Walter Dorn CBC

Militär- und Konfliktexperte Professor Walter Dorn im TV-Sender CBC © CBC

Ein konkreter Vorschlag für das Ende des Tötens und Zerstörens

upg. /  Was ein vorläufiger Friede zwischen Russland und der Ukraine beinhalten könnte, erklärt ein auf Konflikte spezialisierter Experte.

Professor Walter Dorn vom Royal Military College of Canada ist spezialisiert auf Rüstungskontrolle, Konfliktverhütung, Friedensdurchsetzung und Völkerrecht. In einem Gastbeitrag in der New York Times skizzierte er, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden könnte.

Dorn geht davon aus, dass keine der beiden Seite vor einem Sieg steht. Russland könne die Ukraine nicht erobern. Die Ukraine werde nicht in der Lage sein, die Kontrolle über das gesamte von Russland besetzte Gebiet wiederzuerlangen. 

Deshalb würden beide Seiten früher oder später einem Waffenstillstand zustimmen und ein Friedensabkommen schliessen müssen. 

Je früher ein Abkommen geschlossen werde, desto schneller würden die Gefahr einer Eskalation, das Töten, das Leiden und die Kriegskosten verringert. Und die Ukraine wäre besser in der Lage, ihre Demokratie zu verteidigen, sich zu bewaffnen und sich in Europa und dem Westen weiter zu integrieren.

Niemand kenne das Resultat von Friedensverhandlungen. Dorn hält jedoch selbst eine unvollkommene Lösung für besser als ein nicht enden wollender Krieg. 

Konzessionen der Ukraine

Die Ukraine sollte ihren rechtmässigen Anspruch auf ihr Land nicht aufgeben, sagt Dorn. «Doch um einen dauerhaften Waffenstillstand zu erreichen, muss die Ukraine anerkennen, dass Russland Teile von vier ukrainischen Regionen und der Krim kontrolliert. Diese besetzten Gebiete soll die Ukraine nicht mit Gewalt zurückerobern wollen.»

Ein solches Zugeständnis bezeichnet Dorn als «schwierig und schmerzhaft». Bleibe Russland nach einem Abkommen jedoch friedlich, könne die Ukraine auf eine bessere Gelegenheit warten, um ihr gesamtes Territorium zurückzuerhalten – ähnlich wie für Deutschland 1989 der Weg zur Wiedervereinigung frei wurde.

Bilaterale Verträge statt Nato-Beitritt

Die Ukraine müsse möglicherweise auch ihren Antrag zum Nato-Beitritt zurückstellen und sich verpflichten, der Nato frühestens in fünf bis zehn Jahren beizutreten.

Unterdessen könne die Ukraine mit einzelnen Nato-Mitgliedern bilaterale Verträge abschliessen, um Sicherheitsgarantien zu erhalten. Das habe sie mit Frankreich, Deutschland und Grossbritannien bereits getan. Allerdings dürften die Verbündeten der Ukraine keine Militärstützpunkte auf ukrainischem Boden errichten.


Entmilitarisierte Zone

Ein Friedensabkommen müsse verhindern, dass der Krieg wieder ausbreche: «Dazu könnten eine entmilitarisierte Zone und die gegenseitige Ankündigung von Übungen und Militärmanövern gehören.» Im Zeitalter der Satellitenüberwachung sei es heute viel einfacher, ständig zu überwachen und Transparenz herzustellen.

Künftige Übergriffe könnten zudem erschwert werden, wenn in der entmilitarisierten Zone eine Pufferstreitmacht der Uno stationiert würde, die sich aus Truppen von Nicht-Nato-Staaten zusammensetzt.

Als weiterer Punkt eines Abkommens sollten alle Kriegsgefangenen gegenseitig zurückgegeben werden. Ermittlungen und Gerichtsverfahren wegen Kriegsverbrechen würden fortgesetzt.

Rückkehr von Flüchtlingen und Wiederaufbau

Ein solcher vorläufiger Friede würde den Menschen in der Ukraine endlich Zeit geben, ihr Leben und ihr Land wieder aufzubauen. Millionen von Flüchtlingen könnten in ihre Heimat zurückkehren und das erschöpfte Land langsam wieder bevölkern.

Dorn schlägt vor, dass die USA ein Wiederaufbauprogramm nach dem Vorbild des Marshall-Plans finanzieren. Europa könnte beim Wiederaufbau die Führung übernehmen. Frieden und Wiederaufbau würden der Ukraine den Beitritt zur Europäischen Union erleichtern.

Den Russen eine Alternative zur Diktatur zeigen

Im skizzierten vorläufigen Friedensabkommen sieht Dorn weitere Vorteile: «Die Ukraine kann ihren Kampf gegen die Korruption fortsetzen, nachdem sie der dominierenden Rolle der ukrainischen Oligarchen bereits ein Ende setzte.» Nach Aufhebung des Kriegsrechts könnte das demokratische Leben wieder aufgenommen werden. «Ein erfolgreicher Wiederaufbau würde den Russen eine bessere Alternative zur Diktatur zeigen, unter der sie leiden. Das könnte der grösste Sieg der Ukraine und des Westens sein.»

Angebote an Russland

Russland werde die harte Lektion gelernt haben, dass ein Einmarsch in die Ukraine keine leichte Aufgabe ist und die Übernahme des Landes unmöglich erscheint, meint Dorn. Bis zu den Verhandlungen sollten die Verbündeten der Ukraine den stetigen Zustrom von Waffen aufrechterhalten und die diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung verstärken, um die Position des Landes am Verhandlungstisch zu stärken.

Um ein vorläufiges Friedensabkommen für Russland akzeptabler zu machen, könnten Erleichterungen der Sanktionen davon abhängig gemacht werden, ob Russland das Abkommen einhält. Die westlichen Länder könnten Mechanismen für die sofortige Wiederverhängung von Sanktionen einrichten – das so genannte «Snapback». 

Professor Dorn zeigt sich überzeugt, dass ein solches Abkommen für die Ukraine besser wäre als die Fortsetzung des Kriegs. Die Ukraine und Russland würden noch jahrzehntelang und jahrhundertelang Nachbarn sein. Deshalb sollten beide Länder gegenseitige Vereinbarungen treffen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten. 

«Wenn das derzeitige Morden noch jahrelang andauert, bevor eine Lösung gefunden wird, werden sich die Menschen fragen, warum zuerst so viele Menschen sterben mussten. Die beste Art, die im Krieg Gefallenen zu ehren, besteht darin, einen dauerhaften Frieden zu sichern, damit andere nicht das gleiche Opfer bringen müssen.»


Andreas Zumach: Mögliche Wege an den Verhandlungstisch

Am 28. September 2023 hatte der langjährige UNO-Korrespondent in Genf und Völkerrechts-Spezialist mögliche Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen dargelegt. Hier klicken.


«Verhandeln erst, wenn der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen hat»

Der «gewalttätige Imperialismus» und die «genozidalen Absichten» Putins würden «an der Grenze der Ukraine nicht haltmachen», schreibt die NZZ. Eine Replik. Hier klicken.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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5 Meinungen

  • am 19.06.2024 um 12:21 Uhr
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    Schöner und guter Vorschlag. Nur wird Russland so etwas niemals zustimmen. Russland will die strittigen Gebiete nicht «kontrollieren», Russland hat sie annektiert, obwohl sie nicht mal komplett erobert sind. Also läuft es darauf hinaus: Wenn die Ukraine diese Gebiete aufgeben will, dann kann sie im Westen wohl niemand daran hindern. Aber wenn sie nicht will, auch nicht dazu drängen oder zwingen. Ich fürchte, die bestmögliche Gebietslösung wird ein status quo sein. Und beide Seiten dürften noch danach trachten, ihn zu für sich zu verbessern.

    • am 20.06.2024 um 15:27 Uhr
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      Ich denke der Westen hat bereits seine beste Chance verpasst. In Russland weiß jedes Kind, dass sich der Westen nicht an Vereinbarungen hält – siehe Minsker Abkommen – Zeitgewinn zur Aufrüstung der Ukraine. Der einzige Weg für ein Kriegsende ist die Abtretung der 4 Regionen (über 30% waren in der Ukraine nicht Ukrainer sondern Russen!) – und Verzicht auf mindestens 500 km militärisches Nato-Gebiet zwischen Russland und einer NATO-Uraine-Zone.

  • am 19.06.2024 um 14:22 Uhr
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    Man sollte nicht vergessen, dass die EU mittlerweile ein Militärbündnis wie eine europäische NATO ist. Die Mitgliedschaft der Ukraine dürfte sich deshalb lediglich auf den nichtmilitärischen Bereich beschränken.

  • am 19.06.2024 um 15:08 Uhr
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    Zu Professor Dorns Ansichten stelle ich als Advocatus Diaboli die Frage: welche Interessen haben die Regierenden und Eliten der Ukraine an einem raschen Frieden? Sie sitzen fest im Sattel: Wahlen scheinen im Krieg nicht opportun, Selenskyj könnte nach Wahlen im politischen Nichts verschwinden. Die Oligarchen, aus den „besetzten Gebieten“, die im Westen unbedrängt in Wohlstand leben, haben kein Interesse, ihre Latifundien den Russen zu überlassen. Der Wiederaufbau durch die EU würde sie wieder in ihre alten Positionen hieven.
    Dass die Ukraine ihren Antrag zum Nato-Beitritt zurückstellen soll, wird manchen nicht ins Weltbild passen, bei der Waffenlobby in Europa und den USA nur mäßige Begeisterungstürme hervorrufen. Viele haben von einem „Haus Europa“ geträumt“, blauäugig, denn ein vereintes Europa steht im Gegensatz zum Anspruch «America first». Wir (in Europa) werden jahrhundertelang Nachbarn sein wenn wir es schaffen Streitigkeiten friedlich beizulegen. Wer aber will Frieden?

  • am 22.06.2024 um 09:08 Uhr
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    Was Herr Dorn vorschlägt, geht überraschend stark in die gleiche Richtung wie die Vorschläge welche Putin neulich gemacht hat. Ich denke daher, dass die Russen durchaus zu Verhandlungen zu bewegen währen. Für Verhandlungen braucht es aber halt mindestens zwei Parteien.

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