Die schockierende Wirklichkeit der Bilder
Es gab diesen magischen Moment im «Club» des Schweizer Fernsehens, nach etwa einer Stunde, als Gregor Sonderegger, stellvertretender Nachrichtenchef von SRF die Rolle des scheinbar abgebrühten, sachlich kühlen Kadermitarbeiters ablegte und seine ganz persönliche Erinnerung offenbarte. Die Erinnerung an Nordossetien, 2004, wo er für SRF über die Geiselnahme von Beslan berichtete. Es war live, 1200 Kinder und Erwachsene waren in der Gewalt kaukasischer Terroristen, und bei der Befreiung durch russische Polizei, Armee und Spezialeinheiten kamen über 300 Geiseln um.
Der Augenblick der Betroffenheit
«Im Augenblick der Berichterstattung, in der bürgerkriegsähnlichen Situation», in der «wild umher geschossen wird», so Sonderegger, «hat man keinen anderen Gedanken. Aber danach hat es mir sehr zu schaffen gemacht», auch wenn er als Journalist seine «Rolle wahrnehmen musste. Ich bin ausgebildeter Sanitäter.» Die Frage, ob er nicht mehr hätte helfen können, helfen müssen, «hat mir doch eine Zeit lang zu beissen gegeben». Und wer den «Club» gesehen hat, darf annehmen, dass diese Zeit wohl nie ganz vorbei sein wird.
Wie wohl auch bei Dominic Nahr, dem Kriegsfotografen, der für seine Bilder zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. Unter anderem 2013 den World Press Photo Award und mehrere andere Preise. Nahr macht Bilder von ungeheurer Eindringlichkeit. Ungeheuer in ihrer existentiellen Gewalt, wenn der tote sudanesische Soldat im gleichen Erdöl liegt, um das der ganze Krieg sich dreht. Und eindringlich in der Schicksalhaftigkeit des Menschenbildes. «Meine Position ist immer die ‚Sensitivity’, sagt der in Hongkong geborene Schweizer Fotograf Dominic Nahr. «Ich würde nie von oben ein Foto schiessen», sagt er, «nie ohne Respekt. Du stehst dort als Mensch, ganz ungeschützt (englisch: raw)», sagt er in seinem Gemisch aus Schweizerdeutsch und Englisch. «Meine Person einfach als Mensch, keine politische Position – wenn ich das verliere, würde ich sofort aufhören.» Und so zeigt er uns immer weiter und weiter Ausschnitte aus der Wirklichkeit, die uns betroffen machen müsste.
Der Auslöser
Karin Frei, die Moderatorin, hat im «Club» das Bild gezeigt und andere Bilder mehr. Es war eine engagierte, bei allen gegensätzlichen Meinungen respektvolle – ich würde sogar sagen: würdige – Diskussion, im Angesicht der Kriege, die da vor unserer Haustür stattfinden, in der Ukraine und in Gaza, Syrien, Libyen… – ein paar Flugstunden entfernt. Die «Club»-Teilnehmer waren alles professionelle Medienschaffende.
Ausgelöst hatte die Diskussion Christof Moser – Freund und Kollege bei Infosperber – mit dem getwitterten Bild (am 17. Juli) vom Flugzeugabsturz der malaysischen Maschine über der Ostukraine. Genau genommen war es ein «screenshot», ein Bild aus einem Fernsehbericht. Zu sehen sind: Flugzeugtrümmer, daneben liegen, nahe bei einander, zwei Opfer des Absturzes, nah genug, um sie als solche zu erkennen, und fern genug, um die Würde zu wahren. Einzelheiten und schon gar Gesichter sind für die Betrachter nicht zu sehen.
Eigene Erinnerungsbilder: der grosse Krieg
Irgendwann zwischen 1986 und 1988, beim sogenannten Ersten Golfkrieg, hatte ich als Produzent der «Tagesschau» dieselben Entscheidungen zu treffen. Es war der grosse Krieg zwischen Irak und Iran, der acht Jahre dauerte und zwischen 300’000 und 500’000 Todesopfer forderte. Es kamen die Grossaufnahmen der verwundeten und verstümmelten Soldaten und die Totalen von den Schlachtfeldern.
Wir haben nie die Einzelheiten gezeigt. Aber doch die weiten Felder zwischen den grossen Flüssen, die übersät waren von den Leichen gefallener Soldaten. Die Menschen hier sollten wissen, was dort im fernen Nahen Osten geschah.
Es sind die immer gleichen Bilder aus den immer gleichen Regionen, die uns vor die immer gleichen Entscheidungen stellen.
Die heile Postkartenwelt
Christof Moser, der diese gleiche Entscheidung zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine getroffen hat, erzählte «Club», wie er den Tag des Flugzeugabschusses – « es war ein Abschuss, kein Absturz!» – am See erlebte, an einem strahlenden Tag, in der paradiesischen Postkartenschweiz. Und wie er dann das Bild aus einer ihm vertrauten und deshalb glaubwürdigen Quelle mit seinem Tweet weiter in die Welt hinaus schickte, auf dem Weg über seine «Follower». Weil er die Aufmerksamkeit der Menschen in seinem Netzwerk auf diese Tat richten wollte, informieren, vielleicht sogar aufrütteln.
Und Corine Turrini Flury, auch Journalistin und fleissige Twitter-Nutzerin, äusserte im «Club» noch einmal ihre Entrüstung, weil ja doch zu diesem Zeitpunkt alles noch Spekulation war – darauf darf man als Journalistin hinweisen –, weil sie « als Mensch» geschockt war über das, was da «ohne Vorwarnung» auf sie zukam, und möglicherweise wohl auch «auf Angehörige» (wenn auch wohl nicht auf dem Weg über den Tweet von Christof Moser).
Und Gregor Sonderegger brachte – zu Anfang der Sendung noch ganz und gar der strenge, sachliche Fernsehmann –, die Massstäbe des nationalen Gebührenfernsehens ins Spiel. Die Relevanz: Es galt ja noch herauszufinden, was die Ursache des Absturzes war. Der Persönlichkeitsschutz: Die Würde der Opfer und der Angehörigen muss geschützt werden. Und es galt schliesslich, die Wirkung für das unvorbereitete Familienpublikum abends um halb acht zu bedenken.
In der Medienblase
Und so bewegten wir uns alle – die Diskussionsrunde im Studio und das Publikum vor den Bildschirmen – eine ganze Weile noch in dieser seltsamen Medienblase, die einen offenkundig umgibt, wenn man als Medienschaffender in diesen publizistischen Einrichtungen seine Existenz verbringt.
Aber diese seltsame, fast wissenschaftlich und auf jeden Fall politisch sterilisierte (oder boulevardesk durch-kommerzialisierte) Bilderwelt der traditionellen Medien, wird heute tatsächlich aufgebrochen durch die «Social Media». «Es ist wohl der erste ‚Club’, der ausgelöst wird durch einen Tweet», meinte Christof Moser, und ich denke, er hat recht.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieser Social Media wie Facebook, Twitter und der vielen anderen, dass sie zugleich privat und öffentlich sind. Im Unterschied zur «Tagesschau», die von Anfang an als ganz und gar öffentliche Veranstaltung definiert ist. Die Entscheidung, einem engagierten Journalisten wie Christof Moser auf Twitter zu folgen, bedeutet folgerichtig (folge richtig), sich auf einschlägige Bilder und Texte einzulassen, die einen Teil der seiner privaten und öffentlichen Person ausmachen. Und seiner weltweiten Freunde.
Gewiss wird man dabei herausgerissen aus der Schweizer Postkartenwelt. Gewiss erfährt man dabei den Schreck, man könnte selber getroffen sein, irgendwann, irgendwo, von einem dieser nicht mehr kontrollierbaren Geschosse. Man könnte gewahr werden der Brüchigkeit unseres eigenen heilen Schweizer Daseins. Man könnte die Betroffenheit erfahren, die unsere offiziellen Medien so sorgsam zu vermeiden trachten.
Die Relativierung der Katastrophen
Das findet in diesem Netz von Twitter statt, jenseits der politischen Debatte, die wir in den etablierten Medien überall finden. Und die sich auch schon hineinzieht in die online-Produktionen vom «Spiegel» bis zum «Infosperber». Sie fragen alle sofort nach dem Schuldigen (doch, das ist nicht unwichtig) und nehmen auch sogleich Partei (aber fast nie für die betroffenen Menschen). Sie rechnen die Untat der einen mit der Untat der anderen auf und relativieren die Katastrophe der einen, kaum geschehen, mit der Katastrophe der anderen. Beim (mutmasslich russisch zu verantwortenden) Abschuss der malaysischen Maschine erinnern sie unverzüglich an den Abschuss der iranischen Maschine durch die US-Navy (1988 über dem persischen Golf). Ganz selten, wenn überhaupt, erinnern sie an den Abschuss der Korean-Airlines 007 über Sachalin durch russische MIG-23 im August 1983. Oder an den Anschlag (Gaddafis) auf die Pan American-Maschine über Lockerbie. Das würde das bipolare Gleichgewicht des Denkens stören.
Die Herstellung solcher «Zusammenhänge» folgt gegenwärtig fast ausschliesslich der Logik des «Kalten Krieges» in unserem Kopf, während in Wirklichkeit weltweit und in der Ukraine der heisse Krieg stattfindet. Ein Krieg, der sich wie ein Vulkangürtel durch die Welt zieht. Ein teilweise offen kriegerischer Machtkampf um die Stellung der alten und der neuen Mächte in einer neuen multipolaren Weltordnung.
Zeit des Trauerns…
Aber vor allem: Die Herstellung der alten bi-polaren Bezüge lenkt unsere Aufmerksamkeit ab von der Tatsache, dass jede dieser Tragödien zuallererst einmal für sich alleine steht, in ihrem ganz eigenen Zusammenhang. Und dass jede dieser Katastrophen zuerst und vor allen Dingen ein Anlass ist, der Trauer und Erschütterung Raum zu geben, die uns bewegen müssen mit dem Blick auf die Opfer der sinnlosen, verheerenden Gewalt.
Und dann vielleicht, für einen Augenblick, dem Zorn, dem ohnmächtigen, und dann, ganz gewiss, der Empörung. Wenn «Indignez-vous!» mehr sein soll als ein modisches Schlagwort.
Und schliesslich – «engagez-vous!» – der Frage nachzugehen, was zu tun ist, um der Gewalt und dem auf allen Seiten wachsenden nationalistischen Hass Einhalt zu gebieten.
…und des Widerstands
Der «Club» gab auch dazu einen Hinweis. Er führt direkt in eine Zentrale der Schweizer Medienproduktion, zum «SonntagsBlick». Das Blatt zeigte vor knapp zwei Wochen auf dem Titel einen ukrainischen Separatisten, der scheinbar triumphierend einen Teddybär aus dem abgeschossenen Flugzeug in der Hand hielt. Auf «Youtube» kann man nachsehen, dass dieser gleiche Soldat durchaus nicht triumphierte. Er ist umgeben von Fotografen, die ihn zu dieser Geste möglicherweise aufgefordert haben – alle journalistische Erfahrung aus solchen Konflikten spricht leider dafür. Die Kameras knattern wie Feuer aus Maschinenwaffen.
Und danach, nachdem er den Teddy wieder abgelegt hat, zieht der Milizionär den Hut und bekreuzigt sich. Respekt vor dem Tod. Respekt vor den Toten. – Aber die Medien kennen keine Schweigeminute.
Zum wirklichen Thema hat der «Club» dieses Bild nicht gemacht. Er gab vor allem dem «SI»-Chefredaktor Stefan Regez Gelegenheit zu einer klassischen und zugleich politisch parteilichen Rechtfertigungsrede. Kleine, verpasste Chance in einer insgesamt sehr aufmerksamen «Club»-Runde.
Denn der SoBli-Titel war, absichtlich oder unabsichtlich, politische Parteinahme und im Ergebnis schiere Manipulation. Und die Titelzeile: « Was sind das für Menschen?» schürt in dieser Darstellung wahrscheinlich Abscheu, Hass – sie trägt gewiss nicht bei zu Verständigung und Frieden.
Tausendfach verletzte Würde
Dabei wäre die Antwort auf die Frage «Was sind das für Menschen?» vielleicht hilfreich für das Verstehen (nicht das Verständnis!) dieses Kriegs. Warum finden Menschen ihren Lebensunterhalt und ihr Selbstbewusstsein nur darin, dass sie von einem Schlachtfeld zum anderen ziehen: von Tschetschenien nach Transnistrien, dann in die Ukraine. Warum lassen sich junge Leute in Russland anheuern für den Söldnerdienst in der Ostukraine – im Wissen um die Wahrscheinlichkeit, in einem Leichensack zurückzukehren, wenn überhaupt (wie manche Medien berichten)?
Die Würde des Menschen soll nicht angetastet werden, auch nicht mit Bildern. Aber ist die von den «Verantwortlichen» des institutionalisierten Service Public verfügte institutionelle Abriegelung gegen die Bilder dieser Welt nicht vor allem eine Verbeugung vor unseren politischen, kulturellen und kirchlichen Bedenkenträgern und ihren Gremien?
Gewiss ist nur schon die Vorstellung von der entsetzlichen Angst der palästinensischen Frauen, Kinder, Männer unter dem Granatenhagel in der Enge des Gaza-Streifens kaum auszuhalten (und die ständige unterdrückte Angst der Bewohner von Sderot vor den Raketen der Hamas desgleichen, wenn wir es denn ernst meinen wollen). Und gewiss würde das Kontrastprogramm der Bilder, das sich «spiegel online» am Tag der 24-stündigen Waffenruhe geleistet hat, bei uns einen Sturm der Entrüstung auslösen (wann war das nochmal?): Auf der einen Seite die Israeli, die sich in entspannter Verachtung der Hamas-Raketen unter dem Schirm des «Iron Dome» einen Tag am Strand von Tel Aviv geleistet haben Und auf der anderen Seite die verzweifelten Bewohner von Gaza, die ihre ehemaligen Wohnhäuser aufsuchten und die Toten aus den Trümmern gruben, um sie noch vor der Fortsetzung des Krieges zu beerdigen.
Die Wirklichkeit der Bilder
Ein gutes Stück weit hat sich auch dieser «Medienclub» in der Medienblase bewegt. Die Diskussion war immer dann gut, wenn nicht nach Regeln und dem «disziplinierten, regulierenden» Umgang mit Bildern gefragt wurde sondern nach der Funktion der Medien und der Rolle der Journalisten für die Gesellschaft.
Meine Antwort lautet: Es kann nicht immer nur «Schonung» in der heilen Schweizer Postkartenwelt sein. Wir müssen auch die Wirklichkeit der Bilder ertragen. Und ja, wir können das, wie der Fotograf sagte, der sich immer wieder in der Wirklichkeit des Krieges bewegt. «Die Menschen sind stärker als wir glauben in unserer westlichen Welt.»
So war die Diskussion im «Club» gut, wenn die Moderatorin die Zügel schleifen liess und wenn die Journalisten im Feld zum Zuge kamen, wie Dominic Nahr, der für «das Zeigen der Realität» plädierte. Wir müssen uns berühren lassen. Wir dürfen nicht die Augen verschliessen vor der schockierenden Wirklichkeit der Bilder. Nahr sagte das in voller Achtung vor der Würde der Menschen, die heute jeden Tag hundert- und tausendfach verletzt wird.
Es steht zu viel auf dem Spiel.
In diesem Sinne gilt ohne jeden Abstrich, was Christof Moser am Schluss der Sendung gesagt hat: «Wir zeigen zu wenig.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine weiteren. Alle Interessenbindungen sind im Text erwähnt.
Ich habe diese Club-Sendung glücklicherweise nicht gesehen! Was haben die Teilnehmenden bewirkt? Sind sie die repräsentativen Personen, die zur Lösung des Problems beitragen können?
Europa muss sich mit Russland, seinem grossen Nachbarn im Osten arrangieren, je früher desto besser!
Immer und immer wieder bin ich entsetzt, wie wir uns alle immer und immer wieder manipulieren lassen. Um so wertvoller und unersetzlicher sind Artikel wie dieser von Robert Ruoff, welcher Einiges zurecht rückt; engagierte Medienschaffende, die die Achtung der Menschenwürde immer noch hoch halten. Jetzt ist es an uns allen, die Augen nicht mehr zu verschliessen und uns mit diesen schockierenden Bildern auseinanderzusetzen und über diese schrecklichen Ereignisse, die vor unserer Haustür passieren, nachzudenken…