Kinder Gaza thenews2

Kinder im Al-Shifa-Spital nach einem israelischen Angriff auf ihre Häuser im Oktober 2023 © thenews2 / Depositphotos

«Die USA müssen einen Angriff Israels gegen Libanon verhindern»

Red. /  Falls Israel die Hisbollah zerschlagen will, kämen nach Gaza weitere Zehntausende Tote in Libanon dazu.

upg. Nur wenn die USA Israel unmissverständlich klar machen, dass sie einen israelischen Grossangriff gegen den Libanon weder militärisch noch finanziell unterstützen, sei ein Krieg zu vermeiden. Davon ist Nahostkenner Steven Simon überzeugt. Der Professor am Dartmouth College in New Hampshire und war Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats in den Regierungen Clinton und Obama. Im Folgenden dokumentieren wir eine Zusammenfassung seines Gastartikels in der «New York Times» mit dem Titel «Nur ein klares Nein der USA zu Israel wird den Krieg im Libanon beenden».


Ein Krieg zwischen Israel und Libanon ist nicht im Interesse der USA

Die rechtsgerichteten Mitglieder der Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu fordern eine grossangelegte «Operation» im Libanon nach dem Beispiel von Gaza. 

Ein grosser Krieg zwischen Israel und dem Libanon liegt nicht im Interesse der USA. Washington kann Israel garantieren, dass es Israel gegen direkte Angriffe Irans, dem Schutzherrn der Hisbollah, weiterhin verteidigen werde. Aber die USA müssen ebenso unmissverständlich klar machen, dass sie einen Krieg gegen Libanon nicht unterstützen würden: Keine Munition und keine Waffen an Israel dafür. Und dass sie den Tod von Zivilisten diplomatisch nicht decken würden.

Ein grosser Krieg an der Nordgrenze Israels wäre entsetzlich. Die Streitkräfte und Waffen der Hisbollah sind in das zivile Leben eingebettet, was viele als Strategie der menschlichen Schutzschilde betrachten. Deshalb könnten bei Angriffen Zehntausende von Libanesen getötet werden. 

Die von den israelischen Streitkräften eingesetzte künstliche Intelligenz, um mit freizügigen Einsatzregeln Ziele zu treffen, wird einen hohen zivilen Tribut fordern. Die Hisbollah baute wie die Hamas unterirdische Bunker und Tunnel, so dass in städtischen Gebieten mit einer zivilen Katastrophe zu rechnen ist.

Die libanesische Gesellschaft befindet sich schon jetzt am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Ein Krieg würde eine humanitäre Krise auslösen, für welche auch die USA mitverantwortlich gemacht würden. Es käme zu vermehrten Angriffen auf US-Interessen im Irak, in Syrien und anderswo. Die Houthi-Truppen im Jemen würden noch gewalttätiger. 

Israelische Pläne für einen Angriff

Theoretisch könnte Israel möglichst alle schätzungsweise 130’000 bis 150’000 Raketen und Flugkörper der Hisbollah sowie deren Abschussvorrichtungen, die über den gesamten Libanon verteilt sind, ins Visier nehmen. Doch Israel weiss, dass es sinnlos ist, die Waffen der Hisbollah zu zerstören, solange Nachschub aus dem Iran möglich ist. Deshalb wird Israel Teile des Libanon wahrscheinlich abriegeln. Damit würde es die Zivilisten von Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern abschneiden.

Im Jahr 2006, während Israels letztem Vorstoss gegen die Hisbollah im Libanon, hatten die USA Israel gedrängt, die libanesische Zivilbevölkerung und die Infrastruktur zu schonen und die Kampfhandlungen vorzeitig zu beenden. Israel betrachtete diese Zurückhaltung lange Zeit als Grund dafür, dass es dem Land nicht gelungen sei, die Hisbollah entscheidend zu schwächen. Nun, da Israel im Gazastreifen eine Politik der verbrannten Erde erprobt und die Unterstützung der USA erhalten hat, wird es seinen mutmasslichen Fehler von 2006 wahrscheinlich nicht wiederholen. Es werden die Regeln für Gaza gelten.

Die Bedingungen für einen Überraschungsangriff sind günstig. Eine grosse Streitmacht, die für einen ersten Angriff ausreicht und leicht verstärkt werden kann, befindet sich bereits am Absprungpunkt. 

Anhaltende Feuergefechte bieten die perfekte Deckung. Denn die Hisbollah kann nicht wissen, ob die jüngste Runde der Auftakt zu einer israelischen Offensive ist oder ob es sich um eine Fortsetzung der bisherigen beschränkten Feuergefechte handelt. 

Ausserdem gibt es im Norden Israels nur wenige Zivilisten, um die sich das israelische Militär Sorgen machen müsste. Etwa 60’000 Menschen wurden aus dem Gebiet bereits evakuiert, um dem Beschuss der Hisbollah zu entgehen, und weitere rund 90’000 aus dem Südlibanon.

Die israelische Luftwaffe könnte dank eines Überraschungsmoments und dank der Nähe der israelischen Luftwaffenstützpunkte dem Abschuss vieler Hisbollah-Raketen auf israelischen Boden zuvorkommen. Synchronisierte Bodenmanöver würden dabei helfen. Die Luftabwehr könnte sich um die kleine Gruppe kritischer israelischer Infrastruktureinrichtungen konzentrieren, um katastrophale Schäden abzuwenden. Viele Raketen würden allerdings trotzdem durchkommen und möglicherweise Hunderte von Israelis töten.

USA müssen solchen Plänen ein Ende setzen

Solchen Überlegungen sollte die Regierung Biden ein Ende setzen. Die israelischen Versprechungen, sie würden den Krieg zurückhaltend führen, wären wenig glaubwürdig, nachdem nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörden bisher fast 40’000 Menschen im Gazastreifen ums Leben gekommen sind. 

Wenn es der Regierung Biden nicht gelingt, Israel davon abzuhalten, einen Krieg gegen die Hisbollah zu führen, wird sie unter politischen Druck geraten, Israels Krieg zu unterstützen.

Ein Wettlauf mit der Zeit

Abgesehen von der laufenden, wenn auch vergeblichen Diplomatie, um die Hisbollah zur Kooperation zu bewegen und Israels Recht auf Selbstverteidigung anzuerkennen, ist ein Waffenstillstand im Gazastreifen der sicherste Weg, um die Spannungen im Norden abzubauen. Das würde die Hisbollah dazu veranlassen, keine Raketen mehr auf den jüdischen Staat abzufeuern. Das Risiko eines Krieges im Libanon würde schwinden. Dies ist nun ein Wettlauf mit der Zeit.

Man kann nur hoffen, dass Israel auf ein präventives «Nein» aus Washington seine Pläne für eine Grossoffensive im Libanon auf Eis legt. 

Auch für Israel gibt es Risiken. Sollte Israel beschliessen, sich jetzt mit der Regierung Biden anzulegen, und sollte Vizepräsidentin Kamala Harris die Wahl gewinnen, werden verärgerte Demokraten die Beziehungen zwischen den USA und Israel verkomplizieren.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Steven Simon ist Professor am Dartmouth College in New Hampshire und war Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats in den Regierungen Clinton und Obama. Er ist ein Senior Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Sein neustes Buch ist «Grand Delusion: The Rise and Fall of American Ambition in the Middle East».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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7 Meinungen

  • am 4.08.2024 um 12:24 Uhr
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    Wie lange noch und wohin soll diese barbarische Abschlachterei noch ausgeweitet werden?? Bald noch auf den Jemen, den Irak, Russland, die EU? Kennen unsere ach so «demokratischen», «kriegstüchtigen» Staatenlenker denn nur noch Gewalt und Eskalation? Nur noch den Weg in einen großen, alles direkt und indirekt (weil Energie, Kooperation und Ressourcen fehlen um die wahren Schwierigkeiten unserer Zivilisationen endlich ernsthaft anzugehen) vernichtenden Krieg?
    Nimmt Israel tatsächlich ein SelbstVERTEIDIGUNGSrecht wahr? Ich kann das nicht erkennen und auch diesen Satz nicht mehr hören und lesen.
    Israel hat seit seiner Staatsgründung gegen unzählige UN-Resolutionen verstoßen und agiert wie eine illegale, zynische und gewissenlose Kolonial- und Besatzungsmacht.
    Wer Gewalt sät, wird immer Gewalt ernten, solange diese Denkweise uns beherrscht.

    • am 5.08.2024 um 09:38 Uhr
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      Wenn Israel das von Ihnen infrage gestellte Selbstverteidigungsrecht in den letzten Jahrzehnten nicht wahrgenommen hätte, würde es schon längst nicht mehr existieren.

      • Favorit Daumen X
        am 5.08.2024 um 10:56 Uhr
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        Der Autor stellt das Selbstverteidigungsrecht Israels mit keinem Satz in Frage.
        Er sagt auch ausdrücklich, dass die USA garantieren sollen, Israel gegen einen allfälligen Angriff des Irans militärisch zu unterstützen und verteidigen.

      • am 5.08.2024 um 11:08 Uhr
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        @D. Heierli: was meinen Kommentar anbetrifft stelle ich nicht ein Selbstverteidigungsrecht Israels in Frage (weil ich das juristisch gar nicht beurteilen kann – obwohl es auch hierzu durchaus abweichende Meinungen gibt), sondern frage unter Bezug auf die Aussage im Beitrag (und habe auch persönlich ganz klar diesen Eindruck), ob nicht die Gewalt seitens Israels sehr weit über eine (berechtigte) SelbstVERTEIDIGUNG hinaus geht.

  • am 4.08.2024 um 14:57 Uhr
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    Acht Staaten haben sich selbst als «Atom-Macht» deklariert, 1 Staat versucht, unter dem Radar zu bleiben. Man geht – jedenfalls heute noch immer – davon aus, daß sich so eine Art stabiles Gleichgewicht des Schreckens gebildet hat, welches einen tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen verhindert. Das scheint zu funktionieren und man vermutet, daß ein Zusammenbruch dieses Gleichgewichts nur durch einen Unfall eintreten wird. Aber ist ein Unfall – also eine technische Fehlschaltung – so unwahrscheinlich ? Kann man schlecht vorhersagen – aber etwas ganz anderes ist keineswegs unwahrscheinlich, nämlich daß EIN Staat den Einsatz als seine letzte Möglichkeit ansieht, weil er sich in eine politische Sackgasse manöveriert hat – möglicherweise sogar in voller Absicht um eben eine Rechtfertigung für diese finale Lösung zu haben. Auf genau diese Situation steuern wir unaufhaltsam zu – falls nicht doch noch Besonnene ihm in den atomaren Arm fallen.

  • am 5.08.2024 um 00:14 Uhr
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    Ja, genau so ist es, Herr Langhammer. Israel strebt schon lange einen totalen Krieg mit dem Iran an, deshalb will es mit der Hezbollah beginnen. In seiner Ansprache im Senat der USA, betonte Nethanyahu letzte Woche, gleich zu Beginn, dass der grösste Feind Israels, des Nahen Ostens und der USA, der Iran sei. Da hat er doch bereits angekündigt, was Israels nächsten Ziele sind. Auch wenn die USA versuchen, Israel von einem Angriff auf die Hezbollah abzubringen, wird es nichts nützen. Es bleibt bei Worten und die Waffen zirkulieren weiter. Israel wird weiterhin den Libanon und den Iran provozieren.

  • am 5.08.2024 um 08:12 Uhr
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    Die Überlegungen im Artikel simplifizieren die Situation und zeigen Voreingenommenheit.
    1. Die Opferangaben der Gesundheitsbehörde der Hamas in Gaza (nicht der paläst. Behörde!) sind massiv überhöht und dienen der Propaganda. Die Hamas zählt auch Opfer unter ihren Kämpfern als Zivilistenopfer.
    2. Hizbollah/Libanon greift Israel seit dem Oktober 23 aus religiös motiviertem Hass (vgl. das mission statement der Hizbollah) an und nicht weil sie angegriffen wurden. Diese Angriffe werden von der Politik und den Medien (und auch in diesem Artikel sinngemäss) nicht verurteilt oder als illegitim bezeichnet. (Dies gilt im Übrigen auch für die Angriffe aus Iran, Yemen, Iraq.)
    3. Der Autor fordert einen Abzug der Israeli aus Gaza, um einen Krieg im Libanon zu vermeiden. Naiver geht nicht angesichts der Ziele der Hizbollah. Diese wird weitere Gründe für Angriffe wie in der Vergangenheit finden.
    4. Der Autor äussert sich nicht, wie die USA die Hizbollah in Schranken halten soll. Mit Kaugummi?

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