«Die Taliban in meinem Schlafzimmer»
«Wenn die Taliban in deinem Schlafzimmer ein Foto von dir finden, auf dem du aussiehst wie der Posterboy für die Marines, komplett mit US-Flagge und Gewehr, solltest du die Fassung bewahren», erzählt NYT-Korrespondent Thomas Gibbons-Neff nach seiner kürzlichen Rückkehr in das NYT-Büro in Kabul. Das Foto sei kurz vor dem grössten Einsatz im US-Krieg in Afghanistan entstanden, als die Aufständischen noch Phantome waren. «Aber jetzt stehen sie neben deinem Bett, ein Jahrzehnt und einen verlorenen Krieg später.»
Die Taliban sind nicht hier zum Töten. Sie wollen sicherstellen, dass aus dem ehemaligen Kabul-Büro der «New York Times» nichts gestohlen wurde; dass alles noch so ist, wie es die Korrespondenten bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Land verliessen, als die afghanische Regierung kollabierte.
Der Kabul-Korrespondent in der NYT: «Selbst die neue Xbox 1 ist noch da, die ich Ende Juli am Flughafen in Dubai kaufte, rund zwei Wochen, bevor Kabul fiel. Die Schmutzwäsche liegt unberührt im Wäschekorb. Über allem eine dünne Staubschicht.»
Jetzt würden vor allem die schwarzen, amerikanischen Gewehre an die langjährige US-Präsenz im Land erinnern, sichtbar an den Checkpoints, im Vergnügungspark oder hinten auf Motorräder geschnallt. Auffällig sei die Absenz von Helikoptern, welche die US-Botschaft anfliegen, weil es die Botschaft und das «NATO Resolute Support Hauptquartier» nicht mehr gebe: «Die ganze grüne Zone darum herum gehört den Taliban.»
Die grüne oder internationale Zone bestand aus betonierten Schutzwällen rund um ein einst wohlhabendes, baumbestandenes Quartier, das in eine Festung verwandelt war. Heute ist diese Infrastruktur das Skelett eines 20-jährigen Krieges, der von Diplomaten und Soldaten verloren wurde: «Ein Denkmal des Scheiterns.»
Dort befand sich auch das Büro der «New York Times» und anderer Nachrichtenagenturen. «Ich komme zurück, um weiter über Afghanistan zu schreiben.» Die Taliban untersuchen die Gebäude, suchen nach Spionen und Waffen, nach allem, was ihnen schaden könnte. Denn geschadet hätten ihnen die Menschen in der grünen Zone. Von hier aus orchestrierten sie, hinter Schutzwällen in Sicherheit, den Krieg. Ein mit Kameras ausgerüstetes Luftschiff habe alles in der Stadt mit Infrarot und in Farbe beobachtet. Im Hauptquartier des «Nato Resolute Support» hätten US-Offiziere Luftangriffe angeordnet, die sowohl Taliban wie Zivilisten töteten.
Kein Wunder würden die Taliban jede Ecke absuchen und unter jeden Schreibtisch schauen. «Gibt es hier militärische Waffen?», fragt einer. Ein anderer deutet auf Körperpanzer auf einem Schrank. «Das gehört dem Militär oder nicht?», fragt er in fast perfektem Englisch. «Warum brauchen Sie das?» Seine Frage ist befremdend, wie wenn die Gewalt der Aufständischen, die Gewalt der vom Westen gestützten afghanische Regierung, der NATO und der USA in einem parallelen Universum stattgefunden hätten.
Der Korrespondent und seine Begleiter antworten den Taliban stets höflich, denn die neuen Büro-Vermieter tragen ziemlich viele Waffen. An der Wand hängt ausgerechnet noch eine Karte von Kunduz, die zeigt, wo einst die Frontlinien der Taliban verliefen und wo sich die demoralisierten und ausgelaugten afghanischen Sicherheitskräfte während ein paar Wochen aufhielten, bevor sie sich vollends auflösten und die Stadt verloren war.
Heute fahren die Taliban in Kabul in zurückgelassenen afghanischen Militärlastern, Humvees und gepanzerten Fahrzeugen herum. «Gratis-Autos», habe ihm einer aus einem gepanzerten SUV geschrieben, der wohl einem Contractor gehört hatte oder aus einem verlassenen Militär-Fuhrpark stammt. Dann schickte er ein Bild seines Gewehrs mit einem Kreis um die Inschrift: «Besitz der US-Regierung. M4 Karabiner. Kaliber 5.56 MM W0207610.»
Thomas Gibbons-Neff stellt in der «New York Times» illusionslos fest: «So sieht ein verlorener Krieg aus. Und die Taliban stehen immer noch in meinem Schlafzimmer.»
Einer der Taliban sei etwa so alt wie der Korrespondent auf dem Foto, auf dem dieser neben einer riesigen, brandneuen US-Flagge steht mit seinem Gewehr und einem breiten Grinsen im Gesicht: «Damals dachte ich, wir würden den Krieg gewinnen oder die Leute töten, die jetzt meinen Schrank durchsuchen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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