Dramatischer Countdown für die grosse Schlacht bei Idlib
Die Provinz Idlib machte erstmals Schlagzeilen im Juni 2011. Gerade hatten Dschihadisten des IS das Provinzstädtchen Jisr esh-Shoughur besetzt und zur Abschreckung vermeintlich Andersdenkender gleich alle 123 Polizisten der Ortschaft massakriert. Der Fluss Orontes, der durch das Städtchen fliesst, spülte in den folgenden Wochen immer wieder verstümmelte Körperteile der Massakrierten an die Ufer.
Idlib machte erneut Schlagzeilen, nachdem die syrischen Truppen im November 2016 die Wirtschaftsmetropole Aleppo eingenommen hatten. Die geschlagenen Oppositionellen erklärten sich nach einer Vermittlung von Moskau und Ankara bereit, sich mit ihren Familien in der Provinz Idlib niederzulassen. Noch zählte die Provinz rund 200’000 Einwohner. Dieses Szenario wiederholte sich haargenau auch nach den Niederlagen der sunnitischen Opposition in Ost-Ghouta, in Suwaida und in Deraa. Abertausende von traumatisierten Flüchtlingen drängten sich jedesmal in diese Provinz, die direkt an der Türkei grenzt. Das Flüchtlingshilfswerk der Uno schätzt die Bevölkerung Idlibs mittlerweile auf 2,5 Millionen Menschen.
Unausweichliche Grossoffensive
Am 10. August hat die syrische Luftwaffe Flugblätter über Idlib abgeworfen, in denen die Anwohner zur Kapitulation aufgerufen wurden. «Der Krieg geht zu Ende», hiess es darin. Die syrische Regierung kündigte gleichzeitig eine Amnestie für bewaffnete Gruppierungen an, die im Rahmen von Abkommen den «Rechtsstaat wieder respektieren». Im Klartext forderte Damaskus nichts weniger als die Entwaffnung aller Gruppierungen in Idlib.
Seit Wochen melden syrische wie internationale Presseorgane Vorbereitungen, die die syrische Armee angeblich für eine Grossoffensive auf Idlib treffe. Die offiziellen Flugblätter signalisierten aber erstmals auf unmissverständliche Art, dass Damaskus die Schlacht auf Idlib als unausweilich betrachte. Der Countdown läuft.
Idlib gilt als letzte Hochburg der sunnitischen Opposition in Syrien. Experten schätzen, dass in dieser kleinen Provinz im Nordwesten des Landes im Laufe der letzten Monate neben den rund 2,5 Millionen Binnenflüchtlingen auch rund 100‘000 bis 150‘000 bewaffnete Männer untergekommen seien. Davon hätten sich die meisten unter dem Dach der Kaida-nahen, extremistischen HTS (Heyet Tehrir al-Sham) versammelt. Für die syrischen Kriegsstrategen gilt, dass Baschar al Assad Idlib jetzt unter seine Kontrolle bringen und die dortigen bewaffneten Gruppierungen zerschlagen müsste, wenn er seine Macht konsolidieren wollte. Die Schlacht bei Idlib solle die Zukunft ganz Syriens bestimmen.
Türkische Träume
Diese Meinung vertritt auch Russland. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow verglich Idlib vor Kurzem mit einem «eiternden Geschwür», das es lieber heute als morgen auszumerzen gelte. Eine Zerschlagung der HTS-Milizen dürfte dabei ganz im Sinne ureigener Interessen Moskaus sein. Idlib liegt unweit des russischen Luftwaffen-Stützpunktes Hmeimin. Bewaffnete, unkontrollierte HTS-Milizen würden stetig eine latente Gefahr für die russische Militäreinrichtung bilden. Zudem stammt eine grosse Fraktion der HTS-Dschihadisten aus dem Gebiet des Kaukasus, die Jahrzehnte lang erbittert gegen die russische Armee gekämpft und das Leben in muslimischen Provinzen wie Tschetschenien und Dagestan unsicher gemacht hatte. Neben Russland unterstützt auch Iran die bevorstehende Offensive auf Idlib und den Machterhalt von Baschar al Assad.
Widerstand regt sich hingegen in Ankara. «Eine militärische Lösung in Idlib würde eine Katastrophe auslösen», warnte vor wenigen Tagen der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu seinen russischen Amtskollegen Sergei Lawrow in Moskau. Russland, Iran und die Türkei sind heute die wichtigsten Akteure im Kriegsschauplatz Syrien.
Die Türkei hatte sich gleich nach dem Ausbruch des Kriegs in Syrien 2011 offen auf die Seite der sunnitischen Milizen geschlagen. Bemüht um eine Führungsrolle in der sunnitischen Welt, liess der türkische Präsident Erdogan auch Dschihadisten in Syrien politisch wie logistisch unterstützen. Um bei der Gestaltung der Zukunft in Syrien mitreden zu können, liess Erdogan 2016 zudem seine Truppen in Nordsyrien einmarschieren und völkerrechtswidrig einen Streifen um das nordsyrische Azaz und Dscherablus besetzen. Danach marschierte die türkische Armee, abermals im krassen Widerspruch zum Völkerrecht, im Januar 2018 in die nordwestliche Provinz Afrin ein, die bis anhin hauptsächlich von Kurden bewohnt und kontrolliert war.
Heute kontrolliert die türkische Armee ein Gebiet in Syrien, das von Azaz und Dscherablus an der syrisch-türkischen Grenze über Al-Bab und Afrin bis Idlib reicht. In Absprache mit Moskau und Teheran hat die Türkei in Idlib zwölf militärische Beobachtungsposten errichtet. Von dieser enormen militärischen Präsenz in Syrien versprach sich Ankara vor allem bei der angekündigten Restrukturierung der bis auf seine Fundamente zerstörten syrischen Metropole Aleppo einen grossen Teil des Kuchens für die türkische Bauindustrie ergattern zu können.
Ankaras Sorgen
Die bevorstehende Schlacht bei Idlib macht Ankara aber plötzlich Angst. Jeder Angriff auf Idlib könnte eine neue Flüchtlingswelle in Richtung Türkei auslösen. Das Flüchtlingshilfswerk der Uno hat Ankara bereits ersucht, seine Grenze für syrische Flüchtlinge offen zu halten. Könnte aber die Türkei noch mehr Flüchtlinge verkraften? Beinahe drei Millionen Syrer haben in der Türkei Zuflucht gefunden. Davon sind rund 280’000 in Lagern untergebracht. Die übrigen vegetieren auf den Strassen der Türkei. Menschenrechtsorganisationen prangern die unhaltbaren Lebensbedingungen syrischer Flüchtlinge an. Der Anblick der Hilflosen heizt schon jetzt in türkischen Provinzen Reaktionen der Fremdenfeindlichkeit und des Hasses an. Könnte Ankara seine Tore für Dschihadisten öffnen und das politisch ohnehin labile Land zusätzlich gefährden?
Besorgt stellt die türkische Führung fest, dass die Prioritäten in Ankara und Moskau im Moment anders gewichtet werden. Letzten Januar hatte Russland die türkische Invasion und Besatzung von Afrin unterstützt. Danach wurden die türkisch-russischen Beziehungen soweit ausgebaut, dass selbst Erdogan von einer «strategischen Beziehung» sprach. Bei Idlib könnte sich das nun wieder ändern. Von einem wahren «Crashtest der russisch-türkischen Beziehungen bei Idlib» spricht der ehemalige türkische Aussenminister Yasar Yakis. Und der kurdische Guerilla-Führer Riza Altun sagt in einem Interview zum kurdischen Presseorgan «Civaka»: Die Türkei könnte in Idlib «ihre Milizen verraten und das Scheitern ihrer Syrien-Politik zugeben, oder sich hinter den Milizen stellen und gegen das syrische Regime, aber auch gegen Russland und Iran kämpfen».
Die Türkei versucht vorerst, einen Angriff auf Idlib abzuwenden. Eine Offensive auf Idlib würde nicht nur eine humanitäre Katastrophe auslösen, sondern «auch das Vertrauen zwischen Russland und der Türkei untergraben», warnte der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu, als er vor wenigen Tagen seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Moskau besuchte. Cavusoglu ersuchte in Moskau um Zeit, um in Idlib auszumachen, welche der Milizen «Extremisten» und welche «gemässigt» seien. Doch Lawrow wollte offenbar von dem nichts wissen. Idlib sei ein «rein türkisches Problem», soll er gesagt haben. Seither spricht die türkische Presse von einem «russischen Ultimatum». Demnach habe Lawrow seinem Besucher aus der Türkei Zeit «bis zum nächsten Treffen der Astana-Gruppe» eingeräumt, um eine «substantielle Lösung» für Idlib zu finden. Das Treffen der Astana-Gruppe findet am 7. September in Teheran statt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Sehr fundierte Analyse der Lage in Syrien..gut geschrieben.. Gratuliere