Getreidetransporte Istanbul

Getreide aus der Ukraine wird in Istanbul nicht nur kontrolliert, sondern häufig auch in der Türkei ausgeladen. © PvR

Die Ukraine exportiert mehr Weizen und Raps als vor dem Krieg

Josef Estermann /  Trotzdem gelangt wenig Getreide in Länder, in denen Fehlernährung und Hunger verbreitet sind. Grösste Abnehmerin ist die Türkei.

«Der Export von Agrarrohstoffen wie Weizen und Raps aus der Ukraine in die EU läuft auf Hochtouren. Das führt zu sinkenden Preisen. Die langfristige Entwicklung ist durch den Krieg jedoch unsicher.» Mit diesen Worten fasst die «Lebensmittel Zeitung», eine deutsche Wochenzeitung für Führungskräfte in der Lebensmittelbranche und im Handel, einen Beitrag in ihrer Ausgabe vom 25. November zusammen.

Dabei stand vor Kurzem die Frage im Vordergrund, ob und wie lange der von Russland und der Ukraine unter Vermittlung durch die Türkei ausgehandelte Deal für die Ausfuhr von Getreide über das Schwarze Meer halten wird (Black Sea Grain Initiative). Doch die auf den ersten Blick erstaunliche Schlagzeile der erwähnten Zeitung – «Ukraine liefert mehr als vor dem Krieg» – ist nicht nur diesem Deal und damit dem Seekorridor zu verdanken.

Exportboom trotz Krieg

Während die Ausfuhr von Agrarrohstoffen (insbesondere Weizen, Raps und Sonnenblumensaat) aus der Ukraine in den Monaten März und April wegen des Kriegs praktisch zum Erliegen kam, exportiert das Land seit dem Sommer sogar deutlich mehr als im Jahr zuvor. Dies hat inzwischen auch zu sinkenden Preisen an der Börse geführt. Der Weizenpreis hat sich zum Beispiel von 430 Euro pro Tonne im April auf etwa 320 Euro anfangs Dezember eingependelt. Dieser Preis liegt aber immer noch weit über dem Vorkriegsniveau.

Das statistische Amt der Europäischen Kommission weist bis zum 2. Dezember ein Exportvolumen von 12 Millionen Tonnen Getreide und anderer Lebensmittel aus der Ukraine im Rahmen der Black Sea Grain Initiative aus. Dabei geht rund eine Hälfte in so genannte Entwicklungsländer und die andere in Industrieländer, allen voran in die Türkei und in die EU. Beim Mais gelangen rund zwei Drittel, beim Weizen ein Drittel in Länder des globalen Südens, vor allem nach Ägypten und Somalia. 

Mögliche Erklärungen

Wie ist dieser Export-Boom der Ukraine zu erklären? Laut der «Lebensmittel Zeitung» ist dafür hauptsächlich das vor Kurzem um 120 Tage verlängerte Getreideabkommen mit Russland verantwortlich, das Exporte über einen Schutzkorridor durch das Schwarze Meer möglich macht. In viel geringerem Masse liegt es an den verstärkten Anstrengungen, Agrarrohstoffe per Bahn und Strasse auf dem Landweg und per Schiff über die Donau zu transportieren.

Zudem haben politische Weichenstellungen der EU diese Exporte erleichtert. Seit dem 4. Juni sind viele Agrar- und Antidumpingzölle auf Importe aus der Ukraine in Länder der EU für ein Jahr ausgesetzt. Dies bringt dem vom Krieg versehrten Land Devisen ein, die es dringend benötigt.

Ungewisse Entwicklung in der Zukunft

«Die Marktteilnehmer gehen von einer positiven Entwicklung aus, was sich in den Börsenpreisen für langfristige Kontrakte zeigt», sagt Jan Jänsch von der Baywa Agrarhandel GmbH. Allerdings warnt der Agrarhandelsexperte vor zu viel Optimismus, da die Aussichten für die Ernte im nächsten Jahr sehr unklar seien. «Zu den weiteren Kriegsrisiken kommt die unsichere Versorgung mit Dünger, Diesel und Pflanzenschutzmitteln.»

Auch die Industrie reagiert zunächst abwartend. Die Getreidepreise von Weizen und Mais sind noch immer vergleichsweise hoch, und die weltweiten Vorräte sinken bei gleichzeitig steigender Nachfrage. «Die Exportmengen auf dem Landweg und über die Donau sind vom derzeitigen Niveau nicht mehr steigerbar», sagt Baywa-Experte Jänsch. Dies habe mit der mangelhaften Verkehrsinfrastruktur in Europa zu tun.

Beim Raps und den Sonnenblumenprodukten entspanne sich die Situation auf dem Rohstoffmarkt zusehends. Die EU habe gerade mit rund 20 Millionen Tonnen eine Rekordernte bei Raps eingefahren, und beim Sonnenblumenöl habe die Ukraine seit Juli die Lieferungen in die EU um ein Drittel gesteigert. 

Keine Linderung des Hungers im südlichen Afrika

Die gestiegenen Exporte aus der Ukraine haben kaum Auswirkungen auf die drohenden Hungersnöte in verschiedenen Ländern Afrikas und im Jemen. Die Hauptdestinationen der ukrainischen Getreideexporte liegen nicht in den Hungergebieten Afrikas. Denn Hauptabnehmer von ukrainischem Weizen und Mais war und ist die Türkei. Von 36 Schiffsabfahrten aus ukrainischen Schwarzmeerhäfen, die bis Ende August registriert wurden, gingen allein 16 Schiffe an türkische Abnehmer. Weitere Zielländer für ukrainischen Mais waren Italien, Irland, der Iran, aber auch Südkorea und sogar Rumänien und Deutschland.

Weizen ging neben der Türkei noch nach Ägypten, Israel, Rumänien, Djibouti und in den Sudan. Insgesamt dockten die Schiffe in zwölf Ländern an, davon ausser dem Sudan in keinem Land südlich der Sahara. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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3 Meinungen

  • am 7.12.2022 um 11:13 Uhr
    Permalink

    Lesenswerter Artikel. Es ist ganz seltsam, dass sich seit März Medien ausschließlich auf den fehlenden Seeweg versteifen und daraus russengemachte Hungersnöte herbei fabulierten. Klarerweise können die gewaltigen Mengen ukr. Agrarprodukte nicht von heute auf morgen mit Schiene und LKW transportiert werden, aber die Ukraine hat ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz und gemeinsam mit den «Verbündeten», die ja sonst nicht mit Unterstützung geizen, wäre die Menge liegengebliebener Produkte sicher abzutransportieren gewesen. Warum hier nicht Logistik und Ausrüstung für den Massentransport bereitstellen? Richtig schlimm wird wohl eher nächstes Jahr, wenn eine Menge Nutzfläche wegen des Krieges unbestellt bleiben wird. Russland selbst steigert seit Jahren seine agrarindustrielle Leistungsfähigkeit und setzt zunehmend auch auf Qualität – wahrscheinlich wird es hier seine Exporterlöse wie schon bei den fossilen Rohstoffen verbessern.

  • am 7.12.2022 um 11:21 Uhr
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    Ich bin alt genug mich daran zu erinnern, wie Russland die Schuld gegeben wurde für ‹den Hunger in der Welt› und ‹Lebensmittel als Waffe› einzusetzen. Es stimmte dem ‹grain deal› zu. Während dieses ging seit Juli kaum etwas in die hungernden Länder, fast alles ging in entwickelte Länder. Ebenso wurden Russische gratis Lieferungen von Dünger an afrikanischen Länder in EU Häfen blockiert [Putin accuses EU of blocking Russian fertilizer – Al Arabiya 20. September 2022]- erst Ende November ging das erste Schiff aus einem Niederländischen Hafen nach Malawi [First shipment of Russian fertilizer heads for Africa, UN says – Reuters 29. November 2022]. Russland ist auch bereit, Getreide gratis an Afrikanische Länder zu senden [Türkiye, Russia agree to send grains to African countries for free – Daily Sabah 4. November 2022]

  • am 9.12.2022 um 08:10 Uhr
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    Danke für den Artikel.

    Stossend sind für mich bei der Thematik vor allem Dinge, die leider auch dieser Artikel zu wenig beleuchtet:
    Die meisten grossen Medienhäuser unterschlagen diese Details komplett. Es scheint bei allem darum zu gehen, den „bösen Russen“ dafür verantwortlich zu machen, Nahrungsmittel als Waffe einzusetzen, was schlicht gelogen ist.

    Einmal mehr und wie schon seit Jahren, geht es ausschliesslich um den Profit. Über 60% des Exports wurde von der EU abgenommen, 26% Asien. Nur 13% ging nach Afrika. Die ganze Exportgeschichte um Getreide aus der Ukraine scheint mir ein Spekulationsobjekt zu sein, gespickt mit etwas Doppelmoral passt das dann wunderbar ins die Narrative des „Wertewestens“.

    Lesenswert dazu:
    https://www.zlv.lu/db/1/1460692164005/0

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