Die Türkei erwägt Syrien-Invasion gegen Kurden
Kurz vor seiner Reise nach München hat der russische Aussenminister Lawrow die US-geführte Koalition vor einer Intervention türkischer Truppen in Syrien gewarnt. Er hoffe, die westliche Koalition könne die Türkei von ihren «verrückten Plänen» abbringen, sagte er. Seit Tagen wird die öffentliche Debatte in der Türkei von der Frage dominiert, ob «Erdogan eine Invasion in Syrien wagt».
Regierungsnahe Zeitung fordert Intervention in Syrien
Die regierungsnahe Presse der Türkei schlägt dabei gerne auf die Kriegstrommel: Die Türkei müsse ohne Zögern in Syrien intervenieren, forderte vor kurzem etwa die Tageszeitung «Yeni Safak». Wie ihr Chefredaktor Ibrahim Karagül in einem Leitartikel ausführte, «wenn Iran und Russland in dieses Land eindringen, unser Grenzgebiet bombardieren und für die Türkei neue syrische Flüchtlinge schaffen können, dann hat die Türkei gute Gründe für eine Invasion». «Yeni Safak» gilt als Sprachrohr der Regierung. Sie ist jedenfalls dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan loyal.
Erdogan sprach auch als erster von einer möglichen Intervention der türkischen Armee in Syrien: Er habe nicht vor, in Syrien den selben Fehler wie im Irak zu begehen, teilte er letztes Wochenende Journalisten in seiner gewohnt unverblümt offenen Art mit. Um keinerlei Zweifel an seinem Vorhaben zu lassen, führte er gleich aus, was er genau meinte: Hätte die Türkei 2003 den Einmarsch der US-Amerikaner in den Irak aus türkischem Territorium erlaubt, würde heute Ankara die Entwicklungen in diesem Land bestimmen.
Kurdisches Staatsgebilde
Das türkische Parlament hatte während einer stürmischen Sitzung 2003 völlig unerwartet den längst geplanten Irak-Einmarsch der USA aus der Türkei unterbunden. In den Monaten danach avancierten die nordirakischen Kurden zum strategischen Alliierten der USA im Irak und konnten mit Billigung des Westens nach und nach ihr faktisch unabhängiges Staatsgebilde aufbauen. Der kurdische Nordirak ist völkerrechtlich nach wie vor ein Teil des Iraks, verfügt aber mittlerweile über ein eigenes Parlament, eine eigene Armee, eine eigene Regierung und Justiz.
Ankara, das sich 2003 noch gegen eine solche Autonomie der nordirakischen Kurden wehrte, blieb ungehört. Eine ähnliche Entwicklung in Syrien werde die Türkei nicht hinnehmen, sagte Recep Tayyip Erdogan den verblüfften Journalisten letzten Sonntag weiter. Seither wird die öffentliche Debatte nicht nur in der Türkei von der Frage dominiert, ob Erdogan eine Intervention der türkischen Armee in Syrien wagt. «Wir sind ernsthaft besorgt über Meldungen, wonach die Türkei eine Invasion in Syrien plant oder gar angefangen hat unter dem Vorwand, Zeltlager für syrische Flüchtlinge auf syrischem Territorium aufzubauen», warnte der russische Aussenminister Sergej Lawrow. Er hoffe wohl, dass die von den USA geführte Koalition die Türkei davon abbringen könne, «ihre verrückten Pläne» umzusetzen, fügte er noch hinzu.
Dramatische Entwicklungen im Korridor Azaz-Jarablus
Ankara reagierte auf Moskau mit nicht weniger scharfen Worten. «Das syrische Regime und Russland betreiben absichtlich ethnische Säuberungen, so dass nur noch Regimeanhänger in Syrien übrig bleiben», sagte der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu. Tatsächlich bombardiert die russische Luftwaffe seit Beginn dieses Monates den östlichen, von den Rebellen gehaltenen Teil der syrischen Metropole Aleppo pausenlos.
Am 3. Februar konnten die syrischen Truppen und die Milizen des syrischen Präsidenten Al Assad in den Landesnorden die Hauptroute zwischen Aleppo und dem türkischen Grenzübergang Bab al-Salameh besetzen. Diese Route galt jahrelang buchstäblich als die Lebenslinie für die Rebellen, welche von der Türkei, von Saudi Arabien und von Katar unterstützt wurden. Ohne logistische Unterstützung aus der Türkei ist die Niederlage der Rebellen nur eine Frage der Zeit. Dramatische Szenen wickeln sich seit dem 3. Februar im türkisch-syrischen Grenzkorridor zwischen den syrischen Städtchen Azaz und Jerablus ab, wo Zehntausende neue Flüchtlinge um Einlass in die Türkei drängen.
Doch die Türkei hält bislang ihre Tore nur einen Spalt breit offen. Sie lässt lediglich verletzte Flüchtlinge rein und sucht die Verzweifelten ungeachtet aller Aufrufe der Uno und der Menschenrechtsorganisationen nur innerhalb des syrischen Territoriums mit Zelten und Nahrungsmitteln zu versorgen. Als wollte oder könnte die türkische Führung nicht von ihrem unerfüllten Wunsch ablassen, in diesem sogenannten Azaz–Jerablus–Korridor eine Pufferzone zu errichten.
Ankara forderte seit Jahren von seinen Alliierten, nach dem Beispiel für kurdische Flüchtlinge im Nordirak 1991 zwischen Azaz und Jerablus eine Pufferzone für sunnitische syrische Flüchtlinge aufzubauen. Davon versprach es sich erstens, dass dieser rund 90 Kilometer breite und 60 Kilometer tiefe Korridor, der von der türkischen Grenze bis zur zweitgrössten syrischen Stadt Aleppo reicht, den Einfluss der Türkei auf das künftige Geschehen in Syrien garantieren würde. Die Türkei versprach sich ferner davon, in diesem Korridor Turkmenen und Sunniten anzusiedeln, welche der Türkei traditionell nahe stehen.
Die türkische Forderung blieb allerdings unerfüllt. Die Errichtung einer Pufferzone käme einer Verletzung der Souveränität Syriens gleich. Um sie zu beschützen, müssten die westlichen Alliierten Bodentruppen nach Syrien schicken. Und dazu war bislang niemand bereit.
Kurden nehmen verlassene Dörfer ein
Durch die russischen Bombardements wird dieser für die Türkei strategisch so vitale Azaz-Jerablus-Korridor entvölkert. Und nun muss Ankara zusehen, wie Truppen der syrischen Kurden-Partei PYD in dieses Gebiet vorrücken und die verlassenen Dörfer einnehmen. Syrische Kurden lebten traditionell in der Provinz Jezira im äussersten Nordosten des Landes, rund um Kobane sowie in Afrin im Westen. Grössere kurdische Gemeinden gab es auch in Damaskus sowie in Aleppo.
Seit Beginn des Syrien-Kriegs haben sich die syrische Kurdenpartei PYD und ihre Volksverteidigungseinheiten (YPG) zum Ziel gesetzt, Jezira, Kobane und Afrin in einem einheitlichen Gebiet zu vereinigen. «Rojava» nennen sie dieses Gebiet. Sollte der Traum der syrischen Kurden wahr werden, wird entlang eines Grossteils der türkisch-syrischen Grenze, wie 2003 im Nordirak, ein autonomes Kurdengebiet entstehen.
Ende des Sykes-Picot-Abkommens?
Das ist ein Albtraum für die türkische Führung. Denn nördlich dieser Grenze leben die Kurden der Türkei, die wie ihre ethnischen Brüder im Nordirak und Syrien sich nach einer Autonomie, wenn nicht nach Unabhängigkeit sehnen. Es sei an der Zeit, das Sykes-Picot-Abkommen in den Abfallkorb zu werfen und im Nahen Osten neue Grenzen zu ziehen, erklärte Ende Januar der Präsident der nordirakischen Kurden Massud Barzani.
Die Erklärung Barzanis liess manche in der Region erschaudern. Der englische Diplomat Sykes und sein französischer Amtskollege Picot hatten vor genau 100 Jahren, um Einflusssphären ihrer jeweiligen Länder bemüht, die Grenzen in diesem Gebiet mittels ihres Abkommens bestimmt. Diese Grenzen machten die einheimischen Völker völlig willkürlich zu Bürgern unterschiedlicher Staaten. Kurden leben in der Türkei und in Iran, im Nordirak und in Syrien.
Die türkische Führung ist sich bewusst, dass der Krieg im Irak und nun in Syrien die Machtverhältnisse grundlegend verändert und die Grenzen unsicher gemacht hat. Sie ist sich auch bewusst, dass die Kurdenfrage im Nahen Osten erneut an Brisanz gewinnt. Sie fühlt sich, nicht ganz zu Unrecht, bedroht und greift auf das Mittel zurück, das sie gut kennt: Repression. Im Frühling 2015 hat die Regierung die Friedensgespräche mit der türkischen Kurdenpartei PKK eingestellt. Seit Beginn dieses Jahres wurden im Südosten des Landes Dutzende gewählte Bürgermeister ihres Amtes enthoben, weil sie sich für eine Autonomie der kurdischen Gebiete der Türkei aussprachen.
Aus demselben Grund wurden Ermittlungen gegen Abgeordnete der gemässigten kurdischen Partei eingeleitet und Dutzende andere kurdische Politiker festgenommen. Ihnen drohen jahrelange Haftstrafen. Seit letzten Dezember wütet zudem im Gebiet ein schmutziger Krieg, dem offenbar tausend junge Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Städte Cizre, Silopi und Sur, die die Altstadt der kurdischen Metropole Diyarbakir war, sind derart stark beschädigt, dass sie Geisterstädten ähneln. Kann man aber Träume mit Waffengewalt effektiv bekämpfen?
Streit mit den Alliierten
Ende Januar wiederholte der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu seinem amerikanischen Gesprächspartner, was die Türkei ihren Alliierten immer wieder monoton unterbreitet: nämlich, dass ein Vormarsch der syrischen Kurden westlich des Euphrats in den Azaz–Jerablus–Korridor für die Türkei eine absolut «rote Linie» sei. Die syrische Kurdenpartei PYD und ihre Volksverteidigungseinheiten erklärte er wie die PKK zu «Terroristen».
Für die USA sind die Kämpfer der PYD aber keine Terroristen. Washington betrachtet die PYD-Kämpfer als Verbündete im Kampf gegen die Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) in Syrien und unterstützen sie mit Waffen. Der Besuch des amerikanischen Sondergesandten Brett Mc Gurk Anfang dieses Monates in Kobane löste in Ankara tiefste Irritationen aus. «Wer ist hier der Partner der USA?», fragte Präsident Recep Tayyip Erdogan wutentbrannt. Er forderte die amerikanische Führung auf, eine Wahl zu treffen: «Wir oder die Terroristen von Kobane?». Die USA liessen sich nicht beirren: «Auch die besten Freunde sind sich nicht in allem einig», erwiderte ein Sprecher des US-Aussenministeriums. Das wurde in Ankara als laute Ohrfeige empfunden.
«Die Geduld der Türkei neigt sich zu Ende», erklärte Erdogan in Ankara, während in München die Friedensgespräche zu Syrien stattfanden. «Ohne Pufferzone kann die Syrien-Krise nicht bewältigt werden». Die türkische Presse ist sich einig, dass Präsident Erdogan bereit wäre, eine Intervention in Nordsyrien zu wagen. Jede Intervention der türkischen Armee in Syrien beinhaltet allerdings das Risiko einer Konfrontation mit Russland. Zwischen Russland und der Türkei herrscht seit dem 24. November 2015, als die Türkei ein russisches Militärflugzeug im türkischen Grenzgebiet abgeschossen hat, Eiszeit.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine