motive. Laut einer Version versucht der Autokrat Putin, eine Demokratie vor den Toren Russlands zu verhindern, bevor sie die russische Bevölkerung mit ihrer Freiheitsliebe infiziert. In einer anderen Version will der Imperialist Putin das Russische Reich durch die Eroberung fremder Gebiete wiederherstellen.
So oder so: Die Aktionen des Westens hätten keine Rolle gespielt.
Es ist kaum vorstellbar, dass zukünftige Historiker diese allzu simple Sichtweise teilen werden. Sogar Tyrannen handeln nicht in einem Vakuum.
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die Nato-Osterweiterung im Lauf der Jahre Moskaus Unmut immer mehr schürte und gleichzeitig die Ukraine unsicherer machte.
Als der Kalte Krieg endete, erwartete Moskau, dass die Nato, die ja ein anti-sowjetisches Militärbündnis war, auf ihrem Territorium verharrt und an Bedeutung verliert. Aber stattdessen machten die westlichen Staaten die Nato zum Mittelpunkt der europäischen Sicherheitspolitik und begannen einen Prozess der unbegrenzten Expansion Richtung Osten. Obwohl die Russen, wie die frühere US-Aussenministerin Madeleine Albright berichtete, «entschieden gegen die Osterweiterung waren», machten die USA und ihre Verbündeten damit einfach weiter und hofften, die Differenzen würden sich mit der Zeit von selbst wieder beruhigen.
Das Gegenteil war der Fall. Die Nato behauptete zwar, nicht gegen Russland gerichtet zu sein. Doch sie begrüsste neue Mitglieder, die eindeutig und aus verständlichen Gründen Schutz vor Russland suchten.
Russland wiederum hörte nie damit auf, eine «Einflusszone» im früheren sowjetischen Territorium zu beanspruchen, wie es Präsident Boris Jelzin 1995 offen erklärt hatte.
Nach dem Maidan wurde eine Nato-Mitgliedschaft wieder aktuell
Die Ukraine wollte nach ihrer Unabhängigkeitserklärung 1991 nicht sofort in die Nato. Doch das änderte sich in den frühen 2000er-Jahren, insbesondere nachdem sich Russland 2004 in die ukrainischen Präsidentschaftswahlen eingemischt hatte. In jenem Jahr nahm die Nato sieben neue Mitglieder auf, darunter die drei baltischen Staaten. Die Ukraine verblieb in einer Gruppe von Staaten, die zwischen der westlichen Allianz und einem verbitterten Ex-Imperium eingeklemmt waren.
Als die innenpolitischen Kämpfe in der Ukraine zunehmend vom wiederaufflammenden Ost-West-Gegensatz beeinflusst wurden, strebte die Regierung einen NATO-Beitritt an und fand einen mächtigen Unterstützer in US-Präsident George W. Bush.
Im Vorfeld des Nato-Gipfels 2008 wollte Bush der Ukraine und Georgien einen formellen Weg zur Aufnahme in das Bündnis ebnen, einen sogenannten «Membership Action Plan». Vor dem Treffen warnte William Burns, derzeitiger CIA-Direktor und damals US-Botschafter in Russland vergeblich, dass ein solcher Schritt schwerwiegende Konsequenzen hätte: «Ein NATO-Beitritt der Ukraine ist die deutlichste von allen roten Linien für die russische Elite, nicht nur für Putin», signalisierte Burns aus Moskau. Er sagte insbesondere voraus, dass der Versuch, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, die Russen dazu bringen würde, «sich in die Krim und die Ost-Ukraine einzumischen». Ähnliche Warnungen äusserten führende Geheimdienst-Mitarbeitende wie Fiona Hill.
Präsident Bush liess sich davon nicht beeindrucken und versuchte weiter, seine Pläne durchzusetzen. Doch er stiess auf den breiten Widerstand der europäischen Bündnispartner. Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiss: Die Nato erklärte, die Ukraine und Georgien «würden Bündnis-Mitglieder werden», ohne jedoch einen «Membership Action Plan» einzuleiten.
Dieser Kompromiss gewährte der Ukraine keine Sicherheit, provozierte jedoch Russland.
Als im Jahr 2010 der russland-freundliche Wiktor Janukowytsch zum ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, war das Gesuch um einen Beitritt zur Nato vom Tisch. Doch nach dem Maidan im Jahr 2014 befürchtete Russland die Nato wieder an der Grenze und unterstützte die Sezession der Krim [Red. wo Russland einen Militärstützpunkt hat].
Im Jahr 2019 schrieb die Ukraine den NATO-Beitrittswunsch sogar in die Verfassung.
Führende Nato-Vertreter wiederholten beharrlich, dass die Nato die Ukraine eines Tages aufnehmen wolle, namentlich noch auf dem letzten Gipfeltreffen vor dem russischen Einmarsch im Jahr 2022.
Starke Westanbindung, aber ohne Nato
Ganz gleich, wie dieser Krieg enden wird – er birgt ein hohes Risiko, früher oder später erneut aufzuflammen. Seit 2014 zeigte die Nato, dass sie wegen der Ukraine keine direkte militärische Konfrontation mit Russland will. Falls aber die Ukraine Nato-Mitglied würde und Russland darauf mit einer neuen Invasion reagierte, müssten die USA und die anderen Nato-Staaten sich entscheiden: Entweder den «Dritten Weltkrieg» entfesseln, wie Präsident Biden einen direkten Konflikt mit Russland passenderweise nannte, oder aber auf eine Verteidigung der Ukraine verzichten und damit die Sicherheitsgarantie des gesamten Bündnisses in Frage stellen.
Jede Formel für einen dauerhaften Frieden muss diese Komplexität berücksichtigen. Selensky sollte den Vorschlag wiederaufgreifen, den die Ukraine kurz nach Kriegsbeginn Medienberichten zufolge im März 2022 unterbreitet hatte [Red. In Istanbul war ein Verhandlungsergebnis vorunterzeichnet (paraphiert) worden]. Demnach würde die Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten und stattdessen ein «israelisches Modell» anstreben, Das wäre eine grosse, moderne Armee und den Aufbau einer exzellenten Verteidigungsindustrie mit umfangreicher äusserer Unterstützung.
Die EU sollte wiederum der Ukraine den Weg zu einem raschen Beitritt ebnen, um Investitionen für den Wiederaufbau anzuziehen. Dies wäre mit eigenen Sicherheitsgarantien verbunden, und zusätzlich könnten die USA sowie andere Nicht-EU-Staaten im Falle einer weiteren Aggression materielle Unterstützung versprechen.
Es gibt keine Patentrezepte. Russland wird sich vermutlich auch gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU oder anderen westlichen Institutionen wenden, aber damit dürfte sich Moskau eher abfinden als mit einer Nato-Mitgliedschaft. Es wäre gut, wenn nach dem Ende des Konfliktes europäische Staaten die Führung übernehmen würden, damit Putin nicht den Eindruck hat, die USA würden sein Land einkreisen und alle Strippen ziehen.
Die Ukraine braucht die Vision eines echten Sieges, nämlich einer blühenden, demokratischen und sicheren Zukunft, und keinen Pyrrhussieg der Nato-Träume und neuen russischen Invasionen. Ihre internationalen Partner sollten noch in diesem Herbst damit beginnen, diese Vision zu unterstützen. Es wird Zeit für eine weniger propagandistische Phase der öffentlichen Debatte, die von der Vergangenheit lernt, um die Zukunft zu gestalten.
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Übersetzung von Klaus Mendler
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die Ukraine wird vor allem eines: ausverkauft. Jetzt sind erst einmal die gewaltigen Schulden an den Westen zu begleichen und der Wiederaufbau zu schultern. Das wird nicht ohne gewaltige Privatisierungen und neoliberale Patentrezepte passieren. Die Ukraine hatte vor dem Krieg schon eine viel schlechtere Bilanz als Russland und konnte ihre klassische Stärke, den Ost-West-Handel und die guten Wirtschaftskontakte zu Russland nicht mehr ausspielen. Die Ausgangsbedingungen taugen nicht für ein israelisches Modell, dort gibt es ein Staatsvolk und eine starke Unterstützung durch Juden im Ausland. Außerdem ist das Land von Feinden umgeben und naturgemäß auf eine sehr leistungsfähige Armee und eigene Rüstungsindustrie angewiesen; auch ist Israel selber als lokale Großmacht aktiv. Alle historischen Ukraine-Gründungen aber waren Spielbälle deutscher, polnischer, allierter oder weißgardistischer und bolschewistischer Interessen; woher sollte also der Antrieb zu wahrhafter Unabhängigkeit kommen?
Gut an diesem Artikel ist der Anfang und das Ende. Dazwischen scheint die typische naive US-Vorstellung von Europa durch. Es wird täglich klarer: Je rascher die Amerikaner ihre Waffenlieferungen einstellen und die Beziehungen zu Osteuropa ganz Europa überlassen, desto weniger Tote, wirtschaftliche und moralisch-politische Schäden gibt es auf dem eurasischen Kontinent. Europa und Russland ergänzen einanander – diesen Nutzen kann eine noch so effiziente US-Wirtschaft nicht stiften, aber sie könnte vom so entstehenden grossen Markt mitprofitieren. Und eine Aufrüstung der Ukraine passt nicht in dieses Bild. Ein Neuanfang bei den Verträgen von Istanbul ist eine gute Idee. Noch könnte die Ukraine westlich des Dnjeprs weiter bestehen. Je länger der Krieg dauert, desto weniger wird davon überbleiben. Dieses Debakel haben übrigens erfahrene Fachleute seit Beginn des Krieges vorausgesehen, aber die Politiker und ihre medialen Lautsprecher versuchen bis heute, das Offensichtliche zu verschleiern.
Ob Russland wohl zu gleichen oder ähnlichen Bedingungen wie in 2022 verhandeln bereit wäre? Warum der Autor glaubt, Russland werde nach US-Vorstellungen verhandeln, kann ich nicht nachvollziehen.