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In quasi jedem Konfliktgebiet der Welt gibt es Angriffe auf Spitäler und Gesundheitspersonal. © Safeguarding Health

Ein Kriegsverbrechen, das niemand verfolgt

Daniela Gschweng /  Noch nie gab es so viele kriegerische Angriffe auf Spitäler. Dennoch wird kaum jemand dafür zur Verantwortung gezogen.

Im Oktober 2015 bombardierten die USA ein Spital in Kunduz, Nordafghanistan. Der Angriff kam am frühen Morgen und dauerte etwa eine halbe Stunde. Während des Angriffs, bei dem 42 Personen starben, 27 Angestellte und viele Patienten verwundet wurden, versuchten Ärzte und Angestellte verzweifelt den Angriff durch Telefonate und Textnachrichten zu stoppen.

Patienten verbrannten in ihren Betten, Personen, die versuchten, aus dem Gebäude zu fliehen, wurden erschossen, «Es war ein Alptraum», beschrieb eine überlebende Ärztin. Das Spital wurde vollständig zerstört.

«Ein Zusammenspiel aus technischem und menschlichem Versagen»

Zweck und Lage der Einrichtung von «Ärzte ohne Grenzen» (Médecins sans Frontières) waren den USA bekannt. Verantwortlich für den «Fehler» sei «ein Zusammenspiel aus technischem und menschlichem Versagen», so eine Untersuchung des Pentagons. US-Präsident Barack Obama entschuldigte sich, das US-Militär ergriff interne Massnahmen. Vor Gericht verantworten musste sich für den Angriff bisher niemand.

Kunduz war kein Einzelfall. Menschenrechtsorganisationen sind alarmiert über die Zunahme von gewalttätigen Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen und ihr Personal. «Zwischen Januar 2014 und Dezember 2015 fanden 594 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in 19 Ländern statt», fasst ein Bericht der WHO zusammen. «Dabei wurden 959 Menschen getötet und 1561 verletzt». Mindestens 62 Prozent davon, sagt die WHO, waren gezielte Angriffe.


Kriegerische Angriffe auf Spitäler und Gesundheitsversorger in den Jahren 2014 und 2015.

Joanne Liu, Präsidentin von Médecins sans Frontières, sprach Anfang Mai von einer «Epidemie an Attacken auf Gesundheitseinrichtungen», eine UN-Resolution forderte Anfang Mai die Einhaltung humanitärer Mindeststandards.

Gezielte militärische Angriffe auf Spitäler sind ein Kriegsverbrechen. Das Genfer Abkommen stellt Gesundheitseinrichtungen und ihr Personal unter besonderen Schutz. Die unterzeichnenden Länder verpflichten sich, Möglichkeiten der juristischen Verfolgung von Verstössen zu schaffen. Dennoch wird so gut wie nie jemand für diese Angriffe zur Verantwortung gezogen.

«Kein Schutz, kein Respekt»

Ein vor kurzem veröffentlichter 60-seitiger Bericht der Organisation «Safeguarding Health in Conflict Coalition», der verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGO) angehören, hat die Situation des Gesundheitswesens in Konfliktgebieten untersucht.

Der Bericht, der sich auf die Zeitspanne seit Januar 2014 erstreckt, trägt den vielsagenden Titel «Kein Schutz, kein Respekt». Das Papier liest sich wie eine Auflistung internationaler Konfliktherde.

Akribisch aufgelistet werden Morde, Verletzungen, Plünderungen und Zerstörungen von Spitälern, Behinderungen beim Zugang zu medizinischer Versorgung sowie die Folgen für die Gesundheitsversorgung. Sätze wie «.. wurden drei Menschen getötet und zwei weitere verletzt…», kommen so oft vor, dass man Mühe hat, sich zu merken, auf welches Land sie sich beziehen.

Bombenangriffe auf Spitäler in fünf Ländern

Einige Beispiele: Bombenangriffe auf Spitäler gab es in Syrien, Libyen, Afghanistan, im Jemen und im Irak. Allein in Syrien wurden im vergangenen Jahr 122 Angriffe auf Spitäler dokumentiert, einige Einrichtungen wurden zudem bei Beginn von Hilfsaktionen erneut bombardiert. Dieses spezielle Vorgehen der Assad-Regierung und ihrer russischen Verbündeten ist als «double-tab» bekannt.

Im Jemen wurden seit Dezember 2015 mehr als 100 Gesundheitseinrichtungen durch Bomben beschädigt. Laut UNICEF wurden dort 600 Spitäler geschlossen. Im Irak starben bei einem Angriff auf eine Kinder- und Entbindungsklinik 31 Personen. In der demokratischen Republik Kongo, berichtet ein Zeuge, wurden 2015 sieben Patienten und eine Krankenschwester mit Macheten ermordet, anscheinend ohne erkennbaren Grund. Angriffe auf Ambulanzen sind häufig, der Zugang zu Spitälern wird von Konfliktparteien verhindert, die Arbeit des Personals erschwert. Zur Verantwortung gezogen wurde deshalb so gut wie nie jemand.

Todesursachen von syrischem Gesundheitspersonal in 2015 (Quelle: PHR)

Die Organisation «Physicians for Human Rights» (PHR) hat im letzten Jahr in Syrien 107 getötete Ärzte und Pflegekräfte gezählt. 72 Prozent kamen bei einem Bombenangriff ums Leben, 11 Prozent wurden erschossen, 11 Prozent starben an Folter, 5 Prozent wurden exekutiert. In diesem Jahr waren es bisher weniger. Möglicherweise deshalb, weil es in Syrien immer weniger Gesundheitspersonal gibt.

Exodus des Gesundheitspersonals

Tausende Ärzte und Pflegekräfte sind in den letzten Jahren aus Konfliktgebieten geflohen. Syrien hat seit 2011 die Hälfte seines medizinischen Personals verloren, der Irak allein in den letzten zwei Jahren 45 Prozent. Aus den Gebieten Nigerias, die von der radikalislamischen Gruppe Boko Haram kontrolliert werden, seien «fast alle» geflohen, gibt der Report Auskunft.

Spitäler schliessen, funktionieren nur noch eingeschränkt oder können ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Im Südsudan etwa muss ein Spital etwa eine Million Menschen versorgen. Zwischen zwei Millionen (Lybien) und vierzehn Millionen Menschen (Syrien) haben keinen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung mehr.

Fehlende medizinische Versorgung tötet

Auch dort, wo nicht gekämpft wird, hat das drastische Folgen für die Bevölkerung. Ein ganz banaler Unfall kann unversorgt den Tod bedeuten. Wer in einem Konfliktgebiet nicht am Krieg stirbt, hat ein zunehmendes Risiko, stattdessen an einer Herzkrankheit, Cholera, Masern, Polio, Asthma oder bei einer Geburt zu sterben.

Anzahl der Menschen, die keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung mehr haben (Quelle «Safeguarding Health in Conflict Coalition»):
Jemen 14,1 Mio.
Syrien 11,5 Mio.
Irak 8,5 Mio
Somalia 3,2 Mio.
Mali 2,3 Mio.
Libyen 1,9 Mio.

Besonders gefährdet sind Millionen jemenitischer Kinder, da es im Jemen infolge des Bürgerkriegs bereits an Nahrung und Wasser mangelt. Laut UNICEF sind im Jemen bereits etwa 10‘000 Kinder unter fünf Jahren aufgrund fehlender Gesundheitsversorgung gestorben.

«Die Tatsache, dass diese Angriffe so verbreitet sind darf nicht als neue Normalität toleriert werden», sagte Margaret Chan, Generaldirektorin der WHO bereits im September 2014. Getan hat sich seither wenig.

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Diesen Beitrag hat Daniela Gschweng aufgrund von Berichten der Organisation «Safeguarding Health in Conflict Coalition», der WHO und anderer Quellen erstellt.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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