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Kindergarten in China: Der Staat fördert Betreuungsangebote für Kinder © Yuyan9686/Pixabay/cc

Ein Bruder für den «kleinen Kaiser»

Peter G. Achten /  Chinas Bevölkerung altert rapide. Das bedroht das Wirtschaftswachstum. Jetzt wünscht sich die Partei mehr Kinder.

Während fast drei Jahrzehnten galt in China die Ein-Kind-Politik. Ein ungebremstes Bevölkerungswachstum – so die Überlegung – würde die sozioökonomische Entwicklung des Landes schwer beeinträchtigen. Im Zuge der Wirtschaftsreform des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping führte die Regierung deshalb 1980 eine rigorose Geburtenkontrolle ein. Das Mindestalter für die Heirat wurde erhöht auf 20 Jahre für Frauen und 22 für Männer. Zudem war eine Heirats- und Geburtserlaubnis erforderlich.
Harte Sanktionen für unerlaubte Kinder
Im Jahr 1980 zählte China rund eine Milliarde Einwohnerinnen und Einwohner. Das staatlich festgesetzte demographische Ziel war eine Obergrenze von 1,2 Milliarden. Dieses Ziel wurde verfehlt. Heute leben im Reich der Mitte rund 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen. Doch die Geburtenrate ging mit der Ein-Kind-Politik zurück, und bis zu deren Abschaffung am 1. Januar 2016 kamen – je nach Schätzung – zwischen 300 und 400 Millionen Kinder weniger zur Welt.
Obwohl sozioökonomisch vernünftig, hatte die harte Durchsetzung der chinesischen Ein-Kind-Politik persönliche und volkswirtschaftliche Nachteile. Zwar gab es Ausnahmen, zumal auf dem Land und für die ethnischen Minderheiten, wo zwei oder gar mehrere Kinder erlaubt waren. In den Städten jedoch wurde die Ein-Kind-Politik mit aller Härte durchgesetzt. Ehepaare, die unerlaubt ein zweites Kind zur Welt brachten, wurden mit einer Busse, einer «sozialen Kompensationsgebühr» belegt. Der Druck von Nachbarschaftskomitees war gross. Die Behörden schreckten auch nicht vor Zwangsabtreibungen und Sterilisationen zurück.
Lieber ein «kleiner Kaiser» als eine Prinzessin
Eine weitere Folge der Ein-Kind-Politik: Nach 1980 wuchs eine ganze Generation von verwöhnten Einzelkindern heran – im Volksmund als Xiao Huangdi (kleine Kaiser) bezeichnet. Zudem hat die Ein-Kind-Politik zu einem Männerüberschuss geführt, weil chinesische Familien einen Sohn wollten. Nach konfuzianischer Tradition mit männlicher Erbfolge ist ein Sohn Garantie für die Fortführung des Familiennamens. Zwar verbot die Regierung die Bestimmung des Geschlechts mit Ultraschall, doch wie Politiker sind auch Ärzte für «kleine Gaben» empfänglich und umgehen das Verbot.
Hatte Mao Dsedong einst die Chinesinnen noch als die «Hälfte des Himmels» apostrophiert und dabei grenzenloses Bevölkerungswachstum propagiert, betrug der Frauenanteil in der Bevölkerung nach dem Census von 2011 gerade einmal 48,73 Prozent. Derzeit leben in China nach Angaben der amtlichen Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) 708 Millionen Männer und 675 Millionen Frauen. Nach einem Bericht des Parteiblattes Renmin Ribao (Volkstageszeitung) wird es in China im Jahr 2020 15 Millionen unverheiratete Männer geben und zur Jahrhundertmitte 30 Millionen. Aufgrund des Frauenmangels ist der Handel mit Frauen innerhalb Chinas aber auch über die Grenzen nach Vietnam, Laos oder Myanmar zum einträglichen Geschäft geworden.
Die von oben verordnete Geburtenkontrolle hat noch eine weitere Folge: Chinas Bevölkerung altert nun rapide. Bereits jetzt sind 13 Prozent der Chinesinnen und Chinesen im Rentenalter. Nach Prognosen der Regierung werden es zur Jahrhundertmitte rund 350 Millionen sein – also rund jeder vierte Einwohner. China wird also alt bevor es reich wird. In den Industriestaaten war es genau umgekehrt, wie wir AHV-Schweizer wissen. Deshalb ist in China die konfuzianische Pietät gegenüber den Älteren so wichtig, welche Kinder – neuerdings per Gesetz – verpflichtet, sich um die betagten Eltern zu kümmern.
Zwei Kinder – für viele schlicht zu teuer
Schon vor über zwanzig Jahren wurden die Vor- und Nachteile der Ein-Kind-Politik parteiintern diskutiert. Doch erst im Oktober 2015 beschloss das Zentralkomitee, die Ein-Kind-Politik zugunsten der von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften vorgeschlagenen Zwei-Kind-Politik aufzugeben.
Der Stellvertretende Leiter der Nationalen Gesundheits- und Familienplanungskommission, Wang Pei`an, lobte damals die Lösung mit folgenden Worten: «Die Zwei-Kind-Politik wird die Zahl der Arbeitenden erhöhen, die Überalterung eindämmen und die ökonomische und soziale Entwicklung unterstützen.» Doch Mitte 2016 trat angesichts erster statistischer Daten Ernüchterung ein. Viele Ehepaare, so hiess es, verzichteten aus finanziellen Gründen auf ein zweites Kind. Denn Kinder in China grosszuziehen ist teuer. In grossen und mittleren Städten Chinas sind bezahlbare Wohnungen für Familien mit zwei Kindern rar. Zudem sind Frauen heute häufig berufstätig, und manchenorts gibt es nicht genügend Plätze für die Kinderbetreuung.
Mutterschutz und Vaterschaftsurlaub
Professorin Zhang Zhenzhen von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften formulierte das Problem so: «Viele Frauen arbeiten in Branchen, die sich durch einen hohen Wettbewerb auszeichnen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sie sich für ein zweites Kind entscheiden.» Zhang warnte auch vor einem Mangel an Arbeitskräften: «Die vorhandenen Belegschaften werden immer älter. Die Industrienationen reagieren darauf mit einer lockereren Immigrationspolitik. Aber in China mit einer so riesigen Bevölkerungszahl wird kein Land der Welt das Loch füllen können, das durch die fehlenden Arbeitskräfte entsteht. Deshalb müssen wir nach eigenen Lösungen suchen.»
Peking sowie Provinz- und Lokalregierungen reagierten rasch. Finanzminister Xiao Jie versprach Steuervergünstigungen für Familien mit zwei Kindern in Form von Abzügen bei den Ausgaben für Erziehung, Ausbildung und Kinderbetreuung. Nach Massgabe der Zentralregierung soll «der Mutterschutz landesweit verbessert und der Vaterschaftsurlaub weiter verbreitet werden». So wurde Mutterschaftsurlaub auf 128 Tage verlängert, und Väter dürfen jetzt immerhin 15 Tage Vaterschaftsurlaub einziehen. Am weitesten gingen die Behörden der Südprovinz Guangdong. Sie gewähren Müttern 208 Tage Urlaub. Die Zahl der Kindertagesstätten wurde überall drastisch erhöht. Schliesslich wurden an einigen Orten wie zum Beispiel in der Stadt Yichang (Provinz Hubei) Angestellte des öffentlichen Dienstes via Website der lokalen Gesundheits- und Familienplanungskommission aufgefordert, ein zweites Kind zur Welt zu bringen.
Erste Erfolge der neuen Familienpolitik
Die Sofortmassnahmen zeigen Wirkung. Mitte Juli liess sich Wang Pei`an, Stellvertretender Leiter der Gesundheits- und Familienplanungskommission, in den Medien mit folgenden Worten zitieren: «Die jetzige Situation kann man mit zwei Sätzen zusammenfassen. Erstens hat die neue Politik beträchtliche Erfolge erzielt. Zweitens entspricht die bisherige Änderung und Entwicklung der Familienpolitik unseren Erwartungen.»
Aktuelle Zahlen belegen das. Im vergangenen Jahr, dem ersten der Zwei-Kind-Politik, wurden 18,46 Millionen Kinder geboren. Das entspricht einer Zunahme um 11,5 Prozent. Im ersten Halbjahr 2017 wurden 7,4 Millionen Babys geboren (+ 7,8 Prozent). Bei fast der Hälfte der Geburten war es das zweite Kind. Der Trend wird sich nach Ansicht von Professor Yuan Xin von der Nankai-Universität fortsetzen. 18 bis 20 Millionen Frauen, so Yuan, werden in den nächsten fünf bis acht Jahren ein zweites Kind zur Welt bringen.
Die Geburtenrate in China hat sich inzwischen wieder leicht erhöht auf 1,7 Kinder pro Frau. Für eine stabile Bevölkerungsentwicklung wäre jedoch eine Quote von 2,1 nötig. Treffen die Prognosen der Demographen ein, wird die Einwohnerzahl Chinas mit 1,45 Milliarden im Jahre 2030 den Höhepunkt erreichen und dann kontinuierlich sinken auf 1,4 Milliarden zur Jahrhundertmitte und auf eine Milliarde im Jahre 2100.
Die Global Times, herausgegeben vom Parteiblatt Renmin Ribao (Volkstageszeitung), kommentierte Ende 2015 die Einführung der Zwei-Kind-Politik mit lobenden Worten. Der Kommentar war in Anspielung auf die Ein-Kind-Generation der «kleinen Kaiser» mit der hoffnungsvollen Schlagzeile «Vom Kaiser zum Bruder» überschrieben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Chinas Innenpolitik

Hohe Wachstumszahlen; riesige Devisenreserven; sozialer Konfliktstoff; Umweltzerstörung; Herrschaft einer Partei

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