Women, Life, Freedom

Woman, Life, Freedom: Iranerinnen und Iraner demonstrieren in Teheran gegen die Repression des Regimes. © cc-by Markus Schreiber

«Die Toleranz des Westens behinderte die Proteste im Iran»

Philippe Stalder /  Für das Atomabkommen liess Obama das iranische Regime gewähren – mit schweren Folgen. Zeit für einen Kurswechsel?

Sassan Amjadi, kurdischer Iraner, flüchtete vor 15 Jahren aus politischen Gründen in die Schweiz, wo er sich an der Uni Luzern auf Weltpolitik spezialisierte. Auf X, ehemals Twitter, kommentiert Amjadi die politischen Entwicklungen in seinem Heimatland aus einer regimekritischen Perspektive. Im Interview mit Infosperber spricht er über die Bedeutung der Wahl Trumps für den Mittleren Osten.

«Trump dürfte viel mehr wirtschaftlichen Druck auf den Iran ausüben, als dies unter der Biden-Regierung der Fall war.» – Sassan Amjadi. Foto: zVg

Welcher Gedanke ging Ihnen als Erstes durch den Kopf, als Trump wiedergewählt wurde?

Obwohl ich kein Fan von Trumps Person bin, war ich ehrlich gesagt etwas erleichtert – zumindest in Bezug auf die Konsequenzen seiner Politik auf das Kräfteverhältnis im Mittleren Osten.

Können Sie das ausführen?

Unter Obama priorisierten die Demokraten das Atomabkommen, das die nuklearen Kapazitäten des Irans beschränken und den Bau einer Bombe verhindern sollte. Im Gegenzug hob der Westen die wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Iran auf, was einen Wendepunkt für das iranische Regime darstellte. Plötzlich standen ihm genügend Mittel zu Verfügung, um seine zahlreichen Stellvertreter-Milizen in der Region militärisch aufzurüsten, etwa die Hisbollah im Libanon, die Kata’ib im Irak, die Houthis im Jemen, die Hamas im Gazastreifen oder die schiitischen Milizen in Syrien. So betrachtet hatten die Demokraten das iranische Regime indirekt unterstützt. Dies führte beim Regime zur Illusion, dass die internationale Gemeinschaft seine militärische Präsenz in der Region akzeptieren würde. 

Wie reagierte Israel darauf?

Israel kam zum Schluss, dass es eine neue Doktrin im Kampf gegen die iranischen Stellvertreter-Milizen entwickeln müsse. In dieser Zeit infiltrierten israelische Agenten das iranische Regime und seine Verbündeten. So entwendeten israelische Agenten im Januar 2018 ein 55’000 Seiten langes Dokument über die nuklearen Aktivitäten des Irans. Netanyahu behauptete, das Dokument belege, dass sich der Iran nicht an das Abkommen halten würde. Es war einer der Hauptgründe, weshalb Trump im Mai 2018 unilateral aus dem Atomabkommen ausgestiegen ist. Das Atomabkommen stellt für mich also auch den Beginn der erneuten Spannungen zwischen dem Iran und Israel dar. 

Inwiefern unterscheidet sich Trumps Ansatz von der Strategie der Demokraten?

Anders als die Demokraten scheint Trump das Atomabkommen nicht getrennt von Irans Aufrüstung seiner Stellvertreter zu betrachten. Trump wird als späte Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober noch strengere Sanktionen gegen den Iran einführen, was die Fähigkeit des Regimes, seine Truppen aufzurüsten, stark einschränken dürfte.

Wieso hat der Iran überhaupt Interesse daran, seine Stellvertreter an der Grenze Israels aufzurüsten?

Die ideologisch geprägte anti-imperialistische Feindseligkeit gegenüber den USA und ihrem Hauptverbündeten im Mittleren Osten, Israel, geht auf die islamische Revolution von 1979 zurück. Damals stürzten verschiedene iranische Gruppierungen den Schah, welcher vom Westen installiert und unterstützt wurde. Zudem betrachtet der Iran Israel als illegitimen westlichen Staat im Mittleren Osten und hat sich von Anfang an als Unterstützer der Palästinenser im Kampf gegen Israel positioniert. Zu diesen äusseren Faktoren kommen innere hinzu, etwa dass totalitäre Herrscher meistens einen äusseren Feind brauchen, um ihr totalitäres Regime zu legitimieren.

Hätte die Hamas das Massaker vom 7. Oktober ohne die Unterstützung des Irans durchführen können?

Das ist eine hypothetische Frage, aber ich denke nicht, nein. Ohne die passive Politik des Westens hätte das iranische Regime seit 2015 seine Stellvertreter-Milizen niemals so umfangreich aufbauen können. Insbesondere auch im Syrienkrieg, wo schiitischen Milizen eine zentrale Rolle dabei spielten, Assad an der Macht zu halten.

Unterschätzte der Westen die Gefahr, die vom iranischen Regime ausgeht?

Ich denke schon, ja. Man setzte Hoffnung in den damaligen Präsidenten Rohani, der als moderater Reformist galt, ohne die Logik und den Totalitarismus des gesamten iranischen Machtapparats zu verstehen. Ausserdem hatte die EU Angst vor einer Flüchtlingswelle aus dem Iran, die durch stärkere Sanktionen hätte ausgelöst werden können. Am Ende war es wohl eine Mischung aus Naivität und populistischen Ideen, die dazu führte, dass der Westen den Iran an der langen Leine liess. Der Krieg in der Ukraine, indem das iranische Regime Russland militärisch unterstützt, hat die Politik der EU gegenüber dem Iran jedoch grundlegend verändert. Die Toleranz der EU gegenüber dem iranischen Regime hat abgenommen.

Und Sie denken, Trump wird diesen Trend noch verstärken?

Ich denke, Trump dürfte viel mehr wirtschaftlichen Druck auf den Iran ausüben, als dies unter der Biden-Regierung der Fall war. Durch neue Sanktionen würde das Regime geschwächt, der innenpolitische Druck wieder wachsen und mehr Leute würden die Legitimität des Regimes öffentlich in Frage stellen. Insofern sehe ich in Trump eine Chance für die iranische Bevölkerung, sich abermals gegen das Regime aufzulehnen.

Trump als Erlöser des unterdrückten iranischen Volkes?

Es mag etwas paradox klingen, aber ich sehe Trump tatsächlich als möglichen Faktor, der dazu führen kann, dass das iranische Volk wieder auf die Strasse geht. Die Toleranz des Westens gegenüber dem iranischen Regime führte dazu, dass die iranische Bevölkerung nur geringe Chancen für einen grundlegenden Wandel sieht. Umgekehrt wächst nun die Hoffnung auf einen erneuten Aufstand gegen das Regime, wenn der internationale Druck auf die Regierung steigt.

Die Islamische Republik hat eine marode Wirtschaft und ein korruptes, krisengeschütteltes Verwaltungssystem. Trotz eines scheinbar geschlossenen und starken Erscheinungsbildes des Regimes könnten Risse an einer unerwarteten Stelle beginnen. Aber auch ein Angriff Israels auf iranische Atominfrastruktur könnte die Stimmung im Volk zum Kippen bringen – oder der Tod Khameneis, des alten und kranken Ayatollahs.

Wie gross ist die Gefahr, dass eine militärische Konfrontation zwischen Israel und dem Iran die Region in einen flächendeckenden Krieg stürzt? 

Ich erwarte, dass die Situation in den kommenden Monaten eskalieren wird. Im Gegensatz zu den üblichen Reaktionen anderer Staaten auf terroristische Bedrohungen wird Israel diesen Krieg so führen, als ob nur eine Seite überleben könnte: Israel oder seine Feinde. Daher dürfte sich Israel weiterhin nicht an internationale Normen oder moralische Werte halten. Ich vermute, dass Israel so weit gehen wird, dass der gesamte Mittlere Osten in diesen Konflikt stürzt.

Aktuell scheinen jedoch weder die USA noch Israel die Bereitschaft für einen umfassenden militärischen Krieg gegen den Iran zu haben. Israel setzte bisher auf gezielte Schläge gegen einzelne Generäle sowie andere Geheimdienstoperationen. Ein israelischer Mordanschlag auf iranische Machthaber, wie die Generäle der Revolutionsgarde oder sogar auf Khamenei selbst, wäre ebenfalls vorstellbar. 

Welche Folgen hätte denn Khameneis Tod innenpolitisch? Gibt es eine Nachfolgeregelung?

Ausser Khameneis Sohn Mojtaba gibt es eigentlich keinen anderen Kandidaten mit realistischen Chancen. Das Problem ist aber, dass das Regime selbst gespalten ist. Es gibt viele Splittergruppen innerhalb der politischen Elite. Nicht alle wollen, dass Mojtaba die Nachfolge antritt. Der Tod Khameneis könnte also auch einen Nachfolgestreit innerhalb des Regimes auslösen. 

Wie realistisch ist es, dass eine neue Generation diesen Machtkampf gewinnt, die zum Beispiel die Kopftuch-Pflicht für Frauen in der Öffentlichkeit aufheben würde?

Leider ist die Opposition im Iran relativ schlecht organisiert. Das ist auch der Grund, weshalb die drei letzten Protestwellen, zuletzt unter den Schlagwörtern «Frauen, Leben, Freiheit», nicht erfolgreich waren. Auch die Opposition ist untereinander zerstritten und sie vermochte den Protest von der Strasse nicht geeint in die politische Arena zu führen. Ohne die Unterstützung durch eine starke politische Opposition könnten diese Proteste zu verstärkter Repression und erhöhtem Druck auf die Demonstrierenden führen, was ihre Enttäuschung und Frustration verstärken würde.

Aber die Bilder dieser Proteste gingen doch um die Welt, hat das denn gar nichts gebracht?

Das Regime reagiert auf internationale Schwäche immer mit nationaler Stärke. Wenn der Iran international in einem schwachen Licht dasteht, erhöht das Regime den Druck, um zu signalisieren: Wir sind noch immer stark. Das konnte man auch im Nachgang der Proteste beobachten, wo zahlreiche Frauen inhaftiert oder zum Tode verurteilt wurden. Die Proteste haben vielleicht die internationale feministische Bewegung gestärkt, aber den Frauen im Iran haben sie leider nur wenig geholfen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Sassan Amjadi vertritt eine kritische Position gegenüber dem iranischen Regime.
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2 Meinungen

  • am 10.12.2024 um 18:38 Uhr
    Permalink

    Wikipedia: «Die vermittelnde Lage Irans zwischen Zentralasien, Kleinasien, Arabien und dem indischen Subkontinent hat zu einer hohen ethnischen Vielfalt geführt.» Möglich, dass die politische bestimmende Klasse des Westens die Meinung vertritt: nur die Mullahs können das Pulverfass mit harter Hand regieren und müssen die ganze Kraft für die Unterdrückung des Vielvölkerstaates aufwenden, und so ist der Iran unter Kontrolle. Wenn es zu einem iranischen Bürgerkrieg kommt, wird der auf ganz Zentralasien übergreifen, der eine globale Katastrophe verursachen könnte. Darum wohl: «Die Toleranz des Westens behinderte die Proteste im Iran»
    Gunther Kropp, Basel

  • am 11.12.2024 um 08:18 Uhr
    Permalink

    Der Interviewpartner Amjadi ist wahrlich kein iranischer Patriot. Wem schaden weitere Sanktionen (der Iran ist neben Nordkorea und Kuba das am stärksten durch Embargos belastete Land der Welt)? Sie schaden nicht den Machthabern, sondern dem Volk. Sie erzeugen Not und Hunger. Sie behindern die medizinische Versorgung. Ein Exilant, der schärfere Sanktionen gegen sein eigenes Land fordert, dient fremden Herren. Schlimmstenfalls brechen Unruhen und Bürgerkriege aus. Amjadi blendet auch aus, dass bei israelischen Angriffen – seien sie nun berechtigt oder nicht – keine Rücksicht auf Zivilisten genommen wird. Dem Massaker der Hamas mit ca. 1400 Toten stehen 60.000 tote Palästinenser gegenüber – wünscht sich Herr Amjadi dieses Schicksal für seine daheimgebliebenen Iraner, die schon genug unter einer religiösen Diktatur zu leiden haben? Wer ihr Schicksal erleichtern will, muss die Zusammenarbeit suchen – genauso wie es Brandt mit der DDR tat. Mit Embargos und Waffen löst man keine Konflikte.

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