Alexander Sollfrank.MDR

Alexander Sollfrank: «Die Nato muss sich auf einen russischen Angriff vorbereiten.» © MDR

«Ein Krieg mit Russland fordert mehr Opfer als in Afghanistan»

upg. /  Die Nato plant für den Kriegsfall in Europa Massenrettungen verwundeter Nato-Soldaten. Das erklärte ein hochrangiger General.

In Afghanistan und im Irak erlitten die USA und ihre Verbündeten verhältnismässig wenige Kriegsopfer. Im Gegensatz dazu käme es bei einem umfassenden Krieg mit Russland wahrscheinlich zu schweren Verlusten auf einem riesigen Schlachtfeld.

Das erklärte Generalleutnant Alexander Sollfrank am 25. September in einem Interview mit Reuters. Er ist Kommandeur beim Multinationalen Kommando Operative Führung, das Aufträge der Nato ausführt. Demnächst wird er Chef des neu geschaffenen Operativen Führungskommando der Bundeswehr. 

Wegen der russischen Luftwaffe und Russlands hochgerüsteten Raketen und Raketensilos wären medizinische Evakuierungen von den Frontlinien per Flugzeug zu riskant, erkärte Sollfrank. Das könnte die Nato-Streitkräfte dazu zwingen, «Krankenhauszüge» einzusetzen, um die Verwundeten in Massen zu evakuieren:

«Die Herausforderung wird darin bestehen, im schlimmsten Fall schnell eine qualitativ hochwertige Versorgung für eine grosse Zahl von Verwundeten sicherzustellen.»

Sollfranks Warnung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem das deutsche Militär davon ausgeht, dass Russland bereits 2029 in der Lage sein werde, ein Nato-Land anzugreifen. Sollfrank leitet zurzeit noch das Gemeinsame Unterstützungs- und Befähigungskommando (JSEC) der Nato, das mit der Koordinierung der schnellen Verlegung von Truppen und Panzern durch Europa sowie mit logistischen Vorbereitungen wie der Lagerung von Munition an der Ostflanke der Nato beauftragt ist.

Sollfrank und das JSEC befassen sich mit einem grossen Landkrieg in Europa. Deshalb planen sie unter anderem medizinische Evakuierungen. Sollte es zu einem Konflikt mit Russland kommen, müssten verwundete Truppen laut Sollfrank über eine grössere Entfernung transportiert werden als in anderen Kriegen der letzten Jahre. Die russische Luftverteidigung und die russischen Jets würden medizinische Evakuierungsflüge einer viel grösseren Gefahr aussetzen, als dies in Afghanistan oder im Irak der Fall gewesen sei.

Deshalb müsse ein riesiges Netzwerk von Schienen- und Strassenevakuierungsfahrzeugen eingesetzt werden. Die Nato müsse die Nato-Streitkräfte mit speziell entwickelten Zügen unterstützen, die mehr Opfer gleichzeitig transportieren können als Flugzeuge. 

«Zunächst muss die Luftüberlegenheit erreicht werden. Doch es wird Zeit brauchen, um über die gesamte Länge und Tiefe der Front damit erfolgreich zu sein.»

Sollfrank weiter:

«Aus Planungsgründen müssen alle Optionen in Betracht gezogen werden, um eine grosse Zahl von Verwundeten zu medizinischen Einrichtungen zu bringen, darunter Züge, aber möglicherweise auch Busse.»

Unterschiedliche medizinische Vorschriften in den einzelnen Ländern seien eine weitere Hürde, die es zu überwinden gelte, so Sollfrank.

Deshalb denkt Sollfrank an ein «militärmedizinisches Schengen»: einen Raum für den freien Verkehr sensibler Medikamente wie Betäubungsmitteln oder starken Schmerzmitteln, die zur Behandlung verwundeter Truppen benötigt werden. Heute sei deren grenzüberschreitender Transport nicht reguliert. 

Die Planung medizinischer Evakuierungen sei nur ein Teil einer viel umfassenderen Initiative der Nato, ihre Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung gegen einen russischen Angriff zu stärken.

Daily Mail The Infographis Show
So stellte der «Daily Mirror» das Angriffs- und Verteidigungsszenario vor. Grössere Auflösung hier.

Kommentar


Ein unrealistisches Szenario im Interesse der Rüstungslobby 

Hohe Militärs spielen alle erdenklichen Kriegsszenarien durch – von der strategischen Verteidigung bis hin zu katastrophalen, unwahrscheinlichen Eskalationen. Erfreulicherweise denken sie dabei auch an das Schicksal von vielen verwundeten Soldaten!

Für verletzte Frauen, Kinder und ältere Menschen sind dann allerdings humanitäre Organisationen zuständig.

Noch musste kein einziger Nato-Soldat in der Ukraine an der Front kämpfen. Trotzdem ist Russland gezwungen, immense 40 Prozent seiner Staatsausgaben in Krieg und Aufrüstung zu investieren – allein um den Donbas und die Krim zu halten. Selbst für ein autoritär geführtes Land wie Russland ist dies längerfristig nicht tragbar.

Die Vorstellung, dass Russland einen konventionellen Angriff auf Westeuropa durchführen könnte, bleibt realitätsfern. Russland könnte Westeuropa mit Atomwaffen zerstören. Aber eine militärische Bedrohung mit Panzern, Flugzeugen, Raketen und Drohnen ist eine reine Chimäre. Denn die Nato ist selbst ohne weitere Aufrüstung militärisch Russland weit überlegen.

Der Vergleich mit dem Donbas und der Krim als Präzedenzfall ist komplett daneben.

Das fortlaufende Verbreiten solcher Bedrohungsszenarien – insbesondere durch Lobbygruppen der Rüstungsindustrie und ihnen nahestehenden «Think-Tanks» – dient nur dazu, Feindbilder aufzubauen und zu pflegen, die Stärke der Feinde masslos zu übertreiben und dafür zu sorgen, dass Medien und Politiker ihre Erzählung übernehmen und damit der Rüstungsindustrie zudienen.

Die Folge: Regierungen und Parlamente investieren Abermilliarden in Aufrüstung und Militär, während dringend notwendige Mittel für die Bekämpfung realer Bedrohungen – wie soziale Ungleichheit, Klimawandel oder den Schutz der Lebensgrundlagen – vernachlässigt werden. Die bewusste Angsterzeugung verschleiert, dass der Wohlstand und die Sicherheit der Menschen in Westeuropa viel nachhaltiger durch Investitionen in zivile Projekte und friedenssichernde Massnahmen gesichert werden könnten.

Urs P. Gasche

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Siehe auch Infosperber vom 25. April 2024:
Ein «Operationsplan Deutschland» als Vorbereitung auf einen Krieg.
Die gesamte Zivilgesellschaft soll mobilisiert werden, um nach Osten durchziehende US-Divisionen zu verpflegen und zu schützen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

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